Diese Kurzgeschichte ist Teil der Sammlung "Strandgut" (c):
Liebesbrief
Mein Liebes, ich möchte Dir so vieles schreiben, so vieles erzählen von dem, was hier um mich herum geschieht... Ich bin fortge¬fahren, um ein wenig mit mir allein zu sein, mich zu sammeln, meine Mitte wieder zu fin¬den. Ein schlechtes Gewissen habe ich, weil ich Dich über den Grund meiner Reise im Un¬klaren gelassen, nein schlimmer noch: Dich belogen habe. Ich sagte Dir, ich hätte etwas zu erledigen und erklärte Dir nicht, dass es sich diesmal nicht um irgendeinen geschäftlichen Termin handelte. Aber Du fragtest auch nicht. Viel zu sehr bist Du meine Abwesenheit inzwi¬schen gewohnt. Viel zu oft bin ich fort, fort von Dir und unserem gemeinsamen Leben, das Du in der Zwischenzeit alleine weiterlebst. Irgendwann stoße ich dann wieder dazu, fühle mich zunächst ein wenig fremd, und gerade dann, wenn ich beginne, mich in unserer Haut wieder wohlzufühlen, muß ich wieder fort. Du hast Dich daran gewöhnt – ich nie. Auch wenn es für Dich den Anschein haben muß, als wollte ich das Leben führen, das ich führe. Die Wahrheit ist, ich habe keine andere Wahl. Mein Job ödet mich schon lange an, die immer gleichen Gespräche mit den immer gleichen Menschen über immer gleiche Themen – alles scheint mir, als hätte ich es schon tausende Male gehört oder gesagt. Es gibt nichts Neues in meinem Beruf. Ich spule ihn ab, reine Routine. Ohne Herausforderung, ohne das Glücks¬gefühl, das ich früher bei guten Abschlüssen gespürt habe, die Lebendigkeit, die nur der Erfolg verleiht. Alles ist monoton und wieder¬holt sich in einer unerträglichen Endlos¬schleife.
Nicht, dass mir das je wirklich bewusst ge¬worden wäre. Nein, bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, daß es gar keine andere Alter¬native für mich gab, habe nie über etwas ande¬res nachgedacht. Warum auch? Alles in unserem Leben – auch unsere Beziehung – ist durchgeplant, durchorganisiert, reglementiert und festzementiert.
Erst als mein bester Freund vergangenen Monat starb, hallten seine letzten Worte, die er zu mir sagte, in ungewohnter Lautstärke in mir nach: „Lebe, hörst Du? Verschiebe nichts! Nichts ist es wert, auf morgen vertagt zu wer¬den. Wenn Du etwas ändern willst, dann tu es heute – damit Du es noch erlebst!“
Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum er ausgerechnet mir das mit so eindringlicher Stimme sagte. Ich fühlte mich nicht ange¬sprochen. Bei mir war doch alles in Ordnung...
Zwei Tage später war Michael tot. Und seine Worte hörten nicht mehr auf, in meinem Kopf zu kreisen. Und als ich sie nicht zum Still¬stand bringen konnte, tat ich, was ich immer tue: Ich bin fortgelaufen, wie schon so oft in meinem Leben. Ich habe Dich angelogen und bin davongebraust in der Hoffnung, die mah¬nenden Worte meines Freundes damit hinter mir lassen zu können. Aber es hat nicht funk¬tioniert.
Ich verbringe hier jeden Tag am Meer und lasse meine Gedanken fließen. Schon am ersten Tag meines Aufenthaltes konnte ich Michaels Worte nicht länger ignorieren. „Wenn Du etwas ändern willst, dann tu es heute...“ Inzwischen habe ich mir alle Gedan¬ken erlaubt, die ich sonst in die hinterste Ecke meines Kopfes verbannen und aus Bequem¬lichkeit – oder Angst - unter dem Alltag ver¬schütten würde. Ich erlaube mir heute, mich zu fragen, was ich den ändern würde in meinem – in unserem Leben. Es gibt so viel Festge¬fahrenes, dass ich zunächst den radika¬len Im¬puls verspürte, alles, buchstäblich alles zu ändern. Einfach alles hinzuwerfen und noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Der Reiz dieses gedanklichen Abenteuers beschäf¬tigte mich einige Zeit, aber dann wurde mir be¬wusst, was ich von meinem bisherigen Leben dabei vermissen würde. Und ich begann, etwas genauer hinzuschauen.
Und da liegt schon der buchstäbliche Hin¬weis für alle Erkenntnis: hinschauen. Man muß genau hinschauen auf alles, was einem im Leben begegnet. Es nicht wahllos konsumie¬ren, erledigen, hinter sich bringen, nur um schon dem nächsten Ziel nachzujagen, das spä¬testens bei seinem Erreichen wiederum zur Vergangenheit verkommt. Genau hinschauen. Das war es, was ich schon so lange nicht mehr getan hatte. Ich habe nicht mehr gesehen, wie gut es uns geht – finanziell, gesundheitlich. Wir haben es uns nett eingerichtet in unserem Leben – wir haben nur keine gemeinsame Zeit mehr darin verbracht.
Und vor allem anderen: Du würdest mir fehlen, wenn ich heute alles hinwerfen würde. Du, Dein Lachen, Deine Geduld, Dein Ver¬ständnis für die Belange anderer, Dein un¬beugsamer Wille und Deine Hilfsbereitschaft.
Ich gebe zu, das hört sich an wie eine Gru߬botschaft zu einem Jubiläum, aber es ist wirk¬lich so: ich liebe all das an Dir, und ich möchte es nicht mehr missen. Ich kann mir ein Leben ohne all das nicht mehr vorstellen, und das ist die eigentliche Erkenntnis dieser letzten, stil¬len Tage am Meer.
Wie gern würde ich Dir all das schreiben, würde Dir gern das Rauschen der Wellen, die sanfte Brise und den Geruch von Salz und See¬tang dazulegen, die inzwischen so untrenn¬bar mit meinen endlosen Gedankenreisen ver¬bunden sind. Ich würde ein kleines blaues Holzkästchen kaufen, drüben im Geschenk¬artikellädchen im Dorf, dort wo die Touristen ihre Souvenirs kaufen. Hierher, auf die andere Seite des Dorfes, verirren sie sich nicht. Hier gibt es nur Steine und Seetang am Ufer, nur ein paar unscheinbare, steile Trampelpfade führen hinunter ans Meer. Kein Sandstrand lädt zum Sonnenbaden ein, aber hier ist es still, unglaublich still und wunder¬schön. Die Möwen segeln über meinem Kopf; auch ihr Geschrei würde ich in Dein Kästchen legen, dazu den Seestern, den ich heute morgen fand und die Muschel mit dem kreisrunden Loch, durch das ich ein kleines Lederband fädeln würde, so dass Du es um den Hals tragen könn¬test. Etwas Sand, zwei Halme Strandhafer, eine Distel und ein Stück Treib¬holz... Und doch könnte all das Dir nichts da¬von erzählen, was mit mir in diesen Tagen geschehen ist.
Ich bin auf diese Reise gegangen als Flücht¬ling. Ich wurde zum Suchenden und am Ende habe ich etwas gefunden, das immer da war: mich selbst. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich würde mich Dir gern vorstellen, wenn ich wieder zuhause bin.
Ich klebe den Umschlag zu – in ihm liegt nur der Seestern. Für manches finde ich auch heute noch keine Worte.
© COPYRIGHT by Karin Buchholz
Liebesbrief
Mein Liebes, ich möchte Dir so vieles schreiben, so vieles erzählen von dem, was hier um mich herum geschieht... Ich bin fortge¬fahren, um ein wenig mit mir allein zu sein, mich zu sammeln, meine Mitte wieder zu fin¬den. Ein schlechtes Gewissen habe ich, weil ich Dich über den Grund meiner Reise im Un¬klaren gelassen, nein schlimmer noch: Dich belogen habe. Ich sagte Dir, ich hätte etwas zu erledigen und erklärte Dir nicht, dass es sich diesmal nicht um irgendeinen geschäftlichen Termin handelte. Aber Du fragtest auch nicht. Viel zu sehr bist Du meine Abwesenheit inzwi¬schen gewohnt. Viel zu oft bin ich fort, fort von Dir und unserem gemeinsamen Leben, das Du in der Zwischenzeit alleine weiterlebst. Irgendwann stoße ich dann wieder dazu, fühle mich zunächst ein wenig fremd, und gerade dann, wenn ich beginne, mich in unserer Haut wieder wohlzufühlen, muß ich wieder fort. Du hast Dich daran gewöhnt – ich nie. Auch wenn es für Dich den Anschein haben muß, als wollte ich das Leben führen, das ich führe. Die Wahrheit ist, ich habe keine andere Wahl. Mein Job ödet mich schon lange an, die immer gleichen Gespräche mit den immer gleichen Menschen über immer gleiche Themen – alles scheint mir, als hätte ich es schon tausende Male gehört oder gesagt. Es gibt nichts Neues in meinem Beruf. Ich spule ihn ab, reine Routine. Ohne Herausforderung, ohne das Glücks¬gefühl, das ich früher bei guten Abschlüssen gespürt habe, die Lebendigkeit, die nur der Erfolg verleiht. Alles ist monoton und wieder¬holt sich in einer unerträglichen Endlos¬schleife.
Nicht, dass mir das je wirklich bewusst ge¬worden wäre. Nein, bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, daß es gar keine andere Alter¬native für mich gab, habe nie über etwas ande¬res nachgedacht. Warum auch? Alles in unserem Leben – auch unsere Beziehung – ist durchgeplant, durchorganisiert, reglementiert und festzementiert.
Erst als mein bester Freund vergangenen Monat starb, hallten seine letzten Worte, die er zu mir sagte, in ungewohnter Lautstärke in mir nach: „Lebe, hörst Du? Verschiebe nichts! Nichts ist es wert, auf morgen vertagt zu wer¬den. Wenn Du etwas ändern willst, dann tu es heute – damit Du es noch erlebst!“
Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum er ausgerechnet mir das mit so eindringlicher Stimme sagte. Ich fühlte mich nicht ange¬sprochen. Bei mir war doch alles in Ordnung...
Zwei Tage später war Michael tot. Und seine Worte hörten nicht mehr auf, in meinem Kopf zu kreisen. Und als ich sie nicht zum Still¬stand bringen konnte, tat ich, was ich immer tue: Ich bin fortgelaufen, wie schon so oft in meinem Leben. Ich habe Dich angelogen und bin davongebraust in der Hoffnung, die mah¬nenden Worte meines Freundes damit hinter mir lassen zu können. Aber es hat nicht funk¬tioniert.
Ich verbringe hier jeden Tag am Meer und lasse meine Gedanken fließen. Schon am ersten Tag meines Aufenthaltes konnte ich Michaels Worte nicht länger ignorieren. „Wenn Du etwas ändern willst, dann tu es heute...“ Inzwischen habe ich mir alle Gedan¬ken erlaubt, die ich sonst in die hinterste Ecke meines Kopfes verbannen und aus Bequem¬lichkeit – oder Angst - unter dem Alltag ver¬schütten würde. Ich erlaube mir heute, mich zu fragen, was ich den ändern würde in meinem – in unserem Leben. Es gibt so viel Festge¬fahrenes, dass ich zunächst den radika¬len Im¬puls verspürte, alles, buchstäblich alles zu ändern. Einfach alles hinzuwerfen und noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Der Reiz dieses gedanklichen Abenteuers beschäf¬tigte mich einige Zeit, aber dann wurde mir be¬wusst, was ich von meinem bisherigen Leben dabei vermissen würde. Und ich begann, etwas genauer hinzuschauen.
Und da liegt schon der buchstäbliche Hin¬weis für alle Erkenntnis: hinschauen. Man muß genau hinschauen auf alles, was einem im Leben begegnet. Es nicht wahllos konsumie¬ren, erledigen, hinter sich bringen, nur um schon dem nächsten Ziel nachzujagen, das spä¬testens bei seinem Erreichen wiederum zur Vergangenheit verkommt. Genau hinschauen. Das war es, was ich schon so lange nicht mehr getan hatte. Ich habe nicht mehr gesehen, wie gut es uns geht – finanziell, gesundheitlich. Wir haben es uns nett eingerichtet in unserem Leben – wir haben nur keine gemeinsame Zeit mehr darin verbracht.
Und vor allem anderen: Du würdest mir fehlen, wenn ich heute alles hinwerfen würde. Du, Dein Lachen, Deine Geduld, Dein Ver¬ständnis für die Belange anderer, Dein un¬beugsamer Wille und Deine Hilfsbereitschaft.
Ich gebe zu, das hört sich an wie eine Gru߬botschaft zu einem Jubiläum, aber es ist wirk¬lich so: ich liebe all das an Dir, und ich möchte es nicht mehr missen. Ich kann mir ein Leben ohne all das nicht mehr vorstellen, und das ist die eigentliche Erkenntnis dieser letzten, stil¬len Tage am Meer.
Wie gern würde ich Dir all das schreiben, würde Dir gern das Rauschen der Wellen, die sanfte Brise und den Geruch von Salz und See¬tang dazulegen, die inzwischen so untrenn¬bar mit meinen endlosen Gedankenreisen ver¬bunden sind. Ich würde ein kleines blaues Holzkästchen kaufen, drüben im Geschenk¬artikellädchen im Dorf, dort wo die Touristen ihre Souvenirs kaufen. Hierher, auf die andere Seite des Dorfes, verirren sie sich nicht. Hier gibt es nur Steine und Seetang am Ufer, nur ein paar unscheinbare, steile Trampelpfade führen hinunter ans Meer. Kein Sandstrand lädt zum Sonnenbaden ein, aber hier ist es still, unglaublich still und wunder¬schön. Die Möwen segeln über meinem Kopf; auch ihr Geschrei würde ich in Dein Kästchen legen, dazu den Seestern, den ich heute morgen fand und die Muschel mit dem kreisrunden Loch, durch das ich ein kleines Lederband fädeln würde, so dass Du es um den Hals tragen könn¬test. Etwas Sand, zwei Halme Strandhafer, eine Distel und ein Stück Treib¬holz... Und doch könnte all das Dir nichts da¬von erzählen, was mit mir in diesen Tagen geschehen ist.
Ich bin auf diese Reise gegangen als Flücht¬ling. Ich wurde zum Suchenden und am Ende habe ich etwas gefunden, das immer da war: mich selbst. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich würde mich Dir gern vorstellen, wenn ich wieder zuhause bin.
Ich klebe den Umschlag zu – in ihm liegt nur der Seestern. Für manches finde ich auch heute noch keine Worte.
© COPYRIGHT by Karin Buchholz