Damals, in jenen stürmischen Zeiten, waren wir achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Gleich nach der Schule zogen wir in eine richtige Großstadt. Wir hatten bis dahin noch nichts von der Welt gesehen, nur unseren Provinzwinkel. Jahrelang am Gymnasium dem Abitur entgegengeschlafen - und jetzt probierten wir Rollen aus. K. warf sich aufs dramatische Fach. Sein Lieblingsbild war "Die Freiheit führt das Volk" von Delacroix, sein liebstes Zitat: "Ist erst der Vatermord geschehen, dann tanzen sie um die Leiche." Ich neigte eher zum Elegischen, und zwar mit strafendem Unterton. Man sollte merken, dass ich Karl Kraus kannte.
K. dachte sich Pseudonyme auf Vorrat aus und schloss seine Briefe mit "Venceremos". Ich antwortete ihm einmal: Die Dummheit wird siegen. Wenn wir uns drei Tage nicht sehen konnten, schickten wir uns Briefe, deren Hauptthema die von uns geplante Zeitschrift war. Wir dachten sie uns so ähnlich wie die Schülerzeitung, nur auf eine uns unklare Weise bedeutender. Noch stritten wir über den Titel: "Human", wie von ihm vorgeschlagen, oder nach meiner Idee "Die APOkalypse"?
Um dies und ähnlich Wichtiges mit mir zu besprechen, bestellte er mich in den Hof der Universität. Ich war zehn Tage fort gewesen und staunte, als ich ihn sah. Er hatte endlich die Marotten seiner Schulzeit aufgegeben: dunkler Anzug, Krawatte, Stockschirm und Melone. Jetzt trug er lauter buntes, schlabberiges Wollzeug. Die fahlen Rot- und Grüntöne standen ihm zwar nicht, doch wenn die Freiheit das Volk zur Revolution führt, darf man nicht wie ein englischer Börsenmakler aussehen.
K. sagte, wir müssten die Erörterung des Namens unserer Zeitschrift verschieben. "Es gibt Wichtigeres, eine Veranstaltung im Audimax. Maihofer spricht, das heißt, er will sprechen, man wird ihn daran hindern. Jetzt geht es los, es geht los!" Dabei hüpfte er auf einem Bein, als läge die Leiche des Vaters schon auf dem Hofpflaster.
Im Audimax tagte seit Stunden die Vollversammlung. Maihofer sollte sein Referat nicht dort, sondern in einem Hörsaal halten. Die rasch wechselnden Redner im Audimax ereiferten sich wegen der gestrigen Vorfälle von Heidelberg. Wir verstanden nicht genau, was geschehen war. Walter Krause spielte offenbar wieder eine unrühmliche Rolle, Krause, der Sozialdemokrat. Er war Minister in Stuttgart. Prophezeit hatte er es den Studenten schon: "Ihr werdet die Fäuste der Arbeiter zu spüren bekommen!" Nun waren keine Arbeiter, sondern Polizisten handgreiflich geworden. Dagegen musste man sich verwahren, man musste sich solidarisieren, Resolutionen fassen.
Die Versammlung endete in einem Tumult. Ein Wirbel in den Gängen und er führte wie eine Polonäse zu jenem Hörsaal, in dem Maihofer erwartet wurde. Studenten betraten das Podium, diskutierten öffentlich. Darüber traf der verspätete Professor ein. Er stand damals am Anfang seiner ruhmreichen politischen Karriere und war nicht mehr Rektor in Saarbrücken. Er wollte über "Die gesellschaftliche Funktion des Rechts" sprechen.
Professor F., ein wenig übereifrig, stieß den studentischen Redner vom Podium, um es unverzüglich dem Gast übergeben zu können. Man protestierte lautstark. Maihofer zog seine gewöhnliche Flappe und wollte beginnen. Da trat Student B. vor und forderte, er solle nur einige Thesen skizzieren, anschließend werde man dann über die Vorfälle in Heidelberg diskutieren. Maihofer, seine Flappe beibehaltend, war nicht erbaut. Er schlug vor, die Diskussion dem ungekürzten Vortrag anzuhängen. Der Dekan trat ans Mikrophon und regte an, im Saal abzustimmen. Die Mehrheit wollte Maihofer nur kurze Redezeit gewähren. Daraufhin verließen alle Ordinarien den Saal.
Die radikale Mehrheit drängte ihnen nach, wir beide mittendrin. Schon verließ die brodelnde Menge das Gebäude mit unbekanntem Ziel. Maihofer (mit unveränderter Flappe, weitere mimische Ausdrucksmöglichkeiten standen ihm nicht zu Gebot) führte die Prozession an. Die Professorenschaft bildete den Schweif des Kometen. In der verfolgenden Hundertschaft hieß es: "Wir stellen sie im juristischen Seminar!" Es befand sich außerhalb vom Campus, einige Straßen weiter. Maihofer wandte eine List an, mit der keiner gerechnet hatte: Er verschwand mit den Kollegen in einer Weinstube. Dahin wollten ihm die Studenten nicht folgen. War je ein Weinlokal besetzt worden?
Man hielt am Seminar als Ziel der Aktion fest. Wenn es nicht möglich war, mit dem scheißliberalen Professor zu diskutieren, so besetzte man eben das kampflos überlassene Terrain. Freilich hatte da eine Verschiebung des Begriffs Ziel stattgefunden, von der Ebene der Handlung ins Räumliche hinüber. Doch auf solche Finessen konnte die sich entfaltende und jetzt einfach abrollende Spontaneität keine Rücksicht nehmen.
Von kampfloser Einnahme konnte keine Rede sein. Die im Seminar anwesenden Studenten und Assistenten waren gewarnt. Schon am Eingang kam es zu hässlichen Szenen. Die Verteidiger waren in der Minderheit und gaben bald die Treppe zur Bibliothek frei. Professor F., ewig lächelnd, auch jetzt noch, versuchte mit einem Scherzwort die Lage zu wenden. Doch von Späßen, die in Weinstuben oder an anderen unseriösen Orten enden konnten, hatte man genug - man warf den Professor einfach in die Luft. Binnen kurzem war die Front begradigt. Alle Reaktionäre waren nun hinter der Glaswand, die die Bibliothek vom Treppenhaus trennte. Vor ihr stauten sich die Eingedrungenen.
Zufall oder nicht - K. und ich, wir befanden uns in vorderster Linie, genau vor der Glastür, die gerade einer vom SDS mit dem Dietrich öffnete. Hinter uns drückte die Menge nach. Eile tat Not, die Polizei war sicher unterwegs. Alles kam darauf an, dass wir beide uns in den winzigen Türspalt drängten. Wir sahen uns an, zögerten - und die Sache war entschieden. Die Verteidiger zogen im selben Augenblick die Tür zu sich heran und schlossen sie erneut ab. Zwar ging noch eine Glasscheibe zu Bruch, doch die Besetzer fluteten bereits zurück. Zehn Minuten später waren wir alle wieder im Audimax und bereiteten neue Aktionen vor.
K. und ich, wir vermieden es, über die fehlgeschlagene Besetzung miteinander zu reden. Am Ende des Semesters verließ ich die Universität und die Stadt. Ich sah K. nur noch selten, dann gar nicht mehr. Wir wechselten noch Briefe. Eines Tages schrieb er mir, er sei aus dem SDS ausgetreten und jetzt Redakteur einer trotzkistischen Zeitschrift. Er schloss: "Ich habe erreicht, was wir wollten, das heißt, was ich wollte."
K. dachte sich Pseudonyme auf Vorrat aus und schloss seine Briefe mit "Venceremos". Ich antwortete ihm einmal: Die Dummheit wird siegen. Wenn wir uns drei Tage nicht sehen konnten, schickten wir uns Briefe, deren Hauptthema die von uns geplante Zeitschrift war. Wir dachten sie uns so ähnlich wie die Schülerzeitung, nur auf eine uns unklare Weise bedeutender. Noch stritten wir über den Titel: "Human", wie von ihm vorgeschlagen, oder nach meiner Idee "Die APOkalypse"?
Um dies und ähnlich Wichtiges mit mir zu besprechen, bestellte er mich in den Hof der Universität. Ich war zehn Tage fort gewesen und staunte, als ich ihn sah. Er hatte endlich die Marotten seiner Schulzeit aufgegeben: dunkler Anzug, Krawatte, Stockschirm und Melone. Jetzt trug er lauter buntes, schlabberiges Wollzeug. Die fahlen Rot- und Grüntöne standen ihm zwar nicht, doch wenn die Freiheit das Volk zur Revolution führt, darf man nicht wie ein englischer Börsenmakler aussehen.
K. sagte, wir müssten die Erörterung des Namens unserer Zeitschrift verschieben. "Es gibt Wichtigeres, eine Veranstaltung im Audimax. Maihofer spricht, das heißt, er will sprechen, man wird ihn daran hindern. Jetzt geht es los, es geht los!" Dabei hüpfte er auf einem Bein, als läge die Leiche des Vaters schon auf dem Hofpflaster.
Im Audimax tagte seit Stunden die Vollversammlung. Maihofer sollte sein Referat nicht dort, sondern in einem Hörsaal halten. Die rasch wechselnden Redner im Audimax ereiferten sich wegen der gestrigen Vorfälle von Heidelberg. Wir verstanden nicht genau, was geschehen war. Walter Krause spielte offenbar wieder eine unrühmliche Rolle, Krause, der Sozialdemokrat. Er war Minister in Stuttgart. Prophezeit hatte er es den Studenten schon: "Ihr werdet die Fäuste der Arbeiter zu spüren bekommen!" Nun waren keine Arbeiter, sondern Polizisten handgreiflich geworden. Dagegen musste man sich verwahren, man musste sich solidarisieren, Resolutionen fassen.
Die Versammlung endete in einem Tumult. Ein Wirbel in den Gängen und er führte wie eine Polonäse zu jenem Hörsaal, in dem Maihofer erwartet wurde. Studenten betraten das Podium, diskutierten öffentlich. Darüber traf der verspätete Professor ein. Er stand damals am Anfang seiner ruhmreichen politischen Karriere und war nicht mehr Rektor in Saarbrücken. Er wollte über "Die gesellschaftliche Funktion des Rechts" sprechen.
Professor F., ein wenig übereifrig, stieß den studentischen Redner vom Podium, um es unverzüglich dem Gast übergeben zu können. Man protestierte lautstark. Maihofer zog seine gewöhnliche Flappe und wollte beginnen. Da trat Student B. vor und forderte, er solle nur einige Thesen skizzieren, anschließend werde man dann über die Vorfälle in Heidelberg diskutieren. Maihofer, seine Flappe beibehaltend, war nicht erbaut. Er schlug vor, die Diskussion dem ungekürzten Vortrag anzuhängen. Der Dekan trat ans Mikrophon und regte an, im Saal abzustimmen. Die Mehrheit wollte Maihofer nur kurze Redezeit gewähren. Daraufhin verließen alle Ordinarien den Saal.
Die radikale Mehrheit drängte ihnen nach, wir beide mittendrin. Schon verließ die brodelnde Menge das Gebäude mit unbekanntem Ziel. Maihofer (mit unveränderter Flappe, weitere mimische Ausdrucksmöglichkeiten standen ihm nicht zu Gebot) führte die Prozession an. Die Professorenschaft bildete den Schweif des Kometen. In der verfolgenden Hundertschaft hieß es: "Wir stellen sie im juristischen Seminar!" Es befand sich außerhalb vom Campus, einige Straßen weiter. Maihofer wandte eine List an, mit der keiner gerechnet hatte: Er verschwand mit den Kollegen in einer Weinstube. Dahin wollten ihm die Studenten nicht folgen. War je ein Weinlokal besetzt worden?
Man hielt am Seminar als Ziel der Aktion fest. Wenn es nicht möglich war, mit dem scheißliberalen Professor zu diskutieren, so besetzte man eben das kampflos überlassene Terrain. Freilich hatte da eine Verschiebung des Begriffs Ziel stattgefunden, von der Ebene der Handlung ins Räumliche hinüber. Doch auf solche Finessen konnte die sich entfaltende und jetzt einfach abrollende Spontaneität keine Rücksicht nehmen.
Von kampfloser Einnahme konnte keine Rede sein. Die im Seminar anwesenden Studenten und Assistenten waren gewarnt. Schon am Eingang kam es zu hässlichen Szenen. Die Verteidiger waren in der Minderheit und gaben bald die Treppe zur Bibliothek frei. Professor F., ewig lächelnd, auch jetzt noch, versuchte mit einem Scherzwort die Lage zu wenden. Doch von Späßen, die in Weinstuben oder an anderen unseriösen Orten enden konnten, hatte man genug - man warf den Professor einfach in die Luft. Binnen kurzem war die Front begradigt. Alle Reaktionäre waren nun hinter der Glaswand, die die Bibliothek vom Treppenhaus trennte. Vor ihr stauten sich die Eingedrungenen.
Zufall oder nicht - K. und ich, wir befanden uns in vorderster Linie, genau vor der Glastür, die gerade einer vom SDS mit dem Dietrich öffnete. Hinter uns drückte die Menge nach. Eile tat Not, die Polizei war sicher unterwegs. Alles kam darauf an, dass wir beide uns in den winzigen Türspalt drängten. Wir sahen uns an, zögerten - und die Sache war entschieden. Die Verteidiger zogen im selben Augenblick die Tür zu sich heran und schlossen sie erneut ab. Zwar ging noch eine Glasscheibe zu Bruch, doch die Besetzer fluteten bereits zurück. Zehn Minuten später waren wir alle wieder im Audimax und bereiteten neue Aktionen vor.
K. und ich, wir vermieden es, über die fehlgeschlagene Besetzung miteinander zu reden. Am Ende des Semesters verließ ich die Universität und die Stadt. Ich sah K. nur noch selten, dann gar nicht mehr. Wir wechselten noch Briefe. Eines Tages schrieb er mir, er sei aus dem SDS ausgetreten und jetzt Redakteur einer trotzkistischen Zeitschrift. Er schloss: "Ich habe erreicht, was wir wollten, das heißt, was ich wollte."