|
Literaturforum:
Die sich lösende Zunge (Praeludium)
Forum > Sonstiges > Die sich lösende Zunge (Praeludium)
|
Autor
|
|
Thema: Die sich lösende Zunge (Praeludium)
|
Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
|
Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 26.01.2022 um 20:19 Uhr |
Bin ich schon wie die Alten, die plötzlich von Dingen erzählen, welche sie ein ganzes oder halbes Leben mit sich herumtrugen, von denen sie aber all die Zeit schwiegen – weil sie nun langsam merken, dass die Gelegenheiten dazu stetig abnehmen? Das frage ich mich, frage ich mich manchmal. Bin ich wirklich schon wie die Alten, die gerade noch rechtzeitig anfangen, die gefesselte Zunge zu lösen? Was ist denn mit mir? Ich habe keine weltbewegenden Geschichten zu erzählen, ich stand damals zum Ende des Weltkriegs nicht plötzlich vor einem sowjetischen Panzer in der Straße und hatte Angst, ich sah meinen Wohnort nach dem sinnlosen Bombardement draußen nicht entsetzt auf dem Feld stehend brennen, ich war kein Republikflüchtling, der durch ein Notaufnahmelager gehen musste und herablassend behandelt wurde, obwohl er in der “Zone” gerade amtlich bescheinigt die Höhen seines Fachgebiets erklommen hatte.
Was bewegte die Alten, mir von diesen sie vermutlich stark prägenden Erlebnissen in ihrer Biographie noch so spät zu erzählen? Ich kann mir viele Erklärungen denken, wähle die folgende: Das Erzählen der behüteten Wahrheit ist eine Befreiung, die viele noch bewusst erleben möchten; es ist eventuell auch ein Beweis persönlicher Nähe:
Ich vertraue Dir, höre also zu, wie ich Dir sage, was damals geschehen ist. Frage nicht, warum ich das gerade jetzt mache, höre einfach nur zu. Es tut mir gut, von diesen Dingen zu reden. Ich muss nicht mehr Stärke spielen, kann zulassen, dass das, was gewesen ist, woran ich mich erinnere, tatsächlich stattgefunden hat, wirklich war:
Eine Erschütterung, ein Abschnitt, ein Teil meines Lebens.
|
|
ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
1. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 26.01.2022 um 21:54 Uhr |
Ist zwar als mitspielendes Motiv in Erwägung zu ziehen, ist mir aber zu individualistisch privat. Eine andere Perspektive: Historie hat für sich einen Anspruch auf Weitergabe. Ich möchte also den Fokus auf den Stoff, nicht auf den Vermittler legen.
Und noch drei Gesichtspunkte: Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist erwiesenermaßen die einzige Kraft, die im Alter noch zunimmt. In der Regel schreibt es sich mit sechzig besser als mit dreißig. Das andere: Gesamtzusammenhänge können nach Ablauf von Jahrzehnten besser überblickt werden. Und zuletzt: Im Alter muss man weniger Rücksicht nehmen, kann freier reden, schreiben.
|
|
Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
|
2. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 27.01.2022 um 09:02 Uhr |
Zitat:
Ist zwar als mitspielendes Motiv in Erwägung zu ziehen, ist mir aber zu individualistisch privat.
Ich verstehe vermutlich nicht ganz, was Du aus dem Text gelesen hast. Die mündliche Erzählung alter Menschen wenige Monate oder Jahre vor ihrem Ableben ist das eine, das Schreiben, so wie ich es gemeint habe, etwas anderes, das eine literarische Gestaltung natürlich immer einschließt. Du sagtest doch auch neulich, dass Deine Texte autobiographisch seien?
Zitat:
Historie hat für sich einen Anspruch auf Weitergabe.
Historie ist aber kein Subjekt und vermag daher von sich aus nichts.
Zitat:
Ich möchte also den Fokus auf den Stoff, nicht auf den Vermittler legen.
Ja, warum nicht; allerdings lässt sich beides nicht komplett voneinander trennen: Ohne Vermittler kein Stoff.
Zitat:
Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist erwiesenermaßen die einzige Kraft, die im Alter noch zunimmt.
Ein interessanter Aspekt. Allerdings weiß ich nicht, ob er immer zutrifft. Viele, die mit ihrem Schreiben etwas bewegen, haben am Anfang gewissermaßen eine Aufwärmphase, dann legen sie richtig los. Nach ein paar Jahren haben sie den Stoff, von dem sie zehren, meist aufgebraucht – aber das betrifft ja die Inhalte ihrer Texte. Die Originalität ist dahin, sie sind eine Schreibmaschine geworden.
Ich selbst bilde mir ein, dass ich im Schreiben vielleicht besser geworden bin als früher, allerdings sehe ich auch, dass ich nicht mehr das vermag, was ich als Zwanzigjähriger noch vermochte.
Kannst Du Beispiele nennen, anhand derer man sieht, dass die “sprachliche Ausdrucksfähigkeit” zugenommen hat? Ich finde das wirklich spannend.
|
|
ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
3. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 27.01.2022 um 10:50 Uhr |
Vermutlich sind unsere Auffassungen nicht diametral entgegengesetzt. Unterschiedlich ist wohl nur die Gewichtung der einzelnen Faktoren. Was das Primat des Stoffs angeht, so glaube ich mich zu erinnern, vor Tagen bei dir gelesen zu haben, wie du nach Fertigstellung eines Textes befriedigt konstatiertest, er habe eben geschrieben werden müssen. Leider finde ich die Stelle jetzt nicht.
Bei sich im Alter noch weiter entwickelnder sprachlicher Kompetenz bezog ich mich auf eine neuere wissenschaftliche Untersuchung (Veröffentlichung etwa 1 - 2 Jahre her), die ich leider jetzt ebenfalls nicht sofort im Netz auffinden kann. Stattdessen teile ich meine eigenen Erfahrungen mit. Sie sehen so aus, dass ich inzwischen sprachliche Fehler oder Schwächen in zwanzig oder dreißig Jahre alten Texten viel leichter (oder überhaupt erst) auffinden kann als zur Zeit des Niederschreibens. Jahrzehntelange Praxis verstärkt allein durch laufendes Training die Kompetenz, solange dieser Prozess nicht durch gesundheitliche Probleme oder echten Altersabbau zum Stillstand kommt.
Ich überlege, welche Autoren im Alter ihre komplexesten Werke in für sie reichster Sprache fertiggestellt haben. Ist Fontane nicht so ein Beispiel, wenn wir "Der Stechlin" mit seinen frühen Romanen vergleichen? Oder, noch eindeutiger, Giuseppe Tomasi di Lampedusa mit "Der Leopard"? Jean Paul? Tolstoi? Raabe?
I
|
|
ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
4. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 27.01.2022 um 12:40 Uhr |
|
|
Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
|
5. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 27.01.2022 um 19:24 Uhr |
Danke für die Links und Beispiele; leider kenne ich die genannten Autoren nicht (besonders gut), so dass ich weder zustimmen noch widersprechen kann.
Zitat:
so glaube ich mich zu erinnern, vor Tagen bei dir gelesen zu haben, wie du nach Fertigstellung eines Textes befriedigt konstatiertest, er habe eben geschrieben werden müssen. Leider finde ich die Stelle jetzt nicht.
Vielleicht hast Du dieses Zitat aus "Der alte Dreck" gemeint?
Zitat:
andererseits freut sich (nach BrunO Zacke) auch (ausnahmslos?) jeder Text darüber, dass er es geschafft hat, geschrieben worden zu sein.
Das spezielle ist ja hier, dass es den Text selber freut, dass es ihn gibt – und dass er anerkennt, dass seine Geburt nicht unbedingt leicht gewesen sein muss.
|
|
ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
6. Antwort - Permalink - |
Abgeschickt am: 27.01.2022 um 21:01 Uhr |
Es ging eigentlich nur um den Neurobiologen Martin Korte, Autor des Buchs "Jung im Kopf". Er scheint ziemlich angesehen, war früher z.B. an Max-Planck-Instituten und ist seit 2004 Professor an der TU Braunschweig. Ich kenne auch nur einige Rezensionen seines Buchs und kann dessen Inhalt selbstverständlich nicht bewerten.
|
|
Forum > Sonstiges > Die sich lösende Zunge (Praeludium)
Buch-Rezensionen:
|
|