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Abstieg vom Berg
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

Er war einer von den Seilbahntouristen, die von oben auf den See schauen und vor Entzücken fünf Sekunden die Luft anhalten - da unten ein blauer Fjord zwischen schwarz-grünen, steilen Kanten. Dann wenden sie sich zur anderen Seite, erblicken die entfernteren Gipfel des Hochgebirges und atmen aus - majestätisch! Noch einmal der See als Ganzes, die Grenzberge im Süden, die Berge im Norden ... Und nun?

Er war erst gestern angekommen und gleich heute Morgen heraufgefahren. Der See lag 500 Meter über dem Meeresspiegel, der Gipfel 1900 Meter hoch. Die Hochalm war mit Gastronomie und Hotellerie gut bestückt. Im Takt spuckten die Vierergondeln ihre menschliche Fracht aus. Die Wege kreuz und quer über die besonnten Wiesen belebten sich zusehends. Der Fremde sah von Nordwesten lang gezogene Wolkenbänke heransegeln. Wie lange wird sich das Wetter noch halten?

Man fährt nicht schon um halb elf wieder hinunter. Wenn er zu Fuß den direkten Weg zum See nimmt, ist er um zwei Uhr nachmittags dort - viel zu früh. Also noch länger hier oben bleiben? Nein, auf dem Gipfel ist es ihm zu betriebsam. Er wählte den Höhenweg nach Nordosten, nachdem er die Karte studiert hatte. Die gerade durchgezogene rote Linie auf ihr versprach leichtes Fortkommen. Es geht immer geradeaus, nur durch dichte Wälder. Es wird dort ruhiger sein, vielleicht einsam. Am Spätnachmittag sollte er nach langem Abstieg an einem der Bahnhöfe der Seitenbahn ankommen.

Er verlor rasch an Höhe und verschwand im Fichtenwald. Mit den Wiesen ließ er die anderen Seilbahntouristen zurück. Aufatmend ging er schneller und kam auf dem nun eben verlaufenden Forstweg gut voran. Es war wirklich einsam hier, nicht einer mehr begegnete ihm. Der Himmel bezog sich erst unmerklich, dann war es nur noch grau über ihm. Hier am Boden war es jetzt viel kühler geworden. Er ging noch schneller. Der Weg verlief nicht immer so gerade, wie es die Karte darstellte. Es war eine Frage des Maßstabs. Welche Maßstäbe soll man für sich wählen, dachte er, eine im Leben manchmal entscheidende Frage.

Die Abzweigungen häuften sich, die Farbmarkierungen verloren sich. Er glaubte, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Aus dem Forstweg war längst ein schmaler Pfad geworden. Bei jeder neuen Gabelung wurde er unsicherer. Er musste sich auf seinen Instinkt verlassen. Der Wald hörte nicht auf. Am meisten beunruhigte ihn, dass er durchaus nicht an Höhe verlieren wollte.

Dann ging es doch hinab. Er gewann wieder Zuversicht - und stand binnen kurzem am oberen Rand einer steilen Felswand. Umkehren, den richtigen Weg suchen - oder irgendeinen Weg, wenn er nur hinunterführt. Der Alptraum begann erst jetzt. Er probierte immer neue Wege, neue Richtungen. Keine führte zurück in die Zivilisation. Die meisten Pfade endeten im Nichts. Es war schon mitten am Nachmittag. Nur einem Piefke kann so etwas passieren ... Leise Panik machte sich breit. Diese Zwangsvorstellung, niemals mehr ins Tal zu kommen – eigentlich hasst er das Gebirge.

Einmal stürzte er, verletzte sich zum Glück nicht. Nur die blaue Jeans war über und über mit gelbem Schlamm bedeckt. Er hastete weiter und ging vermutlich im Kreis. Nach weiteren zwei Stunden lichtete sich der Wald seitlich in der Tiefe. Er verließ den Pfad und drang zwischen den Fichten ins Helle vor. Wie schön, die Wiesen eines Bauernhofs, so sanft, und dahinter das Talbecken, endlich. Er kletterte über den Stacheldrahtzaun und entdeckte erst dann die Bullen auf der Weide. Sie hatten ihn noch nicht gesehen. Er schlich sich von der Wiese und zerriss sich beim erneuten Zaunübersteigen weiter unten einen Ärmel seiner Jacke. Immerhin stand er nun auf einem asphaltierten Feldweg. Die Dörfer an der Bahn mussten nach seiner Vermutung rechts liegen. Ein Bauernhof war noch zu passieren. Mit weichen Knien ging er so leise wie möglich daran vorbei – nicht dass er die Hunde weckte.

Das Dorf sah wie andere in Kärnten aus. Eine Ortstafel suchte er vergeblich. Wo zum Teufel war er herausgekommen? Hat dieses Nest überhaupt einen Bahnhof? Er ging durch Neubauviertel mit kleinen Häusern, wie sie überall in der westlichen Welt stehen. Diese Ruhe auf den Straßen, kein Mensch in den Gärten zu sehen - es war zu ruhig. Sollte inzwischen hier unten etwas Unausdenkbares geschehen sein?

Dann entdeckte er doch zwei Einheimische. Sie und er saßen auf der Terrasse. Das Haus war erst seit kurzem bezogen, der Garten noch nicht angelegt. Sie jausten und wirkten sehr gelassen. Die beiden redeten nicht miteinander. Die Dame des Hauses blätterte in einer Illustrierten.

Und er, der Fremde, außer Puste, schmutzüberkrustet, ziemlich derangiert, ruft ihnen zu: "Verzeihung, wenn ich Sie störe, ich bin fremd hier, ich habe mich in den Bergen da oben verirrt ... Würden Sie mir bitte den Namen Ihres Dorfes sagen? Nur den Namen, ich weiß nämlich nicht, wo ich heruntergekommen bin. Wenn Sie mir den Dorfnamen sagen, finde ich ihn dann schon auf meiner Karte ..." Mein Gott, er ist doch nicht vom Mond gefallen, sie zeigen ihr Befremden allzu deutlich.

Eine Viertelstunde darauf war er am Bahnhof, gerade recht zur Abfahrt des nächsten Zuges. Eigentlich unglaublich, wie reibungslos die Welt hier unten noch immer funktioniert.


Einstell-Datum: 2021-02-22

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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