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Der Leuchtturmwärter
Autor: Karin Buchholz · Rubrik:
Kurzgeschichten

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Sammlung "Strandgut" (c):

Titel
Der Leuchtturmwärter

Für die Leute im Dorf war er der komische Kauz, Jean der Leuchtturmwärter, der sein Einsiedlerleben außerhalb der Dorfgrenzen, draußen in dem alten Leuchtturm lebte, dessen Mauern im Laufe der Jahre durchlässig und dessen Balken und Türen morsch geworden waren. Jean, der Leuchtturmwärter mit dem komischen französischen Namen, der für diese Gegend so untypisch war. Hier hießen die Männer Paddy oder Harry, Ian oder Scott, hatten feuerrotes Haar und hatten sich schon früher über ihn lustig gemacht. Damals, als sie hierher zogen. Seine Mutter war Französin, eine zarte, kleine Frau, die nicht für das harte Leben an dieser rauen Küste geschaffen war. Sie hatten ihm seinen Namen gegeben. Sein Vater, Patrick, war waschechter Ire und handfester Leuchtturmwärter, so wie schon sein Vater vor ihm. Ein vierschrötiger, grobschlächtiger Mann, der dem Wind und den Gezeiten zu trotzen wusste. Und dennoch liebte ihn Claire So sehr, dass sie dieses schwere Leben Jahr um Jahr mit ihm teilte. Was hatte sie nur miteinander verbunden, den Leuchtturmwärter und seine zierliche französische Frau, die ihm hierher gefolgt und ihr Leben lang geblieben war?
Auch seine Eltern hatten schon ein zurückgezogenes Leben außerhalb der Dorfgemeinschaft geführt. Nur sonntags zum Kirchgang gingen sie alle drei – Patrick, Claire und der kleine Jean – in die kleine Kapelle des Dorfes. Und Jean sah immer wieder mit Bewunderung und Erstaunen zugleich, mit welcher Inbrunst seine Mutter dem Herrgott für das beschwerliche Leben dankte, das er ihnen geschenkt hatte.
Sie war wohl eine glückliche Frau gewesen, sagte sich Jean und schüttelte wie immer bei diesem Gedanken den Kopf. Während er seine Teetasse ausspülte und kopfüber auf den Spülbeckenrand stellte, blickte er durch das schmale Küchenfenster hinaus. Stürmisch war es heute, das Meer aufgepeitscht vom böigen Wind, Schaumkronen tanzten wild auf den aufgewühlten Wellen.
Er schloß den Kragen seines Troyer-Pullovers, zog seine Regenjacke an, schnürte die Kapuze fest um seinen Kopf und stapfte zur Tür hinaus. Sofort erfasste ihn der Sturmwind und trieb ihn vor sich her, so dass er schneller ging, als er eigentlich wollte. Er erreichte die Tür zum Turm, altes verwittertes, vielfach übertünchtes Holz, durch dessen Spalten inzwischen Wind und Regen ins Innere drangen, so dass sich hinter der Tür eine Pfütze bildete.
Jean betrat den dunklen Turm, dessen schmales Treppenhaus sich zu seiner Rechten nach oben wand. Er schüttelte den Regen von seiner Jacke und begann, die Treppe emporzusteigen. Hundertachtundvierzig Stufen – und wie oft schon war er sie hinaufgestiegen in all den Jahren. Als Kind schon hatte er seinen Vater begleitet, wenn er zum Leuchtfeuer im Turm hinaufgestiegen war, hatte ihm geholfen, die Starklichtlampe und den großen Glaskörper zu reinigen, hatte die Scheiben der Lichtkanzel geputzt und dabei dem Pfeifen und Sausen des Windes gelauscht, der unablässig um den Turm blies.
Wie oft hatte Jean hier oben gestanden und stundenlang aufs Meer hinausgeschaut. Und es war ihm nie langweilig geworden. Hier hatte er seinen Vater alles gefragt, was in seinem Kopf vorging, und Patrick hatte seinem Sohn die Welt erklärt, wie er sie sah. Jean hatte nie eine Schule gesehen, dazu waren sie zu arm gewesen. Und dennoch hatte er von Vater und Mutter alles gelernt, was nötig war.
Nur die Liebe hatte ihm nie jemand erklärt. Nur einmal hatte er sich verliebt, Jean der Einsiedler. So sehr verliebt, dass es wehtat in der Brust und im ganzen Körper. Elsa war die Tochter eines Fischers aus dem Dorf. Er traf sie, als er – wie so oft – zwischen den Klippen vor dem Leuchtturm umherstieg. Sie war so schön, so unendlich schön, dass Jeans Brust sich ganz fest zusammenpresste und sein Herz laut zu pochen begann.
Sie saß mit einem Buch oben auf der höchsten Klippe im Gras und bemerkte ihn nicht. Oft kam sie hierher, und Jean beobachtete sie ungesehen. Eines Tages aber entdeckte sie ihn, wie er dort zwischen den Felsen hockte und sie ansah, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Für einen Moment erschrak Jean so sehr, dass alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Unfähig, sich zu rühren, stand er mit pochendem Herzen da und erwartete, dass sie weglaufen oder ihn hänseln würde. Und er wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre. Doch stattdessen lächelte sie und rief gegen den Wind, der ihr Haar wild um den Kopf tanzen ließ: „Hallo Jean!“ Er war unfähig zu reagieren und starrte sie stattdessen nur weiter an. Sie lächelte noch einmal und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu. Jean löste sich aus seiner Erstarrung und machte sich schleunigst davon.

Noch heute verschlug es ihm den Atem, wenn er an diese Begegnung dachte. Sie war so wunderschön. Alles zog ihn zu ihr hin. Sie hatte ihn nicht verspottet, wie es die anderen Kinder aus dem Dorf taten, wenn sie ihm begegneten. Deshalb hielt er sich von ihnen fern. Aber mit Elsa war es anders, das spürte er vom ersten Moment.
Elsa kam auch weiterhin zur Klippe und Jean beobachtete sie auch weiterhin. Nie kam es zu einem Gespräch zwischen ihnen – dafür war Jean viel zu schüchtern. Nur ein paar Mal setzte er sich in einiger Entfernung neben sie und sie schwiegen einträchtig. Doch Elsa lächelte immer, wenn er in ihrer Nähe war. Das war ein gutes Zeichen. Und Jean liebte sie. Er liebte sie mit jedem Mal mehr, mit aller Inbrunst seines jungen Herzens, so intensiv, so ganz und gar, dass sein ganzer Körper schmerzte beim Gedanken an sie.

Doch dann kam ein sonniger Julitag, Jean war wieder auf dem Weg zur Klippe, als er Stimmen hörte, die der Wind zu ihm herübertrug. Da stand Elsa, und Jeans Herz begann schneller zu schlagen. Doch sie war diesmal nicht allein… Ein Junge, den Jean noch nie zuvor gesehen hatte, war bei ihr, und sie lachten und Elsa tänzelte ein paar Schritte vor ihm her, während ihr Kleid und ihre Haare vom Wind umhergewirbelt wurden. Der Junge rief etwas, und Elsa lachte, sie lachte das wunderbarste, glockenhellste Lachen, das Jean je gehört hatte. Und auch der Junge lachte, lief zu Elsa und fasste ihre Hand. Sie liefen Hand in Hand den Abhang zum Dorf hinunter und Jean war es, als risse ihm jemand das Herz bei lebendigem Leibe aus der Brust. Voller Schmerz krümmte er sich zwischen die Felsen und blieb dort zusammengekauert viele Stunden. Doch der Schmerz wollte nicht aufhören.
Elsa gehörte zu ihm. Jean wusste das. Mit jeder Faser seines Herzens wusste er, dass sie füreinander bestimmt waren. Und er haßte diesen fremden Jungen, haßte ihn, weil er Elsa zum Lachen brachte, weil er sie so schön machte, wenn sie mit ihm lachte, noch schöner… Jeans Innerstes bäumte sich gegen die Ungerechtigkeit und Boshaftigkeit des Schicksals auf. Er konnte – wollte nicht akzeptieren, dass es in Elsas Leben jemand anderen gab. Und der Schmerz durchschnitt nicht nur sein Herz und seinen Körper. Auch seinen Verstand teilte es entzwei – zwei Hälften, die sich zeitlebens nicht mehr zusammenfügen sollten.

Jean erreichte die Lichtkanzel und blieb eine Weile stehen, um seinen Atem zu beruhigen. Heute, mit Ende Fünfzig, pochte sein Herz immer heftig nach dem Aufstieg. Langsam begann er die Scheiben mit dem alten Tuch zu putzen, das er aus seiner Jackentasche gezogen hatte. Er sah aufs Meer hinaus, auf die unermüdliche Brandung, die nicht aufhörte, sich krachend auf die Felsen zu werfen, tagein, tagaus, unabänderlich und mit stetiger Gewissheit.
Er hielt in seiner Bewegung inne und blickte auf die Felsen. Und wieder sah er, wie sie sich rot färbten, blutrot wie damals. Getränkt vom Blut eines Jungen, der aus der Lichtkanzel hinuntergestürzt war. Blutrot, wie Elsas Kleid, als sie sich über den leblosen Körper beugte.
Elsa war fortgegangen.
Geblieben ist Jeans Liebe.
Und seine Schuld.




© COPYRIGHT by Karin Buchholz


Einstell-Datum: 2007-06-18

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Dieser Text wurde noch von niemandem bewertet.

 

Kommentare


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Kommentar # 1: Leuchtturmwärter
Autor: tanamur, 24.09.2009 um 14:12 Uhr


Die Beobachtung der Details, die sprachliche Akuratesse und die daraus entstehende naturalistische Atmosphäre sind sehr gekoonnt erzeugt und stehen in besonderem Gegensatz zu dem Plot, der folgt, sich aber ebenso profan in den Errzählfluss einschleicht. Sehr gelungen, da schwingt ein Groove mit, der über die Beherrschung der Technik hinausgeht!


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