Das Fernglas lag noch immer auf dem Tisch, gut verwahrt in seinem harten Lederetui. Er hatte es bei der Ankunft vor drei Tagen ausgepackt, doch bisher auf keine seiner Bergtouren mitgenommen; es war ihm zu schwer. Jetzt entnahm er es der unhandlichen Hülle, um es erneut zu betrachten. Es war ein Erbstück und, wie Erbstücke gewöhnlich, schwer zu handhaben und auch noch mit Erinnerungen behaftet. Es war erst im Vorjahr nach Tante Irenes Tod in seine Hände gekommen, ein Qualitätsstück der ersten Nachkriegsjahre, unverwüstlich. Wie er wusste, hatte der Onkel, Tante Irenes lange vor ihr verstorbener Gatte, es einige Wochen vor ihrer ersten großen gemeinsamen Ferienreise gekauft; zu welcher Reise es dann aber nicht mehr gekommen war, da der Onkel beim Äpfelpflücken von der Leiter stürzte und den Rest seiner Tage querschnittsgelähmt im Bett und im Rollstuhl verbrachte. Der große Gadda hätte gesagt: Ein Onkel, der nach beiden Seiten offen war … Eine rührende Geschichte, die man sich selbst erzählen konnte, wenn man allein in irgendeinem Hotelzimmer logierte. Übrigens war nicht einmal sicher, dass alles sich so zugetragen hatte. Es kursierten noch andere Versionen in der Verwandtschaft. Möglicherweise war der Onkel – Maurer war er wohl gewesen oder Dachdecker, wenn nicht etwa doch Anstreicher oder Fensterputzer – in Wahrheit bei der Arbeit vom Gerüst gefallen und hatte das Glas erst nach dem Unfall erworben, um damit die nähere, nun unerreichbar gewordene Umgebung zu sich heranzuholen. Wer konnte das jetzt noch wissen.
Der Fremde ließ Glas und Hülle auf dem Tisch liegen und ging zum Fenster. Von dort kam jetzt ein Geräusch wie von Wespen oder Hornissen, böse und aufgeregt, es war ja September. Er spähte durch die engmaschige Gardine. Da unten war ein großer städtischer Parkplatz. Das Geräusch rührte von vier Motorrädern her, die gerade im Schatten großer, blühender Oleanderbüsche zum Stillstand kamen. Vier junge Männer stiegen rasch ab. Zwei von ihnen fuhren leichte geländegängige, die anderen beiden größere Straßenmaschinen. Alle hatten ihre Motorräder mit fest verschnürtem Reisegepäck beladen. Der Fahrer der mittelschweren Straßenmaschine stach durch seine rot-weiße Lederkombi ins Auge. Er erinnerte den Fremden sogleich an jene Gattung von Grashüpfern, die im Flug blitzschnell ihre scharlachroten Flügel aufklappen. Alle vier wirkten unruhig, quecksilbrig, eine Folge ihrer gut überstandenen Fahrt oder der neuen Umgebung. Sie mussten noch sehr jung sein. Der Größte von ihnen fuhr ein japanisches Fabrikat mit elf- oder zwölfhundert Kubikzentimetern, eine von diesen Mordmaschinen. Er trug eine schwarze Lederkombi, und aus dem offen stehenden Oberteil leuchtete ein pinkfarbenes T-Shirt heraus. Er war von allen der beweglichste und unruhigste.
Schon nahm der Fremde Anteil an ihnen. Er unterschied sie und wünschte, sie noch genauer betrachten und unterscheiden zu können. Lag nicht das Fernglas bereit? Er zögerte nicht lange. Bedenkenlos richtete er es auf die vier da unten – und die Szene verwandelte sich zum Erstaunen. Die Farben leuchteten nun viel stärker, das freche Pink, das aggressive Rot, selbst das düstere Schwarz. Die Körper wirkten auf einmal plastisch, und im beweglichen Spiel dieser Körper war nun erst wirkliches Leben. So betrachtet man einen Wassertropfen unter dem Mikroskop und entdeckt mit einem Mal das Gewimmel der Infusorien.
Ihre Mimik war ihm vorher verborgen geblieben, jetzt sah er sie lächeln. Sie fühlten sich so sicher – was sie sagten und wie sie sich dabei bewegten, es war nur für die Ohren, die Augen der drei anderen bestimmt. Gute Laune, gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen, Vertraulichkeit, all das bestimmte jetzt ihr Verhältnis zueinander, und es drückte sich unmittelbar in der Sprache ihrer Körper aus. Sie fachsimpelten, wie es schien. Wenn einer sprach, wandte er sich abwechselnd einer der Maschinen und dem Trio der Freunde zu.
Der große Kräftige in der einheitlich schwarzen Montur und dem pinkfarbenen Leibchen hatte sehr kurze blonde Haare, eigentlich bloß helle Stoppeln auf dem runden Schädel, und einen ebenfalls sehr kurzen blonden Vollbart. Es fiel dem Fremden allmählich auf, dass er im Verlauf ihrer Unterhaltung regelmäßig die gleichen sonderbaren Bewegungen ausführte. Die Hand ruhte gern auf der Brust, da wo das Herz schlägt, und es war deutlich zu sehen, wie er immer wieder die Brustwarze befühlte. Beim Reden fand dieselbe Hand wiederholt, entlang der Ledermontur, den Weg hinab zum Geschlecht, und er versagte es sich nicht, sie auch dort kurz und dennoch nachdrücklich ruhen zu lassen. Diese Geste hatte etwas Herausforderndes. Den Fremden amüsierte sein Balzverhalten.
Endlich formierten sie sich zum Abmarsch in die Stadt, die vier im munteren Gespräch, nebeneinander in einer Reihe. Nur füreinander hatten sie Augen und Ohren und achteten gar nicht auf das, was sie umgab. Der Fremde sah sie ungern weggehen. Immerhin behielt er ein Bild von ihnen im Kopf.
Am Abend desselben Tages ging er in den Mailänder Hof. Von allen Gasthöfen der kleinen Stadt hatte dieser die beste Küche. Ob man sich dort allerdings auch gut bedient fühlte, hing vom Dienstplan des Personals ab. An diesem Abend hatte er Pech: Die angenehme Blondine – sie war wohl eine Einheimische – grüßte ihn freundlich von der Bar her, als er am Fenster Platz nahm. Und da nahte die andere schon, die hagere Italienerin, eine Zigarette rauchend, nicht um nach seinen Wünschen zu fragen – es war ihre Art, bloß stumm neben dem Gast Posten zu beziehen und sich dann die Bestellung wortlos zu notieren. So sehr sie mit Worten geizte, so beredt waren Miene und Haltung. Diese ließen keinen Zweifel daran, dass sie es als bitteres Unrecht empfand, im fremden Land in öffentlichen Speisehäusern Fremde bedienen zu müssen. Mit allen Anzeichen lebenslanger Verbitterung schrieb sie den Hirschpfeffer und das Übrige auf und trat den Gang zur Küche an, als wäre es ihr allerschwerster. Bald darauf brachte sie Suppe und Mineralwasser und servierte mit dem Ausdruck mühsam unterdrückter Empörung. Der Fremde hatte sich indessen im Verlauf mehrerer Abende bereits an dieses Schauspiel gewöhnt, wie es sonst nur Galeerensträflinge in historischen Filmen bieten, und ließ sich die Suppe schmecken.
Die Italienerin entfernte sich ein wenig und lehnte dann, immer noch rauchend, am freien Nachbartisch. Sie beobachtete jetzt mit kaum verhohlener Ungeduld ein älteres Ehepaar, das in der Nähe die Weinkarte ausgiebig studierte. Die wollten sich wohl einen schönen Abend machen, es sich etwas kosten lassen, die Ahnungslosen! Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Prompt kam sie dann mit dem Wein und öffnete die Flasche nach den Regeln ihrer Kunst. Sie stand dabei im Gang zwischen des Fremden Tisch und demjenigen des Ehepaares, die Weinflasche gegen den linken Oberschenkel gepresst, das andere Bein rückwärts abgespreizt. Plötzlich eine Erschütterung – fast wäre seine Suppe übergeschwappt. Der Rückstoß infolge der Hebelwirkung war sehr heftig gewesen und sie mit dem Fuß gegen seinen Tisch gestoßen, wobei der Rock das Bein weit hinauf entblößte. Für einige Sekunden bot sich dem Fremden der Anblick eines nackten Frauenschenkels, den er überraschend wohl geformt fand.
Verwirrt sah er nach der Bar hinüber, suchte den Blick der anderen. Die Strahlen ihrer selbstbewussten Güte erreichten ihn jetzt nicht, sie war dort drüben seit längerem in ein Gespräch mit Gästen vertieft. Da saß an der Schmalseite der Bar ein junges Paar eng beisammen, während ein anderer die ganze Länge des Tresens für sich beanspruchte. Wie es schien, stritt das Paar mit dem Einzelnen oder zankte ihn aus, und die blonde Barfrau vermittelte zwischen den Parteien; stockte das Gespräch, entfachte sie das Feuer mit einem aufstachelnden Wort auf Neue. Dem jungen Mann quollen dicke blonde Locken ins Genick, das er trotzig gegen den breiten Kragen seiner schwarzen Lederjacke schob. Der Blick des Fremden glitt an ihm herab, wie er da auf dem Barhocker saß und ihm den Rücken kehrte: Er trug auch eine Hose von schwarzem Leder. Beim Reden versuchte er sich zurückzulehnen, um Selbstbewusstsein zu zeigen oder vorzutäuschen; der Rücken fand indessen keine Lehne, und so sackte der Oberkörper mit dem vollen Gewicht auf den rechten Arm und rutschte mit diesem in weit ausholender Bewegung den Tresen entlang, noch weiter fort von dem Paar und der Barfrau. Wenn er sich wieder aufrichtete, konnte der Fremde für einige Augenblicke sein Profil betrachten. Er war noch sehr jung und nicht mehr vollkommen nüchtern.
Der Fremde verstand nicht, worüber sie stritten, denn sie verständigten sich im Dialekt. Umso beredter war die Pantomime, die sie ihm boten. Das Paar hänselte den Burschen, wobei sie vorgaben, sein raues Auftreten ängstige sie, nur um sich, wenn er noch dicker auftrug, noch mehr erheitern zu können. Gleichzeitig kitzelte der Rest von Unberechenbarkeit, der in ihm steckte, die beiden auf sehr angenehme Weise. Die Barfrau nahm scheinbar Partei für sie, doch neigte sie in Wahrheit ihm zu. Mit Absicht schien sie ihn, der ihr sympathisch war, ins Unrecht setzen zu wollen, doch nur um sich an seinen Explosionen zu ergötzen. Er, der Provinzledertyp, spielte den Macker und glaubte gar nicht daran. Gleichzeitig spürte er etwas in sich, das tief unter dem falschen Gehabe lag und wiederum damit zusammenhing, etwas, vor dem er sich fürchtete und das doch die einzige Quelle seines Selbstvertrauens war.
Eine blonde Bestie, dachte der Fremde, da haben wir Nietzsches blonde Bestie, und zwar in einer Rummelbudenversion. Auch während des Hauptgerichtes sah er ab und zu hinüber: fasziniert. Beim Nachtisch stand der Bursche auf und verabschiedete sich umständlich und treuherzig. Die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende Bestie musste nun gehen und zusehen, dass sie den Zwanzig-Uhr-Zug nicht verpasste.
Nun wollte der Fremde zahlen. Er zumindest war hier auf seine Kosten gekommen. Schon stand die Italienerin am Tisch und rechnete mit ihm ab. Dann wühlte sie mit Ingrimm in der großen Börse, um sein Wechselgeld herauszuholen, und stieß dabei mit dem Ellbogen den Brotkorb vom Tisch. Zwei Scheiben Brot, die übrig geblieben waren, lagen neben dem Korb. Da unterbrach sie ihr Scharren, sammelte auf, was heruntergefallen war, legte die Brotscheiben zurück in den Korb, stellte ihn an seinen früheren Platz und gab jetzt das Wechselgeld heraus. Bei alledem blieb sie stumm wie gewöhnlich. Er gab ein kleines Trinkgeld, und sie bedankte sich auch dieses Mal nicht. So hatte sie es vom ersten Abend an gehalten, und dennoch gab er ihr immer wieder eine kleine Summe. Eines Tages würde sie doch danke sagen, und am Tag darauf würde er abreisen.
Er stand nun immer öfter am Fenster seines Hotelzimmers und lernte den Ausblick erst jetzt schätzen, den Ausblick, der ihm so viele Einblicke verschaffte, seitdem er sich das Fernglas ungeniert zunutze machte. Skrupel irgendeiner Art verspürte er nicht. Er sagte sich, dass er, der Fremde, die Unbekannten dort unten keineswegs bei verborgenen Handlungen beobachte, sondern doch nur betrachte, wie sie sich öffentlich gäben. Ihr alltägliches, banales Auftreten, ihr gewohnheitsmäßiges Mienenspiel, die selbstvergessenen Bewegungen ihrer Körper, all das zu registrieren, verschaffte ihm großes Vergnügen. Es war der Reiz einer neuartigen Perspektive, der den Erscheinungen Frische und Plastizität zurückgab. Außerdem hätte er die Unbekannten aus größerer Nähe niemals derart intensiv betrachten können, es hätte ihre Reaktionen sogleich verändert. Er schuf also mit dem Fernglas eine Versuchsanordnung, bei dem der störende Einfluss des Experimentierenden ausgeschaltet war. Er hatte sich selbst eliminiert.
Er war sich darüber im Klaren, dass er dieses Spiel nur gegenüber gänzlich Fremden betreiben konnte. Man sagte ihm doch zu Recht nach, er sei überaus empfindsam und extrem taktvoll, und er vermied es sonst stets, Freunde oder Bekannte in peinlichen Situationen zu beobachten. Bei diesen Gelegenheiten war er scheinbar nicht mehr anwesend – um nicht mitfühlen oder sich später erinnern zu müssen, so verhielt es sich nämlich in Wahrheit. Hier bestand jetzt keine Beziehung zwischen ihm, dem Beobachter, und den Objekten seines Interesses. Sein Interesse blieb folgenlos. Er hatte keine Verantwortung für das, was er sah, und konnte daher in aller Ruhe durch das Fernglas schauen. Was er aufnahm, kam einem ästhetischen Gewinn ohne Einsatz gleich.
Und wieder einmal gelang es ihm, eine Gruppe von Motorradfahrern in ihrem Verhalten zu studieren. Kurz hintereinander trafen drei Männer Anfang dreißig ein. Es waren Einheimische. Das schloss er daraus, dass ihre Maschinen den Schriftzug des örtlichen Händlers trugen: Bärenfaller. Vielleicht hatten sie verabredet, sich nach ihrem Acht-Stunden-Tag hier auf dem Parkplatz zu treffen und noch rasch auf einen der Pässe zu fahren, ehe es Nacht wurde. Sie stiegen nur kurz ab, entledigten sich der Helme, überprüften ihre Maschinen und starteten dann gemeinsam, als alle drei beisammen waren. Es waren schwere Maschinen, keine unter neunhundert Kubikzentimeter. Die Verkleidungen waren außerordentlich phantasievoll lackiert: gelb-grün oder rosa-violett. Auch gab es wieder das beliebte Rot-Schwarz. Die Farbflächen griffen in vielfach zerfransten Linien ineinander. Nicht weniger imposant war das Gepränge ihrer Rüstungen, ein Mosaik von schwarzem und farbigem Leder, von Leder und Metall, von Polstern und Noppen und Nieten … Indessen wirkten die Köpfe, wenn sie die Helme abnahmen, ziemlich ernüchternd: Gesichter, die man sich nicht merken konnte, bartlos, blässlich.
Ein Erinnerungssplitter drang ihm ins Bewusstsein. Es war noch in Berlin gewesen, die Zeit mit Rosi. Auf einer ihrer verrückten Fêten hatte sie den langen Studenten – Max war sein Name gewesen, er sah das Gesicht jetzt deutlich vor sich – sehr provozierend gefragt: „Sag mal, warum sind Motorradfahrer meistens so unattraktiv?“ Und Max, der selbst eines fuhr und gerade keine Schönheit war, hatte ihr ganz trocken geantwortet: „Schon mal was von Kompensation gehört?“
Der Fremde war nahe daran, das Fernglas wegzulegen. Das waren ja ernste, gesetzte Vertreter der staatstragenden Mittelschichten. Sie wussten sich zu beherrschen; ausgeschlossen, dass sie sich Blößen gäben. Es schien fast so, als wüssten sie, scharf beobachtet zu werden. Sie begrüßten sich kühl, sprachen nur das Nötigste und bewegten sich weder zu langsam noch hastig. Zweckmäßig war alles, was sie taten und wie sie es taten. Was aber war der Zweck ihrer Ausfahrt? Immerhin boten sie einen auf unbestimmte Weise erhebenden Anblick, als sie, die unbedeutenden Köpfe und Körper perfekt verkleidet und gewappnet, davonbrausten. Möglich, dass man bloß erleichtert war.
Indessen bemerkte er da noch zwei junge Männer auf dem Parkplatz, die den Abfahrenden sehnsüchtig nachsahen. Sie waren dabei, ihre Wagentüren zu öffnen, und zögerten jetzt. Es waren hübsche Mannsbilder, Mitte zwanzig, Charakterköpfe im Vergleich zu denen, die ihre Blicke auf sich zogen. Gut sahen sie aus, doch sie schienen in diesem Augenblick mit sich unzufrieden, so als ob sie sich anders zu sehen wünschten. Die Verfinsterung hielt nur kurz an, dann entspannten sich ihre Züge. Sie grüßten einander und stiegen in ihre Autos und fuhren auch weg.
Am vorletzten Tag im Gebirge ging er auf einen der Pässe. Er benutzte den alten Saumweg, auf dem Kriegs- und Handelsleute jahrhundertelang nach Italien gezogen waren; er war seit langem verödet.
In der Nacht hatte es geschneit, jetzt war über allem blauer Himmel. Die blendend überstäubten Zinnen und Grate hoben sich so scharf von der Himmelsbläue ab, dass es den Augen wehtat. Dennoch war es schön, sehr schön sogar, vielleicht der schönste Tag auf der gesamten Reise.
Beim Aufstieg dachte er an seine Lektüre vom vergangenen Abend, Prosa von Hofmannsthal. Eine Stelle beschäftigte ihn stark. Der Dichter schrieb da, für ihn sei nicht die Umarmung, sondern die Begegnung die wahre erotische Pantomime. Und er ging noch weiter: Die Begegnung – gemeint war wohl der frische visuelle Kontakt – sei der Umarmung an seelischem Gehalt weit überlegen, da sie so viel mehr verspreche, als die Umarmung dann halten könne. Genauso hatte er selbst es seit einer Reihe von Jahren immer deutlicher empfunden. Was aber blieb einem, wenn man das so klar sah: Der Blick war dann schon das Wesentliche, war alles, und auf die Umarmung verzichtete man besser von vornherein. Der Blick vermittelte Bilder, die man in ihrer Schönheit isoliert bewahren und betrachten konnte. Ja, es kam eigentlich nur auf die Bilder an, sie waren der einzige Ertrag der Begegnungen. Und dann war es nur noch ein Schritt und man war so weit, sich diese Bilder zu verschaffen, ohne Begegnungen herbeizuführen. Der isolierte Blick konnte einem auch die Bilder schenken, die Bilder, die man nicht entbehren konnte.
Während des Aufstieges kamen mehr und mehr Wolken von Italien herüber. Auf der Passhöhe sah er über sich einen Himmel wie von Marmor, mit Lichtadern darin. Hier oben lag noch der Neuschnee der vergangenen Nacht, doch schmolz er bereits flächenhaft. Granit trat überall im Gelände zutage. Die Asphaltstraße lag spiegelnd vor Nässe da.
Der Fremde, der von Süden heraufgekommen war, blickte hinab in ein Tal, das sich nordwärts in Windungen verlor. Hochnebel füllte es zum größten Teil aus; es war kaum etwas zu sehen. Neben ihm stand ein Ledermann, die Straßenkarte in der Hand, und versuchte, im Nebel die Strecke wieder zu erkennen, die er gerade mit dem Motorrad heraufgefahren war. Er gab sich wie einer auf unbekanntem, vielleicht feindlichem Terrain: achtsam bis misstrauisch. Er war jung und schön und streng. Der Fremde blickte ihn an. Wenn es stimmte, dass im ersten Blickwechsel schon alles lag, was überhaupt sein konnte, so hatte ein Fremder wie er hier nur kühle Strenge zu erwarten. Wie seine Gelenke durch massive lederne Polster geschützt waren, so vielleicht auch die Schwachstellen seiner seelischen Konstitution: Das war ein großer Reiz, ja eine Versuchung. Der andere entzog sich weiteren Blicken, indem er rasch aufstieg und wegfuhr, die neue Passstraße nach Süden abwärts. Dabei überholte er noch auf der Passhöhe ein anderes Motorrad. Dessen Fahrer schien unschlüssig, wo er parken solle – die Auswahl an freien Plätzen war groß. Mehrmals kreuzte er auf seiner Suche die Spur des Fremden, der jetzt ebenso ziellos herumbummelte, wie der andere herumfuhr. Schließlich stand der eine am Ufer des Sees, der die Hochfläche zum Teil ausfüllte, und der andere hielt da an, stieg ab und nahm den Helm herunter. Sie musterten sich. Der andere war ein Vierziger ohne Glanz, ohne Geheimnis. Der Fremde wandte ihm und dem See den Rücken und folgte der Straße Richtung Süden. Alle Wolken waren jetzt über dem Pass versammelt. Er schritt unter blauem Himmel und in lauer Luft hinab und kam rasch vorwärts.
Die Talsohle lag beinahe tausend Meter tiefer als die Passhöhe. Die Straße führte in Dutzenden von Kehren hinab, eine Riesentreppe, schnell an Höhe verlierend, dennoch bequem zu fahren und zu gehen. Der Fremde benutzte den breiten Bankettstreifen, der die von den Wänden und Hängen sich lösenden Steine auffing.
Es war einer der letzten warmen Herbsttage. Schon in einer Woche konnte der Pass zugeschneit und gesperrt sein. Verödet würde dann auch diese neue, breite Straße daliegen. Alles war jetzt von gewisser Eile geprägt: die Rückfahrt später Sommerurlauber aus dem Süden, das Treiben weiterer Wolkenfetzen hoch über ihm auf den Pass zu – Nachzügler oder Vorhut, das würde sich zeigen -, seine eigenen raschen Schritte … In beide Richtungen verkehrten noch immer zahlreiche Motorräder. Hastig preschten die Fahrer die geraden Abschnitte hinauf, sausten sie hinunter, fuhren die Kurven sorgsam und regelrecht und doch ohne Zeitverlust aus. Nur noch einmal wollten sie über die Pässe jagen, ehe die Saison zu Ende ging.
Sie jagten auch an ihm vorbei. Blickwechsel war da ausgeschlossen. Nahmen sie überhaupt Notiz von seiner Gestalt am Rand der Piste? Er allerdings sah sie lange schon vor oder lange noch nach dem Zeitpunkt, zu dem sie an ihm vorüberzischten. All die vielen Terrassen unter ihm boten sie immer aufs Neue seinem Blick dar, immer größer oder kleiner werdende Figuren. Eine strenge Gesetzmäßigkeit entfaltete sich, wie er sie liebte. Niemals hatte ihn ihr fliehender Anblick so sehr befriedigt, und es war gut, dass es zu desillusionierenden Begegnungen gar nicht erst kommen konnte.
Fast alle Fahrer waren solo, und fast immer grüßten zwei sich aufmerksam, wenn sie aneinander vorbeifuhren. Diese Handbewegung, eine nachdrückliche, eine vertrauliche Geste, war ebenso absurd wie symbolhaft.
Der Fremde allein sah sie jeweils beide, wenn sie sich grüßten, sah sie für einen Moment in ihrer abweisend gepanzerten Aufmachung sich scheinbar näher kommen. Sie selbst konnten nicht aus sich heraustreten, und jeder fand im Bild des anderen nur sich selbst gespiegelt. Nur der Fremde genoss dieses Schauspiel von Identität und Fremdheit wirklich und ganz. War es am Ende nur für ihn bestimmt?
Der Fremde ließ Glas und Hülle auf dem Tisch liegen und ging zum Fenster. Von dort kam jetzt ein Geräusch wie von Wespen oder Hornissen, böse und aufgeregt, es war ja September. Er spähte durch die engmaschige Gardine. Da unten war ein großer städtischer Parkplatz. Das Geräusch rührte von vier Motorrädern her, die gerade im Schatten großer, blühender Oleanderbüsche zum Stillstand kamen. Vier junge Männer stiegen rasch ab. Zwei von ihnen fuhren leichte geländegängige, die anderen beiden größere Straßenmaschinen. Alle hatten ihre Motorräder mit fest verschnürtem Reisegepäck beladen. Der Fahrer der mittelschweren Straßenmaschine stach durch seine rot-weiße Lederkombi ins Auge. Er erinnerte den Fremden sogleich an jene Gattung von Grashüpfern, die im Flug blitzschnell ihre scharlachroten Flügel aufklappen. Alle vier wirkten unruhig, quecksilbrig, eine Folge ihrer gut überstandenen Fahrt oder der neuen Umgebung. Sie mussten noch sehr jung sein. Der Größte von ihnen fuhr ein japanisches Fabrikat mit elf- oder zwölfhundert Kubikzentimetern, eine von diesen Mordmaschinen. Er trug eine schwarze Lederkombi, und aus dem offen stehenden Oberteil leuchtete ein pinkfarbenes T-Shirt heraus. Er war von allen der beweglichste und unruhigste.
Schon nahm der Fremde Anteil an ihnen. Er unterschied sie und wünschte, sie noch genauer betrachten und unterscheiden zu können. Lag nicht das Fernglas bereit? Er zögerte nicht lange. Bedenkenlos richtete er es auf die vier da unten – und die Szene verwandelte sich zum Erstaunen. Die Farben leuchteten nun viel stärker, das freche Pink, das aggressive Rot, selbst das düstere Schwarz. Die Körper wirkten auf einmal plastisch, und im beweglichen Spiel dieser Körper war nun erst wirkliches Leben. So betrachtet man einen Wassertropfen unter dem Mikroskop und entdeckt mit einem Mal das Gewimmel der Infusorien.
Ihre Mimik war ihm vorher verborgen geblieben, jetzt sah er sie lächeln. Sie fühlten sich so sicher – was sie sagten und wie sie sich dabei bewegten, es war nur für die Ohren, die Augen der drei anderen bestimmt. Gute Laune, gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen, Vertraulichkeit, all das bestimmte jetzt ihr Verhältnis zueinander, und es drückte sich unmittelbar in der Sprache ihrer Körper aus. Sie fachsimpelten, wie es schien. Wenn einer sprach, wandte er sich abwechselnd einer der Maschinen und dem Trio der Freunde zu.
Der große Kräftige in der einheitlich schwarzen Montur und dem pinkfarbenen Leibchen hatte sehr kurze blonde Haare, eigentlich bloß helle Stoppeln auf dem runden Schädel, und einen ebenfalls sehr kurzen blonden Vollbart. Es fiel dem Fremden allmählich auf, dass er im Verlauf ihrer Unterhaltung regelmäßig die gleichen sonderbaren Bewegungen ausführte. Die Hand ruhte gern auf der Brust, da wo das Herz schlägt, und es war deutlich zu sehen, wie er immer wieder die Brustwarze befühlte. Beim Reden fand dieselbe Hand wiederholt, entlang der Ledermontur, den Weg hinab zum Geschlecht, und er versagte es sich nicht, sie auch dort kurz und dennoch nachdrücklich ruhen zu lassen. Diese Geste hatte etwas Herausforderndes. Den Fremden amüsierte sein Balzverhalten.
Endlich formierten sie sich zum Abmarsch in die Stadt, die vier im munteren Gespräch, nebeneinander in einer Reihe. Nur füreinander hatten sie Augen und Ohren und achteten gar nicht auf das, was sie umgab. Der Fremde sah sie ungern weggehen. Immerhin behielt er ein Bild von ihnen im Kopf.
Am Abend desselben Tages ging er in den Mailänder Hof. Von allen Gasthöfen der kleinen Stadt hatte dieser die beste Küche. Ob man sich dort allerdings auch gut bedient fühlte, hing vom Dienstplan des Personals ab. An diesem Abend hatte er Pech: Die angenehme Blondine – sie war wohl eine Einheimische – grüßte ihn freundlich von der Bar her, als er am Fenster Platz nahm. Und da nahte die andere schon, die hagere Italienerin, eine Zigarette rauchend, nicht um nach seinen Wünschen zu fragen – es war ihre Art, bloß stumm neben dem Gast Posten zu beziehen und sich dann die Bestellung wortlos zu notieren. So sehr sie mit Worten geizte, so beredt waren Miene und Haltung. Diese ließen keinen Zweifel daran, dass sie es als bitteres Unrecht empfand, im fremden Land in öffentlichen Speisehäusern Fremde bedienen zu müssen. Mit allen Anzeichen lebenslanger Verbitterung schrieb sie den Hirschpfeffer und das Übrige auf und trat den Gang zur Küche an, als wäre es ihr allerschwerster. Bald darauf brachte sie Suppe und Mineralwasser und servierte mit dem Ausdruck mühsam unterdrückter Empörung. Der Fremde hatte sich indessen im Verlauf mehrerer Abende bereits an dieses Schauspiel gewöhnt, wie es sonst nur Galeerensträflinge in historischen Filmen bieten, und ließ sich die Suppe schmecken.
Die Italienerin entfernte sich ein wenig und lehnte dann, immer noch rauchend, am freien Nachbartisch. Sie beobachtete jetzt mit kaum verhohlener Ungeduld ein älteres Ehepaar, das in der Nähe die Weinkarte ausgiebig studierte. Die wollten sich wohl einen schönen Abend machen, es sich etwas kosten lassen, die Ahnungslosen! Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Prompt kam sie dann mit dem Wein und öffnete die Flasche nach den Regeln ihrer Kunst. Sie stand dabei im Gang zwischen des Fremden Tisch und demjenigen des Ehepaares, die Weinflasche gegen den linken Oberschenkel gepresst, das andere Bein rückwärts abgespreizt. Plötzlich eine Erschütterung – fast wäre seine Suppe übergeschwappt. Der Rückstoß infolge der Hebelwirkung war sehr heftig gewesen und sie mit dem Fuß gegen seinen Tisch gestoßen, wobei der Rock das Bein weit hinauf entblößte. Für einige Sekunden bot sich dem Fremden der Anblick eines nackten Frauenschenkels, den er überraschend wohl geformt fand.
Verwirrt sah er nach der Bar hinüber, suchte den Blick der anderen. Die Strahlen ihrer selbstbewussten Güte erreichten ihn jetzt nicht, sie war dort drüben seit längerem in ein Gespräch mit Gästen vertieft. Da saß an der Schmalseite der Bar ein junges Paar eng beisammen, während ein anderer die ganze Länge des Tresens für sich beanspruchte. Wie es schien, stritt das Paar mit dem Einzelnen oder zankte ihn aus, und die blonde Barfrau vermittelte zwischen den Parteien; stockte das Gespräch, entfachte sie das Feuer mit einem aufstachelnden Wort auf Neue. Dem jungen Mann quollen dicke blonde Locken ins Genick, das er trotzig gegen den breiten Kragen seiner schwarzen Lederjacke schob. Der Blick des Fremden glitt an ihm herab, wie er da auf dem Barhocker saß und ihm den Rücken kehrte: Er trug auch eine Hose von schwarzem Leder. Beim Reden versuchte er sich zurückzulehnen, um Selbstbewusstsein zu zeigen oder vorzutäuschen; der Rücken fand indessen keine Lehne, und so sackte der Oberkörper mit dem vollen Gewicht auf den rechten Arm und rutschte mit diesem in weit ausholender Bewegung den Tresen entlang, noch weiter fort von dem Paar und der Barfrau. Wenn er sich wieder aufrichtete, konnte der Fremde für einige Augenblicke sein Profil betrachten. Er war noch sehr jung und nicht mehr vollkommen nüchtern.
Der Fremde verstand nicht, worüber sie stritten, denn sie verständigten sich im Dialekt. Umso beredter war die Pantomime, die sie ihm boten. Das Paar hänselte den Burschen, wobei sie vorgaben, sein raues Auftreten ängstige sie, nur um sich, wenn er noch dicker auftrug, noch mehr erheitern zu können. Gleichzeitig kitzelte der Rest von Unberechenbarkeit, der in ihm steckte, die beiden auf sehr angenehme Weise. Die Barfrau nahm scheinbar Partei für sie, doch neigte sie in Wahrheit ihm zu. Mit Absicht schien sie ihn, der ihr sympathisch war, ins Unrecht setzen zu wollen, doch nur um sich an seinen Explosionen zu ergötzen. Er, der Provinzledertyp, spielte den Macker und glaubte gar nicht daran. Gleichzeitig spürte er etwas in sich, das tief unter dem falschen Gehabe lag und wiederum damit zusammenhing, etwas, vor dem er sich fürchtete und das doch die einzige Quelle seines Selbstvertrauens war.
Eine blonde Bestie, dachte der Fremde, da haben wir Nietzsches blonde Bestie, und zwar in einer Rummelbudenversion. Auch während des Hauptgerichtes sah er ab und zu hinüber: fasziniert. Beim Nachtisch stand der Bursche auf und verabschiedete sich umständlich und treuherzig. Die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende Bestie musste nun gehen und zusehen, dass sie den Zwanzig-Uhr-Zug nicht verpasste.
Nun wollte der Fremde zahlen. Er zumindest war hier auf seine Kosten gekommen. Schon stand die Italienerin am Tisch und rechnete mit ihm ab. Dann wühlte sie mit Ingrimm in der großen Börse, um sein Wechselgeld herauszuholen, und stieß dabei mit dem Ellbogen den Brotkorb vom Tisch. Zwei Scheiben Brot, die übrig geblieben waren, lagen neben dem Korb. Da unterbrach sie ihr Scharren, sammelte auf, was heruntergefallen war, legte die Brotscheiben zurück in den Korb, stellte ihn an seinen früheren Platz und gab jetzt das Wechselgeld heraus. Bei alledem blieb sie stumm wie gewöhnlich. Er gab ein kleines Trinkgeld, und sie bedankte sich auch dieses Mal nicht. So hatte sie es vom ersten Abend an gehalten, und dennoch gab er ihr immer wieder eine kleine Summe. Eines Tages würde sie doch danke sagen, und am Tag darauf würde er abreisen.
Er stand nun immer öfter am Fenster seines Hotelzimmers und lernte den Ausblick erst jetzt schätzen, den Ausblick, der ihm so viele Einblicke verschaffte, seitdem er sich das Fernglas ungeniert zunutze machte. Skrupel irgendeiner Art verspürte er nicht. Er sagte sich, dass er, der Fremde, die Unbekannten dort unten keineswegs bei verborgenen Handlungen beobachte, sondern doch nur betrachte, wie sie sich öffentlich gäben. Ihr alltägliches, banales Auftreten, ihr gewohnheitsmäßiges Mienenspiel, die selbstvergessenen Bewegungen ihrer Körper, all das zu registrieren, verschaffte ihm großes Vergnügen. Es war der Reiz einer neuartigen Perspektive, der den Erscheinungen Frische und Plastizität zurückgab. Außerdem hätte er die Unbekannten aus größerer Nähe niemals derart intensiv betrachten können, es hätte ihre Reaktionen sogleich verändert. Er schuf also mit dem Fernglas eine Versuchsanordnung, bei dem der störende Einfluss des Experimentierenden ausgeschaltet war. Er hatte sich selbst eliminiert.
Er war sich darüber im Klaren, dass er dieses Spiel nur gegenüber gänzlich Fremden betreiben konnte. Man sagte ihm doch zu Recht nach, er sei überaus empfindsam und extrem taktvoll, und er vermied es sonst stets, Freunde oder Bekannte in peinlichen Situationen zu beobachten. Bei diesen Gelegenheiten war er scheinbar nicht mehr anwesend – um nicht mitfühlen oder sich später erinnern zu müssen, so verhielt es sich nämlich in Wahrheit. Hier bestand jetzt keine Beziehung zwischen ihm, dem Beobachter, und den Objekten seines Interesses. Sein Interesse blieb folgenlos. Er hatte keine Verantwortung für das, was er sah, und konnte daher in aller Ruhe durch das Fernglas schauen. Was er aufnahm, kam einem ästhetischen Gewinn ohne Einsatz gleich.
Und wieder einmal gelang es ihm, eine Gruppe von Motorradfahrern in ihrem Verhalten zu studieren. Kurz hintereinander trafen drei Männer Anfang dreißig ein. Es waren Einheimische. Das schloss er daraus, dass ihre Maschinen den Schriftzug des örtlichen Händlers trugen: Bärenfaller. Vielleicht hatten sie verabredet, sich nach ihrem Acht-Stunden-Tag hier auf dem Parkplatz zu treffen und noch rasch auf einen der Pässe zu fahren, ehe es Nacht wurde. Sie stiegen nur kurz ab, entledigten sich der Helme, überprüften ihre Maschinen und starteten dann gemeinsam, als alle drei beisammen waren. Es waren schwere Maschinen, keine unter neunhundert Kubikzentimeter. Die Verkleidungen waren außerordentlich phantasievoll lackiert: gelb-grün oder rosa-violett. Auch gab es wieder das beliebte Rot-Schwarz. Die Farbflächen griffen in vielfach zerfransten Linien ineinander. Nicht weniger imposant war das Gepränge ihrer Rüstungen, ein Mosaik von schwarzem und farbigem Leder, von Leder und Metall, von Polstern und Noppen und Nieten … Indessen wirkten die Köpfe, wenn sie die Helme abnahmen, ziemlich ernüchternd: Gesichter, die man sich nicht merken konnte, bartlos, blässlich.
Ein Erinnerungssplitter drang ihm ins Bewusstsein. Es war noch in Berlin gewesen, die Zeit mit Rosi. Auf einer ihrer verrückten Fêten hatte sie den langen Studenten – Max war sein Name gewesen, er sah das Gesicht jetzt deutlich vor sich – sehr provozierend gefragt: „Sag mal, warum sind Motorradfahrer meistens so unattraktiv?“ Und Max, der selbst eines fuhr und gerade keine Schönheit war, hatte ihr ganz trocken geantwortet: „Schon mal was von Kompensation gehört?“
Der Fremde war nahe daran, das Fernglas wegzulegen. Das waren ja ernste, gesetzte Vertreter der staatstragenden Mittelschichten. Sie wussten sich zu beherrschen; ausgeschlossen, dass sie sich Blößen gäben. Es schien fast so, als wüssten sie, scharf beobachtet zu werden. Sie begrüßten sich kühl, sprachen nur das Nötigste und bewegten sich weder zu langsam noch hastig. Zweckmäßig war alles, was sie taten und wie sie es taten. Was aber war der Zweck ihrer Ausfahrt? Immerhin boten sie einen auf unbestimmte Weise erhebenden Anblick, als sie, die unbedeutenden Köpfe und Körper perfekt verkleidet und gewappnet, davonbrausten. Möglich, dass man bloß erleichtert war.
Indessen bemerkte er da noch zwei junge Männer auf dem Parkplatz, die den Abfahrenden sehnsüchtig nachsahen. Sie waren dabei, ihre Wagentüren zu öffnen, und zögerten jetzt. Es waren hübsche Mannsbilder, Mitte zwanzig, Charakterköpfe im Vergleich zu denen, die ihre Blicke auf sich zogen. Gut sahen sie aus, doch sie schienen in diesem Augenblick mit sich unzufrieden, so als ob sie sich anders zu sehen wünschten. Die Verfinsterung hielt nur kurz an, dann entspannten sich ihre Züge. Sie grüßten einander und stiegen in ihre Autos und fuhren auch weg.
Am vorletzten Tag im Gebirge ging er auf einen der Pässe. Er benutzte den alten Saumweg, auf dem Kriegs- und Handelsleute jahrhundertelang nach Italien gezogen waren; er war seit langem verödet.
In der Nacht hatte es geschneit, jetzt war über allem blauer Himmel. Die blendend überstäubten Zinnen und Grate hoben sich so scharf von der Himmelsbläue ab, dass es den Augen wehtat. Dennoch war es schön, sehr schön sogar, vielleicht der schönste Tag auf der gesamten Reise.
Beim Aufstieg dachte er an seine Lektüre vom vergangenen Abend, Prosa von Hofmannsthal. Eine Stelle beschäftigte ihn stark. Der Dichter schrieb da, für ihn sei nicht die Umarmung, sondern die Begegnung die wahre erotische Pantomime. Und er ging noch weiter: Die Begegnung – gemeint war wohl der frische visuelle Kontakt – sei der Umarmung an seelischem Gehalt weit überlegen, da sie so viel mehr verspreche, als die Umarmung dann halten könne. Genauso hatte er selbst es seit einer Reihe von Jahren immer deutlicher empfunden. Was aber blieb einem, wenn man das so klar sah: Der Blick war dann schon das Wesentliche, war alles, und auf die Umarmung verzichtete man besser von vornherein. Der Blick vermittelte Bilder, die man in ihrer Schönheit isoliert bewahren und betrachten konnte. Ja, es kam eigentlich nur auf die Bilder an, sie waren der einzige Ertrag der Begegnungen. Und dann war es nur noch ein Schritt und man war so weit, sich diese Bilder zu verschaffen, ohne Begegnungen herbeizuführen. Der isolierte Blick konnte einem auch die Bilder schenken, die Bilder, die man nicht entbehren konnte.
Während des Aufstieges kamen mehr und mehr Wolken von Italien herüber. Auf der Passhöhe sah er über sich einen Himmel wie von Marmor, mit Lichtadern darin. Hier oben lag noch der Neuschnee der vergangenen Nacht, doch schmolz er bereits flächenhaft. Granit trat überall im Gelände zutage. Die Asphaltstraße lag spiegelnd vor Nässe da.
Der Fremde, der von Süden heraufgekommen war, blickte hinab in ein Tal, das sich nordwärts in Windungen verlor. Hochnebel füllte es zum größten Teil aus; es war kaum etwas zu sehen. Neben ihm stand ein Ledermann, die Straßenkarte in der Hand, und versuchte, im Nebel die Strecke wieder zu erkennen, die er gerade mit dem Motorrad heraufgefahren war. Er gab sich wie einer auf unbekanntem, vielleicht feindlichem Terrain: achtsam bis misstrauisch. Er war jung und schön und streng. Der Fremde blickte ihn an. Wenn es stimmte, dass im ersten Blickwechsel schon alles lag, was überhaupt sein konnte, so hatte ein Fremder wie er hier nur kühle Strenge zu erwarten. Wie seine Gelenke durch massive lederne Polster geschützt waren, so vielleicht auch die Schwachstellen seiner seelischen Konstitution: Das war ein großer Reiz, ja eine Versuchung. Der andere entzog sich weiteren Blicken, indem er rasch aufstieg und wegfuhr, die neue Passstraße nach Süden abwärts. Dabei überholte er noch auf der Passhöhe ein anderes Motorrad. Dessen Fahrer schien unschlüssig, wo er parken solle – die Auswahl an freien Plätzen war groß. Mehrmals kreuzte er auf seiner Suche die Spur des Fremden, der jetzt ebenso ziellos herumbummelte, wie der andere herumfuhr. Schließlich stand der eine am Ufer des Sees, der die Hochfläche zum Teil ausfüllte, und der andere hielt da an, stieg ab und nahm den Helm herunter. Sie musterten sich. Der andere war ein Vierziger ohne Glanz, ohne Geheimnis. Der Fremde wandte ihm und dem See den Rücken und folgte der Straße Richtung Süden. Alle Wolken waren jetzt über dem Pass versammelt. Er schritt unter blauem Himmel und in lauer Luft hinab und kam rasch vorwärts.
Die Talsohle lag beinahe tausend Meter tiefer als die Passhöhe. Die Straße führte in Dutzenden von Kehren hinab, eine Riesentreppe, schnell an Höhe verlierend, dennoch bequem zu fahren und zu gehen. Der Fremde benutzte den breiten Bankettstreifen, der die von den Wänden und Hängen sich lösenden Steine auffing.
Es war einer der letzten warmen Herbsttage. Schon in einer Woche konnte der Pass zugeschneit und gesperrt sein. Verödet würde dann auch diese neue, breite Straße daliegen. Alles war jetzt von gewisser Eile geprägt: die Rückfahrt später Sommerurlauber aus dem Süden, das Treiben weiterer Wolkenfetzen hoch über ihm auf den Pass zu – Nachzügler oder Vorhut, das würde sich zeigen -, seine eigenen raschen Schritte … In beide Richtungen verkehrten noch immer zahlreiche Motorräder. Hastig preschten die Fahrer die geraden Abschnitte hinauf, sausten sie hinunter, fuhren die Kurven sorgsam und regelrecht und doch ohne Zeitverlust aus. Nur noch einmal wollten sie über die Pässe jagen, ehe die Saison zu Ende ging.
Sie jagten auch an ihm vorbei. Blickwechsel war da ausgeschlossen. Nahmen sie überhaupt Notiz von seiner Gestalt am Rand der Piste? Er allerdings sah sie lange schon vor oder lange noch nach dem Zeitpunkt, zu dem sie an ihm vorüberzischten. All die vielen Terrassen unter ihm boten sie immer aufs Neue seinem Blick dar, immer größer oder kleiner werdende Figuren. Eine strenge Gesetzmäßigkeit entfaltete sich, wie er sie liebte. Niemals hatte ihn ihr fliehender Anblick so sehr befriedigt, und es war gut, dass es zu desillusionierenden Begegnungen gar nicht erst kommen konnte.
Fast alle Fahrer waren solo, und fast immer grüßten zwei sich aufmerksam, wenn sie aneinander vorbeifuhren. Diese Handbewegung, eine nachdrückliche, eine vertrauliche Geste, war ebenso absurd wie symbolhaft.
Der Fremde allein sah sie jeweils beide, wenn sie sich grüßten, sah sie für einen Moment in ihrer abweisend gepanzerten Aufmachung sich scheinbar näher kommen. Sie selbst konnten nicht aus sich heraustreten, und jeder fand im Bild des anderen nur sich selbst gespiegelt. Nur der Fremde genoss dieses Schauspiel von Identität und Fremdheit wirklich und ganz. War es am Ende nur für ihn bestimmt?