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Der Prinz und der Praktikant
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

1

Bastian lachte mich zur Begrüßung erst mal aus: „Dass es dich hierher verschlagen hat, na so was … Und dass gerade wir zwei uns in der Anlage Ferienglück treffen müssen - Kismet, würd ich mal sagen. Also, dann willkommen und viel Glück, wenn’s auch keine Ferien sind. Ich werd dich schon einweisen …“ Er grinste breit und schien sich über meine Ankunft tatsächlich zu freuen. Ich kannte ihn mehr oder weniger flüchtig aus den Kneipen, nur vom Reden und Rumalbern. Wir würden nie was miteinander haben, das hatte von Anfang an festgestanden. Er war kaum älter als ich und hier schon Geschäftsführer und ich war der neue Praktikant.

Bald verstand ich, dass ich für ihn jetzt doch die große Abwechslung in einer monotonen Einöde sein musste. Ich war den Weg vom Bahnhof zu Fuß über die Landstraße gegangen, nur das Nötigste für eine Woche dabei. Falls ich überhaupt bleiben sollte, würde ich am ersten freien Tag mehr von meinen Sachen aus Berlin nachholen. Man weiß doch vorher nie, wie es vor Ort abläuft. Der Anblick von „Ferienglück“ war von unten wirklich imposant: die vielen übereinander gestaffelten kleinen Holzhäuser, dunkelbraun, auch horizontal dicht beieinander. Es kam mir fast wie ein altes Bergdorf im Himalaja vor, so wie es für Bildkalender gern aufgenommen wird. Doch als ich den steilen Hang hinaufging, auf der schmalen Zufahrt mit der uralten, rissigen Teerdecke, sah ich, wie heruntergekommen die Anlage insgesamt war: die meisten Terrassen von Unkraut und Gebüsch überwuchert, hier und da im Gelände einzelne Baumruinen, Birken oder Kiefern, großflächig abblätternd der dunkelgrüne Lack an Fensterrahmen und Türen. Bastian sagte, die Bungalowkolonie sei vor gut dreißig Jahren als Betriebsferienheim für sächsische Werkzeugmacher gebaut worden. „ … und nach der Wende nie grundsaniert, bloß notdürftig in Schuss gehalten und billig vermietet.“

Von den drei Dutzend Bungalows waren noch zehn vermietbar und nur drei davon gegenwärtig belegt: langfristig von zwei Monteuren und einem Handelsvertreter. Bei Bedarf kam eine Frau aus dem Dorf zum Reinemachen. Bastian hatte wenig zu tun, weder an der Rezeption noch mit der Aufsicht über die Anlage. Wozu brauchten sie dann einen Praktikanten, auch wenn er fast umsonst arbeiten würde? „Du übernimmst einfach meinen Job“, sagte Bastian. Es war so: Anfang des Jahres hatte der Eigentümer gewechselt, der neue Investor aus Westfalen, Brömmelmeier mit Namen, würde nach der Saison die Häuser modernisieren, die Außenanlagen wieder herrichten lassen, und Bastian hatte, wie er sagte, schon genug mit den Vorarbeiten dafür zu tun. „Außerdem stehen die Sommerferien vor der Tür. Da kommen immer spontan Familien. Es gibt viele Seen in der Umgebung …“

Ich erfuhr, dass ausnahmsweise sogar Prominente, Künstler in diesem Billigparadies unterkämen. „Adlershof schickt uns manchmal Leute, die bei einem Film mitwirken. Nächste Woche kommt wieder einer für acht Wochen, ein Schauspieler diesmal, ganz was Exotisches …“ - „Kenn ich den Namen?“ – „Ich glaube, Han-Sen oder so ähnlich.“ – „Klingt irgendwie berühmt, nicht?“ – „Ach, nein, er spielt nur eine Nebenrolle. In einer Serie besetzen sie eine Hauptnebenrolle mit ihm, er ist dann irgend so ein Prinz aus dem Morgenland.“ – „Aber ist Han-Sen nicht chinesisch?“ – „Ja, kann sein. Aber er kommt aus Thailand. Oder war es Vietnam?“ – „Vielleicht Singapur oder Malaysia?“ – „Frag ihn selbst. Er soll hübsch sein, hat man mir gesagt.“


2

Der Filmprinz hatte einen thailändischen Pass und trug sich mit Dong Hansen ein. Ich sprach ihn mit „Welcome, Mr. Han-Sen“ an, und er korrigierte mich auf Deutsch: „Hansen, wie mein Vater, aus Hannover. Er war auch in der Hotelbranche.“ Als er sah, wie verdutzt ich war, fügte er hinzu: „Nur der Vorname ist asiatisch. Meine Mutter ist Chinesin, aber aus Thailand.“ – „Also Deutsch als Muttersprache vom Vater, sozusagen – Sie sprechen es gut.“ – „Hildesheim, von Hildesheim, da war ich lange, bei meiner Tante.“

Er war tatsächlich gutaussehend, doch auf eine Art, die mich nicht anzieht, sondern nur langweilt. So sieht vielleicht ein amerikanisierter Ostasiate aus, wenn er Broker an der Wallstreet ist, stelle ich mir vor. Aber ein Schauspieler, der auf zwei Kontinenten zu Hause ist? Alles an ihm war brav und unauffällig, die Kleidung, die Manieren, die Mimik, sogar der Schnitt seines Gesichtes – es war noch etwas durchaus Asiatisches darin enthalten, aber es war, wohl vom deutschen Vater her, zugleich so dezent geworden, dass das Fremde sich halb unsichtbar gemacht zu haben schien: ein biederer Bewohner der norddeutschen Tiefebene mit Andeutung von Mongolenfalte. Er trug unter einem weißen Jackett ein schwarzes Hemd, darin wirkte er wie der jüngste Angestellte eines Beerdigungsunternehmens auf dem jährlichen Betriebsausflug. Befangen schweigend ließ er sich von mir zu seinem Bungalow führen. Während ich ihm die Räume zeigte und die Funktion von Dusche und Jalousien erklärte, wandelte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig ins Prinzlich-Hochmütige. Ich fing schon an, seine guten Manieren zu hassen.

„Lass dich nicht gehen“, sagte Bastian zwei Stunden später, „er Gast, du Rezeptionist.“ Bastian war geschäftlich unterwegs gewesen, ich beklagte mich jetzt bei ihm über die Erscheinung des Prinzen. Meinem Chef fiel noch etwas ein: „Einmal hat er doch eine Hauptrolle gehabt, die Rolle seines Lebens wahrscheinlich. Hast du mal ‚Der hundertste Längengrad?’ gesehen?“ – Und ob ich den Film kannte! Er war einer der seltenen Streifen, die mir nach einmaligem Anschauen nach Jahren noch mit vielen Details präsent sind. Dieser junge Herr Hansen aus Hannover, Hildesheim und meinetwegen auch noch aus Bangkok, er hatte den jungen Thai gespielt, der im Kampf mit der Mafia untergeht? Schwer zu glauben. Ich konnte es jetzt nicht in Ruhe überprüfen … Ich überlegte, wann ich den Film im Kino gesehen hatte: vor etwas mehr als zwei Jahren, und zwar als Originalfassung mit deutschen Untertiteln.

In meinem Bungalow kam ich mit dem Smartphone nur schwer ins Internet. Bastian hatte mir eines der Häuschen zugewiesen, die nicht mehr vermittelt wurden. Die billigen Möbel aus der ersten Nachwendezeit waren abgenutzt, reif für den Sperrmüll. Das verstand sich hier alles von selbst, die durchgelegenen Matratzen, die fleckigen Polster, die abgestoßenen Ecken der Möbel, die ihr Zellulose-Innenleben vorzeigten. Einige Jalousien ließen sich nicht mehr hochziehen, andere klemmten, wenn ich sie herunterlassen wollte. Ich war dort nur zum Schlafen, ich aß in dem kleinen Büro im Hauptgebäude oder ich ging für warmes Essen ins Dorfgasthaus. Abends surfte ich meistens von der Rezeption aus im Netz, so auch an diesem ersten Tag.

Zuerst sah ich mir den Trailer zum Film an. Dann überprüfte ich Hansens Angaben – alles stimmte, der Vater aus Hannover, die chinesische Mutter, die Hildesheimer Tante. Er war Dong Hansen, schon lange nur noch in Bangkok zu Hause, und Dong – ich fing jetzt an, ihn bei mir mit Vornamen zu nennen – war Arun gewesen. Ich ließ den Trailer noch mal ablaufen, ich fand einzelne ins Netz gestellte herausragende Szenen. Der Film war wieder als Ganzes in meinem Kopf.

Wie die anderen Thai-Filme, die ich kannte, war auch dieser extrem gewesen: wieder einmal Blut, Schweiß und Tränen, also sehr viel Gewalt und noch mehr Gefühl. Dong hatte das Kunststück fertiggebracht, seine Rolle sowohl stark zu idealisieren wie auch zugleich eine Figur zu präsentieren, die vollkommen natürlich erschien. Er gab sie warmherzig, ohne dabei zu übertreiben. Häufig zeigte er mit einem Lächeln sein Empfinden für komische Situationen an. Das wirkte sehr sympathisch. Es war auch erotisch, aber nur nebenbei, es war vor allem allgemeinmenschlich einnehmend. Dasselbe galt für sein zweites mimisches Hauptmittel. In problematischen Situationen verriet sein Gesicht in verschiedenen Abstufungen Unsicherheit, Besorgnis, Frustration, und zwar so, dass man wiederum stark mit ihm fühlte. Arun war eine Art irdischer Bodhisattva. Er war sanft, mitfühlend, verantwortungsbewusst, redlich und weise. Er wirkte auch physisch viel asiatischer als unser Herr Hansen, vielleicht das Ergebnis von Postproduktion, seine Haut dunkler, stark ins Olivbraune spielend.

Bastian ließ sich am Tresen blicken, das tat er auch in der Folgezeit abends manchmal, wenn ich dort saß. Ich klickte die Filmszene rasch weg. Bastian fragte nie, was ich mir ansehe. Er sagte: „Der Prinz ist zurück. Das Taxi hat ihn gerade aus Berlin gebracht.“ – „Wird er auch morgens abgeholt?“ – „Ja. Sie haben wohl einen Vertrag.“ Unser Gespräch kam nicht in Gang. Ich schob vor, bald schlafen gehen zu wollen und verzog mich.


3

Spätabends stand ich einige Tage später hinter meinem Wohnzimmerfenster und ließ den Blick wieder über „Ferienglück“ schweifen. Ich hatte bei mir im Zimmer noch kein Licht gemacht und meine Augen gewöhnten sich rasch an den geringen Grad von Helligkeit draußen. Rundherum, neben und unter meinem Quartier, standen alle Bungalows dunkel und leer unter einem halb verhangenen Nachthimmel. Verstörend wirkte der Umstand, dass die Häuschen einander so eng benachbart waren. Die verwahrloste Terrasse vor mir, die ich nie benutzte, hatte das Teerpappendach eines der unteren Bungalows direkt vor sich. Schweigen und Verfall waren umfassend und bezogen meine Innenräume mit ein. Ich war ein isoliertes Individuum in einer entvölkerten Stadt, die ebenso tot wie dicht gebaut war.

Warum war ich noch hier? Es gab bei so wenigen Gästen, so wenigen Anfragen kaum etwas für mich zu tun. Von Bastian kamen gelegentlich defätistische Äußerungen. Er glaubte nicht mehr an die Zukunft der Anlage. Bei meiner Ankunft hier war er vermutlich nicht ganz aufrichtig gewesen. Ich glaubte, dass er sich längst nach einer neuen Stellung umsah. Nun, meine Zeit hier war auch begrenzt. In so und so viel Wochen würde ich wieder in Berlin sein, frei, mit einem Stück Papier für weitere Bewerbungen und einem kleinen Plus auf meinem Konto, hoffentlich.

Ein Lichtfunke sehr hoch am Himmel war ein Flugzeug, das seinen Weg nach Schönefeld suchte. Es kam von Osten, da Westwind wehte, vielleicht kam es aus Asien. Ich folgte erst seiner sehr langsam absteigenden Bahn, dann zog ein anderes Licht am Boden meinen Blick davon ab. Ein breiter Spalt zwischen zwei Bungalows schräg unter mir bildete einen Sehkanal in Richtung auf das Haupthaus, das selbst nicht sichtbar wurde, dafür an seiner Stelle das noch vorzeigbare, vermietbare und jetzt von innen erleuchtete Haus daneben. Dong war also daheim und wach. Bereitete er sich auf seine jetzige oder eine künftige dramatische Rolle vor, in die er mit Hilfe vollständiger Metamorphose demnächst für einige Stunden schlüpfen würde, um abends wieder der blasse Privatmensch zu werden?

Vollkommen naiv war ich natürlich nicht. Ich wusste recht gut, dass Schauspielerpersönlichkeit und Rollencharakter zwei möglichst sauber zu trennende Sachverhalte sind. Den Darsteller des Karl Moor am Bühnenhintereingang zu küssen, würde mir nicht einfallen. Dennoch musste es irgendeine Brücke, ein inneres Verbindungsglied geben vom Darsteller zum Dargestellten, einen Anknüpfungspunkt, ein Minimum von Seelenverwandtschaft. Das im konkreten Fall im Verhältnis von Dong zu Arun herauszufinden, ich empfand es in diesem Stadium zunehmend als eine von mir zu lösende Aufgabe. Langeweile hier und Enttäuschung über Dongs desillusionierende Erscheinung verbanden sich zu dieser fixen Idee in mir.

Wir hatten in jenen Tagen wenig Kontakt zu unserem Prinzen. Einmal kam er morgens, da sein WC defekt war und ständig Wasser nachfloss. Das ließen wir noch am selben Tag reparieren. Dong kam abends bei mir am Tresen vorbei, um sich freundlich, wenn auch prinzlich gemessen, fast reserviert, zu bedanken. Ich war nicht mehr im Dienst und nur noch privat im Netz unterwegs und klickte rasch weg, was ich mir gerade ansah: den Wikipedia-Artikel über Bangkok. Er beklagte sich über die seit Tagen herrschende Schafskälte. Ich gab ihm eine Decke aus unserem Wäschelager mit. Ich rollte sie zusammen, er klemmte sie unter seinen linken Arm und ich glaubte dabei erstmals etwas Spontanes auf seinem Gesicht zu entdecken: ungespielte Vorfreude auf Bettwärme.

Den übernächsten Tag hatte er frei und verbrachte ihn fast ganz in seinem Bungalow. Es war ein Sonntag, ich arbeitete trotzdem. Ich wässerte den Rasen vor dem Haupthaus, als er dazukam, offenbar um einige Worte zu wechseln. Ja, es war wieder wärmer geworden, ja, er kam in Adlershof gut zurecht. Schwierig sei nur das Einkaufen von Lebensmitteln für daheim. Manchmal lasse er den Taxifahrer unterwegs an einem Supermarkt halten und besorge rasch das Nötigste. Ich bot Hilfe an, übereifrig, wie Bastian mir später vorhielt. Dong gab mir also zweimal in der Woche eine kleine Liste und ich ließ mich von Bastian zum Discounter im größeren Nachbarort fahren. Es waren nur wenige einfache Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Brot oder Fischkonserven. Wenn Dong sie abends entgegennahm und mit mir abrechnete, tat er es gelassen freundlich. Obwohl es nicht selbstverständlich war, was wir für ihn taten, schien er es vielleicht doch so aufzufassen.

Ich war also inzwischen in ein nicht näher zu definierendes persönliches Fürsorgeverhältnis zu ihm getreten. Ich war jetzt neugierig auf ihn selbst, auf eine neutrale Weise, im Kern nicht mehr angetrieben von Enttäuschung, wenn auch noch nicht von Erwartung. Nur dass er meiner Neugier vorerst so gut wie keine Befriedigung verschaffte.


4

Meine Vorahnung sollte sich bestätigen. Ende Juni stand Bastian eines Morgens reisefertig vor mir am Tresen, beinahe wie ein Gast, der den Schlüssel abgibt.

„Brömmelmeier ist am Ende. Er hat Insolvenzantrag gestellt.“ Bastian wirkte noch aufgeräumter als sonst, fast fröhlich. Er schob seine Reisetasche mit dem Fuß ein wenig hin und her. „Das Ende ist nah, nur noch nicht ganz bis zu uns gekommen. Aber ich werde es hier nicht erwarten - fällt mir nicht ein. Ich fahre gleich nach Leipzig, da steht schon was in Aussicht.“ Ihn nach Leipzig zu begleiten, komme für mich kaum in Frage, sagte ich ihm und hoffte zugleich, er würde es mir anbieten. Doch nicht einmal nach Berlin hätte er mich mitgenommen. Der Geschäftsbetrieb müsse aufrechterhalten werden, jedenfalls vorerst, sagte Bastian, und zwar durch mich; alles mit Brömmelmeier so abgesprochen. Er legte mir dar, wie wenig ich überhaupt zu tun hätte und dass für mich immer noch Aussicht auf Gehaltszahlung bestehe, es sei denn, ich würde vor Ablauf meines Vertrags „Ferienglück“ im Stich lassen.

Als er nachlegte und mir mit Haftung drohte, falls die Anlage ohne Aufsicht Schaden nähme, unterbrach ich ihn: „Du hast das kommen sehen und mich reingezogen, damit ein anderer die Stellung halten muss …“ Er quittierte es amüsiert lächelnd und ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er „Ich glaube, du willst jetzt gar nicht wirklich fort … Wie weit bist du eigentlich mit dem Thai?“ Darauf war auch meinerseits besser nichts zu erwidern, ich machte nur eine abwehrende Handbewegung. Dann besprachen wir das Praktische und zwanzig Minuten später startete er den Wagen. Mir ging durch den Kopf, ich müsse Dong noch am Abend wegen der Einkäufe Bescheid sagen.

Der Prinz erfuhr von mir nur, dass mein Chef geschäftlich länger fort sei. Ich würde nur noch einmal in der Woche mit dem Bus in die Stadt fahren und einkaufen können. Er nahm es, wie mir schien, sehr gleichmütig hin, als hätte es keinerlei Bedeutung. Ich stand vor seiner Tür, er bot mir nicht an einzutreten. Also ging ich zurück ins Büro und bald für meine Verhältnisse früh schlafen.

Am übernächsten Tag kam eine Mail von Brömmelmeier, ich durfte keine neuen Gäste mehr aufnehmen. Die beiden Monteure waren schon fort, sie waren gleich nach Bastians Weggang ausgezogen. Außer dem Prinzen und mir selbst wohnte also nur noch der Handelsvertreter in der Anlage, dachte ich. Ich sollte sie jetzt täglich inspizieren und auf einem meiner Kontrollgänge sah ich mitten am Tag die Tür zum Bungalow des Vertreters weit offen. Ich rief hinein und trat dann in den Vorraum. Auf dem kleinen Tisch dort lag der Schlüssel. Tatsächlich war auch dieser Gast, wovon ich mich drinnen überzeugen konnte, vorzeitig abgereist und er hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, Bescheid zu sagen. So etwas kam wohl vor, das wusste ich, doch mir schien es zu bedeuten: So weit ist es gekommen, hier spitzt sich jetzt alles zu …

Ich verbrachte die Tage mit Lesen, Schreiben, im Internet Surfen. Keiner kam mehr zu mir an die Rezeption, auch kein Anruf, keine Post, keine sonstigen Nachrichten. Ich hörte Dongs Taxi morgens herauf- und dann wegfahren, hörte, wie er abends zurückgebracht wurde. Seit jenem Abend war er nicht wieder zu mir gekommen und hatte keinen Einkaufszettel mehr abgegeben. Ich kaufte also nur noch für mich ein, trug die wenigen Artikel vom Bus den Berg herauf, auf dem ich festsaß. Die Einsamkeit und die Stille um mich herum nahmen nach meinem Gefühl immer mehr zu. Nur in großen Abständen ließen sich von der Landstraße unten her leise Fahrgeräusche vernehmen.

Es war inzwischen sommerlich heiß geworden. Die Hitze hielt bis zum Sonnenuntergang an. Ich vernachlässigte mich ein bisschen und ging nicht mehr warm essen. Neuerdings stellte ich mir abends einen Stuhl auf die Terrasse meines Bungalows und sah halbe und vielleicht auch ganze Stunden lang über die verlassene, so gut wie aufgegebene, doch immer noch unter meiner Kontrolle stehende Anlage vor mir, bis das zunehmende Dunkel ihre Konturen auflöste. Dieses Sitzen und Starren ins Dunkelgraue machte mich vollends gleichmütig. Wenn Dongs Licht aufglomm, war das ein Signal für mich, mich befriedigt zurückzuziehen und schlafen zu gehen. Als hätte ich erst jetzt mein Tagespensum voll erfüllt.

An einem dieser Abende, es war kurz nach Sonnenuntergang, hörte ich Dong vor meinem Bungalow nach mir rufen. Ich stürzte durch die noch dunklen Räume hinaus. Wie hatte er überhaupt zu mir finden können? Er sagte, bei ihm sei kein Strom mehr da - bei mir auch? Mein erster Gedanke: Wir sind abgeschaltet, Brömmelmeier ist mit der Rechnung im Verzug. In diese Schreckensvorstellung mischte sich unmittelbar darauf eine andere Idee, die mich rasch aufmunterte: „Kommen Sie bitte herein, da sehen wir doch gleich mal nach.“ Ich ging voran, konnte zum Glück Licht machen, bot ihm einen Sessel an. Er versank tief in ihm und sah befremdet herüber. Zum Reden war er ja nicht gekommen … Also ließ ich ihn gleich wieder aufstehen und wir machten uns auf den Weg den Hang hinunter. Unterwegs schwiegen wir beide.

Auch im Haupthaus war der Strom noch da. Nur bei ihm blieb es dunkel. Wir unternahmen nicht viel, drehten im Schein meiner Taschenlampe erfolglos einige Sicherungen heraus und wieder hinein und gaben dann für diesen Abend auf. Ich sagte ihm, ein Elektriker müsse kommen, und behielt vorerst für mich, dass ich hier keinen mehr beauftragen würde. „Ferienglück“ war pleite, und das war gar kein so großes Unglück, schien mir jetzt. Ich nahm Dong mit zum Bungalow des Handelsvertreters. Auch er wäre normal nutzbar gewesen, nur hatte ich ihn nicht mehr reinigen lassen und die Bettwäsche war noch nicht abgezogen.

„Wenn Sie vorerst hier übernachten wollten …“ – „Oh ja, gewiss …“ Aber er zog nicht dahin um. Ich behauptete schnell, unsere Wäschekammer sei momentan leider leer, das sei mir jetzt noch eingefallen, und ohne Wäschewechsel sei das hier eben keine Alternative. Da wollte er sich erst drüben für eine Nacht mit Kerzenschein begnügen und war doch bald darauf einverstanden, zu mir überzusiedeln. Gemeinsam schafften wir sein Bettzeug den Berg hinauf.

Wir saßen noch eine halbe Stunde auf meiner Terrasse zusammen. Ich schenkte ihm zum Teil wenigstens reinen Wein ein. Klärte ihn auf, dass Bastian nicht zurückkommen werde und die Firma bankrott sei und die Anlage so gut wie stillgelegt. Er sagte erst nichts, blickte dann über die Ruinen vor uns und sagte: „Eine ziemlich romantische Situation … Passt irgendwie zu meiner Rolle jetzt.“ – „Die Serie?“ – „Ja, natürlich, die Serie. Ich lebe da im Exil. Wissen Sie, es ist das erste Mal, dass ich einen Prinzen spiele. Sonst waren es immer einfache junge Männer in Thailand. Sind auch ein bisschen sozialkritisch gewesen, diese Filme.“

Als wir ins Schlafzimmer gingen, sagte er, ohne mich anzusehen und scheinbar recht beiläufig: „Wir schlafen also bloß nebeneinander, ja? Sie müssen wissen, dass mich Sex langweilt.“ Wir sind tatsächlich an diesem ersten Abend beide bald eingeschlafen. Die Nacht verging so ereignislos wie die meisten anderen im Leben auch.


5

Das lag mir fern: ihn verführen zu wollen. Dong war neunundzwanzig, sieben Jahre älter als ich und für mich kein Sexualobjekt - ich kann das nur immer wieder betonen. Aber war es nur seine Geschichte, die mich interessierte, nicht doch auch die Person?

Ein Elektriker wurde nicht gerufen. Dongs Bungalow blieb ohne Strom und er selbst einfach bei mir, ohne dass wir noch einmal darüber sprachen. So unspektakulär begannen unsere Tage und Nächte zusammen, es war zuerst kaum mehr als gemeinsames Wirtschaften. Ich fuhr nun wieder häufiger mit dem Bus zum Discounter und abends gingen wir oft ins Dorfwirtshaus essen, deutsche Hausmannskost. Man war dort an gelegentlich hereinschneiende Fremde gewöhnt, Dong erregte weiter kein Interesse und mich kannten sie schon vom Sehen. Die Insolvenz hatte sich anscheinend noch nicht herumgesprochen.

Dong änderte sein Verhalten grundlegend. Er war nicht länger der etwas steife, hoheitsvolle Fremdling. Von nun an schien das seine neue Rolle zu sein: die eines vertrauten Mitbewohners und Schicksalsgenossen. Wir duzten uns bald. In der ersten Zeit sprachen wir noch nicht viel miteinander. Er packte in unserem kleinen Haushalt mit an und oft ergriff er selbst die Initiative. Wir hausten teils im Hauptgebäude, wo wir kleine Speisen zubereiteten und ins Internet gingen, teils bei mir oben. Hier lasen wir, sahen fern und schliefen, ohne uns dabei viel näher zu kommen. Er war meistens etwas muffelig, doch darunter erkennbar der gute Kumpel. Seine Muffeligkeit nahm ich als Zeichen dafür, dass er mir gegenüber nicht länger schauspielerte. Erst jetzt schien er nur noch der Privatmensch Dong zu sein, der schweigend den Tisch deckte oder das Geschirr abwusch. Ich freute mich allein schon, wenn er den Inhalt des Kühlschranks kontrollierte, für frische Luft in unseren Räumen sorgte oder vor dem Zubettgehen die Außentür fest verschloss.

Er ging meist vor mir schlafen und stand morgens früher auf. Wenn ich selbst zu Bett ging, schlüpfte ich so leise wie möglich unter meine Decke. Dann betrachtete ich ihn kurz verstohlen von meiner Doppelbetthälfte aus. Da lag Dong, seinem Atem nach schon schlafend, ein Bild von Frieden und Solidität. Ich konnte mich beruhigt umdrehen und selbst bald einschlafen.

Eines Morgens erwachte ich und bemerkte, dass er seinerseits mich intensiv betrachtete. Er hatte sich sogar dazu aufgerichtet und sah gespannt herüber. „Schon wach?“ fragte ich. „Irgend etwas los?“ – „Nein, gar nichts. Ich studiere dich nur … Du bist ein interessantes Beispiel.“ Es kam heraus, dass er sich professionell für mich als Schläfer interessierte. Sogleich demonstrierte er, wie ich dabei aussah. Er stand auf und verkörperte mich aus dem Stegreif, wie ich leise ans Bett herantrat, um das Möbel herumging, unter die Decke kroch, einen letzten Rundblick aussandte, die Decke sehr weit heraufzog, bis sie den größten Teil des Gesichts verhüllte. Er sagte: „Das ist schon extrem bei dir. Du bringst es fertig, dass nur die Nasenöffnungen frei bleiben. Der Rest der Nase verschwindet ebenso wie die Augen und alles andere. Wo die Decke nicht ausreicht, presst du den Kopf ins Kissen. Das ist der totale Rückzug in die Innenwelt. Wie du dich zusammenrollst: so wenig Oberfläche wie möglich. Aber wenn du morgens noch schläfst, ist alles an dir eckig, verkrampft, eine einzige Abwehr.“

Ob ich beim Einschlafen und Schlafen immer so sei, das sei noch die Frage, sagte ich und dachte: Wer weiß, vielleicht bin ich morgens nur verkrampft, da er keinerlei Annäherung wünscht? Das sei nicht wichtig für ihn, entgegnete er auf meine Bemerkung. Ich sei nur das Modell eines Typs von Schläfer, falls er einmal einen solchen darzustellen habe.

Von da an sprach er gelegentlich über seinen Beruf. Als Schauspieler, sagte er einmal, sei er nur ein leeres Gefäß, das mit einer Rolle als Inhalt gefüllt werden könne. Er sei dann die Maschine oder der Apparat, der bestimmungsgemäß funktioniere. Genau dieses exakte Funktionieren sei für ihn das Erregende dabei. - Und was ist dann der Zuschauer, wollte ich wissen, ein ebenso leeres Gefäß, nur ein Reizverarbeitungsautomat? – Das könne man so sehen. Es sei im Hinblick auf das Erzeugen der Illusion etwas Analoges. Den Fähigkeiten des Schauspielers entsprächen die Einstellungen des Zuschauers, das sei das ganze Mysterium.

„Ich habe ‚Der hundertste Längengrad’ gesehen. Bei mir hat es funktioniert.“ – „Schön für dich. Und ich bekomme hoffentlich irgendwann wieder so eine gute Rolle.“

Sein mechanistisches Verständnis war das eine, das andere sein weiteres Auftreten mir gegenüber. Er gab sich nun freundlicher als bisher, noch kameradschaftlicher. Er knuffte mich ab und zu, lächelte öfter als bisher. Ich gewöhnte mich immer mehr an ihn, ohne ihn körperlich zu begehren. Er war weder Arun noch ein Prinz, er war einfach Dong, mit dem ich gut auskam. Ich vermied es nun lieber, ihn vor meinem Einschlafen verstohlen zu betrachten.

Einmal kam er auf Märchen aus Südostasien zu sprechen. Eines aus Thailand schien ihn besonders zu faszinieren. Mit welcher Absicht fing er an, es mir nachzuerzählen? Da gab es Krokodile, die in einer tief unter dem Wasser gelegenen Höhle hausten und sich dort jedes Mal in Menschen verwandelten. An der Wasseroberfläche aber waren es ganz gewöhnliche und also auch gefährliche Tiere. Allerdings hatten sie es gar nicht nötig, sich wie normale Krokodile zu verhalten – in ihrer Höhle litten sie nie Hunger. Ein Zauber bewirkte, dass sie dort niemals ein Hungergefühl verspürten und doch nicht vom Fleisch fielen, durchaus nicht.

Dong sprach lächelnd weiter: „Aber der Krokodilsfürst, ihr König, war eine echte Thai-Bestie: immer gesättigt und zugleich unersättlich. Sein Appetit war von besonderer Art, er war permanent lüstern. Krokodilweibchen oder Menschenfrauen, das war ihm egal …“ Und das war auch sein Untergang. Dong erzählte die ganze Geschichte bis zum blutigen Ende des Krokodilsfürsten. Ich grübelte über die in ihr enthaltene Moral.


6

Bald darauf machte mir Dong ein seltsames Kompliment: „Du bist nicht wie Bastian. In seinen Bungalow wäre ich bestimmt nicht gezogen. Er hat mich verführen wollen …“ Ich fragte nicht nach Details. Hätte er sie mir überhaupt erzählt, ich bezweifle es. Ich versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen und zugleich klarzustellen, dass mein ehemaliger Chef auch an mich nicht herangekommen sei: „Weißt du, als Krokodilsfürst war er hier überhaupt ziemlich erfolglos.“

Dong lächelte. Es war mir gelungen, mich ihm an die Seite zu stellen: wir beide jetzt als Verbündete in der Abwehr von Lüsternheit. Mir war bewusst, dass ich damit Dong zuliebe mein rein kumpelhaftes Verhältnis zu Bastian falsch darstellte. Über jeden Zweifel erhaben war dagegen, glaubte ich, meine Sympathie für Dong. Wir waren inzwischen fast wie Brüder – Brüder im Geiste und Schicksalsgenossen. Ich begann mir insgeheim zu wünschen, er würde mich nach Thailand mitnehmen. War nicht eine seiner ersten Bemerkungen zu mir gewesen: Mein Vater war auch in der Hotelbranche? Als ich einige Zeit davor nach Berlin gezogen war, hatte ich dafür sehr viel aufgeben müssen. Doch alles in allem war die Stadt für mich nur eine weitere Enttäuschung. Ich konnte auch sie leicht zurücklassen.

Wir saßen nun an den meisten Abenden vor und nach Sonnenuntergang gemeinsam schweigend auf meiner Terrasse. Die Zeit schien keine Bedeutung mehr zu haben. Das Licht nahm ab und die Finsternis allmählich zu und es veränderte nichts an unserem wortlosen Einvernehmen. Ich empfand nur noch Beruhigung, Harmonie. Wenn ich überhaupt an die Zukunft dachte, übersprang ich die unmittelbar vor uns liegende Zeit und sah mich schon in Bangkok herumgehen. Ich erfuhr so gut wie nie, woran Dong auf der Terrasse dachte, falls er das überhaupt tat. Manchmal sah er freundlich zu mir herüber.

Einmal wies er stumm zum Terrassenrand hin. Wir saßen beide weit vorn, von wo aus man den weitesten Blick über die Anlage hatte. Er deutete schräg nach unten auf die zerbröselnden Platten und flüsterte: „Sieh genau hin - länger.“ Da hatten sich Nachtkerzen angesiedelt, von mir bisher kaum beachtet. Ich begriff, dass es ihm um die Blüten ging. Einige waren schon geöffnet und verströmten ihren charakteristischen Duft. War er einfach nur wohlriechend süß? Mir schienen noch weitere exotische Komponenten darin enthalten zu sein. Ich wollte mich abwenden, da legte mir Dong den Arm auf die Schulter und richtete mit seiner Hand meinen Kopf, meine Blickrichtung erneut auf die buschig-krautige Pflanze vor unseren Knieen aus. Ich hatte kein genaues Zeitgefühl mehr. Zwang er mich nicht eine oder sogar zwei Viertelstunden lang, mich auf die Nachtkerze und die Entwicklung ihrer Blüten zu konzentrieren? Zuerst geschah nichts, dann fast nichts, nur ein leichtes Vibrieren in den Stängeln unterhalb der Blütenknospen, die sich öffnen wollten. Wenn es bei einer soweit war, sprangen ihre Blütenblätter rasch hintereinander ruckartig wie die Falten eines Bühnenvorhangs auseinander. Und tatsächlich begann, während mehr und mehr Knospen voll erblühten, eine Art Vorstellung. Nachtfalter waren auf einmal da und führten ihren Schwirrtanz aus, ein hektisches Ballett zwar, doch zugleich statisch wirkend in seinem raschen, monotonen Bewegungsablauf, ewig stillstehende Dynamik. Ich war erst fasziniert, dann wurde es bald ermüdend. Die Blüten allein hätte ich mir länger ansehen können … Er schien zu begreifen, was ich fühlte, und sagte: „Gehen wir jetzt rein?“

Im Bett rückte er fast bis zu mir heran, als ich die Decke eben hochziehen wollte. Er legte einen Arm um meinen Hals und drückte mir, als ich mich umdrehen und ihn ansehen wollte, die Schulter mit seiner Hand nieder. Er zwang mich zur vollkommenen Ruhe. Ich gab nach und, seltsam, blendete ihn wie von selbst weitgehend aus meinem Bewusstsein aus, während er mich minutenlang so hielt. Dann deckte er mich zu und drehte sich von mir weg. Dieses Ritual wiederholte er von da an jeden Abend. Wir waren beide dabei nie vollkommen nackt, er im Pyjama, ich mit kurzen Shorts und einem T-Shirt.

Bei Tag machte ich mir klar, dass er mich manipulierte, mich auf den Weg einer asexuellen Erotik leitete. Am Abend ließ ich es dennoch immer wieder gern zu, bis mir eines Nachts vielleicht ein Fehler unterlief und ich mich dadurch, ohne es zu wollen, wer weiß, aus meiner sonderbaren Lage befreite.


7

Für mich wurde „Ferienglück“ mehr und mehr zu einem märkischen Zauberberg. Die Zeit meines Praktikums war vor kurzem abgelaufen und ich blieb dennoch in der Anlage. Wie der Stand des Insolvenzverfahrens war, wusste ich nicht. Hatte das Gericht schon über den Antrag entschieden? Zu Brömmelmeier hatte ich seit Wochen keinen Kontakt mehr gehabt. In Adlershof war die Staffel mit dem exilierten Prinzen inzwischen zu Ende gedreht. Dong fuhr neuerdings nicht mehr nach Berlin. Es hieß, er halte sich noch bereit – wofür? Ich fragte nicht danach, auch nicht, wann er nach Bangkok zurückfliegen würde. Ich ließ alles offen, da ich jetzt selbst für alles offen war.

Dong war nun auch am Tag meistens in meiner Nähe. Wir gingen viel in der Anlage herum und einige Male auch über ihre Begrenzung hinaus. Wir entdeckten von Wald bedeckte Sanddünen und kleine, stille, dunkle Seen zwischen ihnen. Wir waren dem Geheimnis dieser sommerlich leeren brandenburgischen Wälder auf der Spur und bekamen es bald heraus: Culex pipiens. Einmal kehrten wir so zerstochen heim, dass ich am Tag darauf im Drogeriemarkt ein Spray besorgte. Damit eingesprüht stanken wir fürchterlich und wollten es nicht weiter anwenden. Wir blieben von da an in der Anlage, bis zum Schluss.

Bei einem unserer täglichen Kontrollgänge quer über das Gelände wies der Maschendrahtgrenzzaun oben im Wald ein großes Loch auf, offenbar mit einer Spezialschere erst kürzlich hineingeschnitten. Ein erwachsener Mann konnte hier bequem und ungesehen zu den Bungalows vordringen. War aus einem schon etwas entwendet, war etwas zerstört worden, hatte sich irgendwo einer niedergelassen? Es war nicht möglich, alle drei Dutzend Häuschen daraufhin genau zu kontrollieren. Wir würden wachsamer als bisher sein.

In der Nacht darauf erwachte ich plötzlich aus tiefem Schlaf und stellte benommen fest, dass Dongs Betthälfte leer, seine Bettdecke zurückgeschoben war. Kein Grund zur Beunruhigung für mich, er stand manchmal nachts auf. Ich war schon dabei, mich wieder zusammenzurollen, als ein lauter Knall im Haus mich auffahren ließ, wie von gewaltsamem Türenschlagen oder Fensteraufreißen. Ich stand auf. Unter der Badezimmertür ein Lichtschein – ohne mich zu besinnen, öffnete ich die Tür und fand drinnen allein Dong vor. Nur dass es nicht der Dong der letzten Wochen war …

Ich hatte den Arun des Films vor mir, aus einer der letzten Szenen. In der Dusche, die abgestellt ist, ein männlicher Rückenakt, recht fleischig. Eine halbe Drehung des Körpers zu mir, von dem ihm größte Gefahr droht. Sein Gesicht spiegelt Entsetzen, die Augen schreckgeweitet. Die rechte Hand noch am steifen Glied. Wenn es Dong ist, muss ich sofort raus aus dem Bad. Aber es ist nicht Dong, es ist Arun, dem die Mafia einen Killer geschickt hat, um ihn mitten aus einer verfänglichen Situation heraus zu töten. Ich starrte ihn an, bewegungsunfähig vor Verblüffung aufgrund der scheinbar identischen Konstellation.

Er sagte sehr leise: „Es hat nichts mit dir zu tun.“ Dann in seiner normalen Stimmstärke: „Habe ich dich aufgeweckt? Mir ist eben der Brausekopf runtergefallen. Tut mir leid.“ Ich brummte etwas, das beruhigend klingen sollte, und zog mich zurück. Bald darauf legte auch er sich wieder hin.

Es war ein banaler Zwischenfall, ohne tiefere Bedeutung. Ich lehne es ab, Dongs Abreise zwei Tage später darauf zurückzuführen. Er gab sich doch bis zum Schluss unverändert. Als er mit Packen fast fertig war, sagte er: „Ob wir uns je einmal wieder sehen werden? Ja, vielleicht, wenn das Schicksal es so will …“ Dann muss ihm bewusst geworden sein, dass diese Floskel vielleicht etwas zu asiatisch war angesichts aller Umstände, und so setzte er noch hinzu: „Gib mir aber für alle Fälle deine Adresse und Telefonnummer.“ Als er am Morgen darauf zum wartenden Taxi ging, umarmte er mich fast schon wieder etwas förmlich. Er ging steifen Schrittes aus dem Haus und grüßte mich, der ihm von der Bungalowtür aus nachsah, mit Vierteldrehung des Körpers und leicht erhobener Rechten, eben wie ein Prinz, der ins Exil geht. Mag sein, dass ich das jetzt überinterpretiere und ihn bloß das Gepäck belastet hat.

Ich hatte nichts anderes mehr zu tun als Brömmelmeier eine Mail zu schicken und noch am selben Tag nach Berlin zurückzukehren. Einige Zeit später, es war schon September, las ich von dem Brand, der „Ferienglück“ weitgehend zerstört hat.


Einstell-Datum: 2021-06-15

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