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Wenn Harleys Blüten treiben
Autor: Heidrun Gemähling · Rubrik:
Kurzgeschichten

Wenn Harleys Blüten treiben

Schon seit einigen Tagen, wenn Harley-Max das kleine Dachfenster seiner Hütte morgens öffnete und hinaussah, stieg ein eigenartiges sehnendes Gefühl in ihm hoch, das ihn freudig stimmte. Die Sicht in die erwachende Natur und die feuchten Gerüche der Frühe, die er seit seiner Kindheit so liebte, verstärkten seine Gedanken, dass bald die Zeit naht, um eine Bergtour mit seiner geliebten „Emma“ zu machen.
Ein harter Winter hatte in diesem Jahr den Alltag beschwert, doch nun war es mit der langanhaltenden Kälte vorbei, sodass sich die Schneeschmelze ihren Weg von den Bergen ins Tal bahnen konnte. Manch kleiner dahin plätschernder Bach füllte sich, wurde breiter und ließ die Vielfalt einer ausgeprägten Vegetation sprießen. Der alte Max beobachtete den Wechsel der Natur und die zeitlichen Veränderungen sehr genau und spürte natürlich, wie laue Winde aus der Ferne heran eilten, einen Hauch von Frühlingsfülle ins Land trieben.
Neugierig verfolgte er den alltäglichen Wetterbericht und hätte gerne die Tage für ein geeignetes Motorradwetter herbeigezaubert, das ihm erlaubte, seine geliebte Harley spazieren zu fahren. Da es aber noch nicht so weit war, überbrückte er die Wartezeit bei seinem Blechschatz im Schuppen, um ihn mit seinem stets aus der Hosentasche hängenden Wolllappen zu polieren, auch wenn alles bereits glänzte und es nichts zum Verschönern gab. Ab und an setzte er sich schwungvoll auf sein Motorrad und gab solange Gas, bis er im Qualm zu ersticken drohte. Erst dann öffnete er die schon seit Jahren verrußte Tür, ging einige kurze Schritte zur Seite und stellte sich in die Ecke, wo ihm eine leicht hervorstehende Wand Schutz bot und beobachtete recht gelassen, wie sich die dicke Luft hinausdrängte, die natürlich seinen Erkenntnissen zur Gesundheit nicht entsprach. Die schon alte, dicke buntgefärbte Katze, die sich stets in seiner Nähe aufhielt, suchte schleunigst das Weite, wenn der erste Sound ertönte und sich mit anderen blubbernden dröhnenden Klängen vermischte.
Unten im Tal hörte man die Leute dann sagen: „Ach, Harley-Max bringt seine Kiste in Gang, dann kriegen wir bald trockenes Wetter!“.
Es war bereits Mittagszeit, als er den Schuppen verließ und verhalten die Tür hinter sich schloss. Auf einem schmalen steinigen Pfad, der in den unteren Bereich der hügeligen Wiesen führte, begleiteten ihn Düfte wohlriechender Blüten, Kräuter und Gräser, denen er sich gerne widmete und sie auch sinnlich zu genießen vermochte. Festen Schrittes erreichte er den selbstangelegten kleinen Teich, in dessen Nähe ein alter knorriger Kirschbaum stand. Viele abgefallene Kirschblüten trieben auf dem sonnendurchfluteten Wasser und in kleinen blütenlosen Stellen spiegelten sich herabneigende Blütenäste wider. Solch ein Anblick konnte seine zarte Seele betören. Behutsam setzte er sich ins hohe Gras, das voller kleiner Wunder zu sein schien, doch schon nach kurzer Zeit legte Max sich selig zurück und betrachtete die weißen, über ihn dahinziehenden Wolken, die seinen Gedanken Raum zum Träumen ließen ...
- Plötzlich sah er aus dem Wasser ein wunderbares Wesen emporsteigen, das ihn winkend um Hilfe bat, da es im frisch getriebenen Schilf hängengeblieben war und sich nicht selber befreien konnte. Zugleich hörte er vertraute Geräusche in der Ferne, die lauter und lauter wurden und bemerkte etwas Seltsames, das sich am Hang entlang bewegte. Irgendwie war alles so anders, denn auf den heranrollenden Maschinen saßen Gebilde aus feinsten natürlichen Blüten, die übermütig ihre Köpfe hin und her schaukelten. Sie umrundeten zweimal das idyllische Gewässer und blieben in einiger Entfernung stehen.
Harley-Max versuchte an den Nummernschildern die Herkunft zu erkennen, doch war dort nur ein Schild mit der Aufschrift „Naturnah-Harley-Reisen“ angebracht und sonst kein weiteres zu sehen.
„Das ist mal was ganz Neues!“, murmelte er vor sich hin und wandte sich augenblicklich wieder seiner im Wasser festsitzenden Blütendame zu, die sich ängstlich und unbeholfen an den Halmen festhielt, um nicht ganz im Wasser zu verschwinden.
Auf dem ersten heißen Schlitten posierte stolz und erhaben ein roter großer Klatschmohn der dem halbversenkten Blütenwesen zu verstehen gab, dass es herbeikommen sollte. Hinter dem Mohn standen weitere blütenbehangene Harleys aus Gänseblümchen, Sumpfdotterblumen, Spitzwegerich, Löwenzahn, Schlüsselblumen, Buschwindröschen, Margeriten, Kuhschellen, Vergissmeinnicht, Stiefmütterchen und auch solche, die bereits Knospen angesetzt hatten oder anfingen zu erblühen. Wo auch immer sie das laute Klatschen des anführenden Mohnes hörten, eilten sie herbei, um sich dem Corso anzuschließen.
Nun hob der alte Max die so eindringlich bittende Blütenschöne auf seine Arme, und sogleich zeigte sie in Richtung Schuppen und bat mit leiser rauer Stimme: „Hebe mich bitte auf Deine Harley und zeige mir die Berge!“.
In diesem Moment sauste ihm seine eifersüchtige Katze zwischen die Füße, denn sie konnte es nicht ertragen, dass ein anderes Wesen in seinen Armen lag. Stolpernd fiel er zu Boden und landete verstört im Teich. -
Entsetzt öffnete er die Augen und spürte die schnurrende Katze neben sich, die seinen verklärten Blick nicht verstand, als er sich erhob und zu seiner Emma hinauf in den Schuppen ging.

© Heidrun Gemähling


Einstell-Datum: 2010-06-07

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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