10. Marlene Häusler (2)
Der Sozialkontrolle ihrer Eltern war Marlene Häusler entzogen, denn in ihrer geräumigen Wohnung lebte lediglich noch ihr Bruder. Ihr Vater hauste weit weg in einem Vorort von München. Ihre Mutter war schon gestorben, als sie ungefähr zehn Jahre alt war. So konnte sie ungegängelt von elterlichen Beobachtern tun und lassen, was sie wollte, und Raimund musste sich nicht mit elterlichen Obwaltern auseinandersetzen, wenn er bei ihr war.
Hingegen unterstand Raimund zuhause der Sozialkontrolle seiner Eltern. Eine Zusammenkunft mit einem weiblichen Wesen musste unbemerkt geschehen, sonst hätten sich seine Eltern eingemischt und ein vertrautes tête à tête zu verhindern versucht, denn zu solchem Beisammensein sei zuvor zu heiraten, woran erst mit einem gediegenen, angesehenen Beruf zu denken sei. So waren die spießbürgerlichen Vorschriften der Eltern, die eine unglückliche, darum pseudokatholische, Ehe führten. Für Raimund kein verlockendes Beispiel solcher Lebensführung.
Von solchen elterlichen Spießbürgern überwacht zu werden, die ihm ihre engstirnige Lebensführung aufdrücken wollten, das war freilich ein Zustand der Unfreiheit, der nicht hinnehmbar war. Darum sann Raimund auf einen Ausweg, sich der Sozialkontrolle seiner Überwacher zu entziehen, indem er aus dem Familienhaus ausgezogen wäre. Doch dieses Vorhaben zu verwirklichen, hatte einige Hindernisse und Bedenklichkeiten, die alle zu überwinden waren.
Dass Raimund dem Elternhaus entwichen wäre, war nicht vorgesehen in den Vorstellungen seiner Eltern. Es war genug Platz im Haus. Dass ein Mensch seine selbständige Lebensführung braucht ab einem bestimmten Alter, wenn er seelisch gesund sein will, das war den Eltern nicht in den Sinn gekommen. Überhaupt, dass Kinder ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen leben wollen, diese Grundeinsicht aller Pädagogik war ihnen anscheinend auch unbekannt, obgleich sie Akademiker waren.
Einfach wäre das Problem gelöst, hätte Raimund genügend Geld, um sich eine Eigentumswohnung zu kaufen. Aber das Geld hatte er nicht. So war zu überlegen, wie er an Geld käme. Hätte er zu diesem Behuf eine Erwerbsarbeit angenommen, so wäre er abhängig von demjenigen, der ihn bezahlte. Er wäre nur von der einen finanziellen Abhängigkeit der Eltern in die andere eines Arbeitgebers geraten. Er hätte sich mit einer Arbeit abplagen müssen und auf diese Weise wäre er zu erschöpft und hätte außerdem gar keine Zeit mehr, um sich mit einem Mädchen zu vergnügen. Da er keine besondere Ausbildung außer Abitur hatte, würde er keine besonders einträgliche Arbeit bekommen. Zudem empfand er Arbeiten als langweilig. Also war das kein gangbarer Weg. Irgendwie musste er die Eltern bewegen, ihn finanziell zu unterstützen, um getrennt von ihnen zu leben.
Sein Phlegma beließ das Problem, wie es war. Und er litt. Hörte er von anderen, die sich frei gemacht hatten vom Elternhaus, bedrückte ihn deren erfolgreiche Geschicklichkeit, ein solches Problem gelöst zu haben, umso mehr, weil es ihm nicht gelingen wollte von seinen Überwachern loszukommen. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, wie das Problem angegangen werden konnte. Wie die literarische Gestalt Oblomow vom russischen Schriftsteller Gontscharow lag er im Bett, zog die Decke über sich und wälzte sich von einer Seite auf die andere und versuchte zu schlafen. Darüber hinaus las er, beschäftigte sich mit Theorien, mit Philosophie und Literatur und beließ alles beim Alten in seiner Oblomowerei. Da er bedrückt war, suchte er sich immer mal wieder ein wenig Glück zu machen mit Masturbation oder mit einer Droge, die ihm sein Bruder Bernhard überließ.
So lebte er dahin und die Tage vergingen träge und langsam und nichts änderte sich. Während seiner halbjährigen Wartezeit, um Betriebswirtschaft zu studieren, konnte er sich nicht aufschwingen mal in eine Philosophievorlesung zu gehen, wie ihm so manche Leute empfohlen hatten. Auch Freunde, mit denen er sich treffen hätte können, hatte er keine und fand auch keine, weil ihm niemand zusagte. Die einzigen, mit denen er befreundet war, war Ulrike F. und Marlene Häusler. Diese beiden waren seine einzige sachte Freude, die er hatte. Auf der anderen Seite bedrückten ihn seine Fehlungen, weshalb ihm Bea entzogen war. Wäre sie nur da, dann würde er mit ihr alles lösen, musste er denken.
So war er ununterbrochen depressiv. Wenn die Qual zu groß war, rief er Marlene an. Er klagte ihr sein Leid, dass er so bedrückt und schwermütig sei. Sie erbarmte sich seiner und vertröstete ihn auf abends, wo er sie besuchen könne. Tagsüber nahm sie sich selten Zeit für ihn.
Die Aussicht auf das abendliche Stelldichein war ein Hoffnungsschimmer, dem er im Dauerlesen entgegenwartete. Wieder würde er die Freude haben, Marlene streicheln zu dürfen und seine Phantasie anzuregen. Er würde wieder für eine Weile gute Gefühle haben. So froh und dankbar war er über Marlenes entgegenkommen, dass ihn die Einseitigkeit der Zärtlichkeit nicht im Mindesten störte. Die hübsche Marlene gab sich mit ihm, dem schwammig aufgedunsenen Versager ab. Das war eine Freundlichkeit, die er zu schätzen wusste. Dass er Marlene liebte, konnte er nicht sagen, denn er liebte sie nicht so umfassend ohne irgendwelche Abstriche wie Bea. Und trotzdem gab sie sich mit ihm ab und ließ sich von ihm berühren.
Freilich hätte er sein drängendes sexuelles Unbehagen gerne mal wieder in einem Koitus mit einem weiblichen Wesen ruhig gestellt. Er überlegte schon, ob er sich an eine Prostituierte wenden sollte und dafür bezahlen. Der Prostituierten ginge es nur um sein Geld. Sie würde möglichst schnell mechanisch eine Triebabfuhr besorgen, damit sie ihre Ruhe vor ihm hätte. Er würde sich der Prostituierten gegenüber wertlos machen, weil er sie dafür bezahlte, dass sie sich mit ihm abgab. Entwertet, müsste er sich selbst verachten. Seine Selbstachtung also hielt ihn davon ab, diesen falschen Weg einzuschlagen. Und er schaffte sich durch Masturbieren wieder einen kühlen Kopf. Das war das geringere Übel. Außerdem wie stünde er vor Marlene und Ulrike und anderen Mädchen da, wenn er ein Hurenbock geworden wäre. Die schändlichen Erlebnisse würden sich unauslöschlich in ihm einprägen, sie würden ihn quälen, und er müsste sich dafür schämen. Kurzum er hatte Angst zu versauen, wenn er zu Prostituierten ginge, darum unterließ er diesen Schritt der Not. Der bessere Weg war die Mühe, eine Freundin zu finden, mit der alle sexuellen Wünsche gemeinsam gelebt werden konnten. Auch in der Bibel waren Warnungen vor käuflichem Sex zu lesen, die ihm zu denken gaben.
So dachte er an Bea, an Marlene, an Ulrike, an Susy, an Myriam und an Monika F., wenn ihn die Wollust überkam, und er begnügte sich mit diesen Vorstellungen, wenn er sich eigenhändig entlastete. Er war sowieso schon ein wenig versaut, weil er mehrere Sexualobjekte hatte, weil er sich nicht nur mit Bea in seiner Phantasie begnügte, wie es eigentlich richtig gewesen wäre, sagte ihm sein Gewissen.
Die Besuche bei Marlene verliefen jedes Mal ähnlich. In ihrem indischen Kleid erwartete sie ihn an der Tür. Zur Begrüßung gaben sie sich die Hand. Dann geleitete sie ihn in die Wohnküche, wo sie schwarzen Tee tranken, der auf einem kunstvollen Stövchen warm gehalten wurde. Auch die Teeschalen hatten alternativen Stil. Raimund bemühte sich, seine, wie ihm vorkam, spärlichen Gedanken hervorzukramen. Er sprach über seine Schwermut, was wohl die Ursache davon sein könnte. Hier berührte er die leidliche Geschichte mit Bea, mit der eine Zusammenkunft aussichtslos erschien. Er sprach von den sexuellen Freuden, die er genossen hatte, allerdings mit anderen Mädchen als mit Bea zu seinem Bedauern. - Was er einmal beruflich machen wollte, darüber war er völlig ratlos. Außer der Beruf des Schriftstellers wollte ihm nichts zusagen. Auch Marlene wusste, was Gelderwerb betraf, keinen Rat. Sie gab Flöten- und Klavierunterricht, wusste darüber hinaus auch nicht, womit sie ihren Lebensunterhalt erwerben könnte, denn ihre eigenen Einkünfte reichten nicht aus, so dass sie auf den zusätzlichen Unterhalt von ihrem Vater angewiesen war. So waren sie beide in der gleichen ratlosen Situation. Doch hatten beide die unbestimmte Hoffnung, dass sich das Problem irgendwie beheben werde.
Raimund und Marlene gingen allmählich die Gedanken aus, immer wieder trat Schweigen ein, während Raimund verstohlen Marlenes Leiblichkeit mit Blicken abtastete und sich davon angenehm gereizt fühlte und phantasierte, diesen Leib zu berühren und zu streicheln. Er dachte daran, dass dazu die Gelegenheit am besten Marlenes Zimmer böte, wagte es aber nicht dergleichen Vorschlag zu machen. Marlene, die Raimunds inneres Sinnen zu bemerken schien, fragte ihn in dieser Situation immer, woran er denke. Raimund wagte es nicht, seine Gedanken zu offenbaren. Stattdessen antwortete er gedrechselt von Gefühlen und Zärtlichkeit im Allgemeinen. Es war dann immer Marlene, die vorschlug den Raum zu wechseln und in ihr Zimmer zu gehen. Darauf hatte er immer gewartet, selbst zu feige, solchen Vorschlag zu machen.
Hier in Marlenes Zimmer fläzten sie sich auf Marlenes brauner Bettcouch. Vom Bettzeug war nichts zu sehen. Hier ging das Gespräch weiter, wobei Raimund mit Mühe Gedanken für Gedanken hervorziehen musste, denn sein Leben war gegenwärtig so erlebnisarm, dass es ihm Mühe bereitete, das Gespräch aufrecht zu erhalten. Er war abgelenkt von Marlenes Wölbungen, von denen er wusste, dass sie nicht von einem Büstenhalter eingebunden waren, eine reizvolle Freiheit, die er besonders schätzte. Er wagte es auch, Marlene dafür zu loben und zu bestärken. Seine sachten Zärtlichkeiten, zu denen er sich getrieben fühlte, waren so nicht behindert von jenem Hilfsmittel weiblicher Eitelkeit und Konvention. Marlene genoss, was Raimund ihr gewährte. Freilich sprachen sie davon, Gewagteres zu unternehmen, doch war sich Marlene zu unsicher zu diesem Schritt. Da Raimund ehrlichen Herzens nicht sagen konnte, dass er Marlene liebte, er mochte und schätzte sie, war Intimeres wahrhaftiger Weise nicht angebracht. Er musste ja nicht immer denselben Fehler machen wie früher. Es kam auch nie zu einem Kuss zwischen ihm und Marlene. Das wäre ja ein Zeichen für Liebe gewesen, die ehrlicher Weise nicht im allumfassenden Sinn vorhanden war.
Auch Marlene hatte eine Liebe ähnlich wie Raimund. Allerdings hatte sie noch Zugang zu ihm. Ähnlich wie bei Raimunds einzigartiger Liebe blieb der beiden Zuneigung unerklärt und in unausgesprochener Schwebe. So wie Raimund kaum etwas von Bea erzählte, machte auch Marlene kaum Mitteilungen über diesen Einen, den sie liebte. So wusste Raimund nichts Genaueres von ihm. Vermutlich weil ihre Liebe noch offen war, war Marlene stets frohgemut und von nachdenklicher Heiterkeit. Anders Raimund, auf dem die traurige Schwermut des Aussichtslosen lastete.
Im Frühling kam es vor, dass sie nachmittags beide einen Spaziergang im Sendlinger Wald machten. Hier leitete sie Raimund auf den erinnerungsträchtigen Wegen aus vergangenen Zeiten. Die Orte und Plätze dieses Haines waren für ihn mit den unterschiedlichsten Erinnerungen belegt. Frohsinnige, aber auch unangenehme Assoziationen stellten sich ein. Darüber hätte er Marlene berichten können, wenn die Erlebnisse verarbeitet gewesen wären. So aber lasteten sie alle auf seinem Gemüt. Das neubeginnende Frühlingsgrün der Bäume und Sträucher vermochte ihn kaum aus seiner Trauer über sein verfehltes Leben herauszureißen.
Sie sprachen über die Zukunft, über die berufliche Zukunft. Er, Raimund, hatte mit Betriebswirtschaft begonnen, was ihn verdross. Er hätte sich lieber mit Philosophie befasst im Studium. So las er zuhause im Bett vor allem philosophische Werke, wohingegen er die betriebswirtschaftlichen Bücher vernachlässigte. Seine falsche Wahl, die er getroffen, damit sein Vater zufrieden war, verdross ihn. Er müsse etwas studieren, das Aussicht auf ein Einkommen habe. Philosophie sei eine Lumperei, so meinte sein Vater. Er mochte recht haben. Mit Philosophie ließ sich kein Geld machen. So sehr er sich auch den Kopf zermarterte, eine Möglichkeit Geld einzunehmen, sah er bei Philosophie nicht auffindbar. Und doch interessierte er sich nur für Philosophie.
Marlene klagte er sein Leid. Sie hatte Verständnis. Auch ihre Interessen zogen nicht gerade Geld nach sich. Die Musik. Ein weiteres verwandtes Interesse war die Eurhythmie. So übte sie sich in anmutiger Bewegung. Sie meinte, vielleicht könne sie Eurhythmielehrerin werden. Raimund dachte insgeheim, dass diese Kunst finanziell nicht viel bringen würde, ohne sich zu äußern, weil er Marlene nicht frustrieren wollte. Beide waren in ihren mehr auf Vorstellung, Gefühl und Phantasie angelegten Interessen auf der Verliererseite in dieser Realität, wo andere handfeste Fähigkeiten hochbezahlt und gefragt waren. Immerhin gehörte Marlene nicht zu den konformistischen Realisten, die sich anpassten, sich mit ihrer Spießerkleidung identifizierten und sich in ihrem Tun großartig vorkamen, weil ihnen das Geld recht zu geben schien. Sie waren beide mehr Idealisten. Der Geist und das Gefühl standen im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Gegenständlichkeiten und käuflicher Tand fanden keine Beachtung. Beide waren irgendwie ratlos, was ihren künftigen finanziellen Unterhalt betraf. So waren sie in ihren Problemen und ihrem Denken wesensverwandt.
Der Sozialkontrolle ihrer Eltern war Marlene Häusler entzogen, denn in ihrer geräumigen Wohnung lebte lediglich noch ihr Bruder. Ihr Vater hauste weit weg in einem Vorort von München. Ihre Mutter war schon gestorben, als sie ungefähr zehn Jahre alt war. So konnte sie ungegängelt von elterlichen Beobachtern tun und lassen, was sie wollte, und Raimund musste sich nicht mit elterlichen Obwaltern auseinandersetzen, wenn er bei ihr war.
Hingegen unterstand Raimund zuhause der Sozialkontrolle seiner Eltern. Eine Zusammenkunft mit einem weiblichen Wesen musste unbemerkt geschehen, sonst hätten sich seine Eltern eingemischt und ein vertrautes tête à tête zu verhindern versucht, denn zu solchem Beisammensein sei zuvor zu heiraten, woran erst mit einem gediegenen, angesehenen Beruf zu denken sei. So waren die spießbürgerlichen Vorschriften der Eltern, die eine unglückliche, darum pseudokatholische, Ehe führten. Für Raimund kein verlockendes Beispiel solcher Lebensführung.
Von solchen elterlichen Spießbürgern überwacht zu werden, die ihm ihre engstirnige Lebensführung aufdrücken wollten, das war freilich ein Zustand der Unfreiheit, der nicht hinnehmbar war. Darum sann Raimund auf einen Ausweg, sich der Sozialkontrolle seiner Überwacher zu entziehen, indem er aus dem Familienhaus ausgezogen wäre. Doch dieses Vorhaben zu verwirklichen, hatte einige Hindernisse und Bedenklichkeiten, die alle zu überwinden waren.
Dass Raimund dem Elternhaus entwichen wäre, war nicht vorgesehen in den Vorstellungen seiner Eltern. Es war genug Platz im Haus. Dass ein Mensch seine selbständige Lebensführung braucht ab einem bestimmten Alter, wenn er seelisch gesund sein will, das war den Eltern nicht in den Sinn gekommen. Überhaupt, dass Kinder ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen leben wollen, diese Grundeinsicht aller Pädagogik war ihnen anscheinend auch unbekannt, obgleich sie Akademiker waren.
Einfach wäre das Problem gelöst, hätte Raimund genügend Geld, um sich eine Eigentumswohnung zu kaufen. Aber das Geld hatte er nicht. So war zu überlegen, wie er an Geld käme. Hätte er zu diesem Behuf eine Erwerbsarbeit angenommen, so wäre er abhängig von demjenigen, der ihn bezahlte. Er wäre nur von der einen finanziellen Abhängigkeit der Eltern in die andere eines Arbeitgebers geraten. Er hätte sich mit einer Arbeit abplagen müssen und auf diese Weise wäre er zu erschöpft und hätte außerdem gar keine Zeit mehr, um sich mit einem Mädchen zu vergnügen. Da er keine besondere Ausbildung außer Abitur hatte, würde er keine besonders einträgliche Arbeit bekommen. Zudem empfand er Arbeiten als langweilig. Also war das kein gangbarer Weg. Irgendwie musste er die Eltern bewegen, ihn finanziell zu unterstützen, um getrennt von ihnen zu leben.
Sein Phlegma beließ das Problem, wie es war. Und er litt. Hörte er von anderen, die sich frei gemacht hatten vom Elternhaus, bedrückte ihn deren erfolgreiche Geschicklichkeit, ein solches Problem gelöst zu haben, umso mehr, weil es ihm nicht gelingen wollte von seinen Überwachern loszukommen. Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, wie das Problem angegangen werden konnte. Wie die literarische Gestalt Oblomow vom russischen Schriftsteller Gontscharow lag er im Bett, zog die Decke über sich und wälzte sich von einer Seite auf die andere und versuchte zu schlafen. Darüber hinaus las er, beschäftigte sich mit Theorien, mit Philosophie und Literatur und beließ alles beim Alten in seiner Oblomowerei. Da er bedrückt war, suchte er sich immer mal wieder ein wenig Glück zu machen mit Masturbation oder mit einer Droge, die ihm sein Bruder Bernhard überließ.
So lebte er dahin und die Tage vergingen träge und langsam und nichts änderte sich. Während seiner halbjährigen Wartezeit, um Betriebswirtschaft zu studieren, konnte er sich nicht aufschwingen mal in eine Philosophievorlesung zu gehen, wie ihm so manche Leute empfohlen hatten. Auch Freunde, mit denen er sich treffen hätte können, hatte er keine und fand auch keine, weil ihm niemand zusagte. Die einzigen, mit denen er befreundet war, war Ulrike F. und Marlene Häusler. Diese beiden waren seine einzige sachte Freude, die er hatte. Auf der anderen Seite bedrückten ihn seine Fehlungen, weshalb ihm Bea entzogen war. Wäre sie nur da, dann würde er mit ihr alles lösen, musste er denken.
So war er ununterbrochen depressiv. Wenn die Qual zu groß war, rief er Marlene an. Er klagte ihr sein Leid, dass er so bedrückt und schwermütig sei. Sie erbarmte sich seiner und vertröstete ihn auf abends, wo er sie besuchen könne. Tagsüber nahm sie sich selten Zeit für ihn.
Die Aussicht auf das abendliche Stelldichein war ein Hoffnungsschimmer, dem er im Dauerlesen entgegenwartete. Wieder würde er die Freude haben, Marlene streicheln zu dürfen und seine Phantasie anzuregen. Er würde wieder für eine Weile gute Gefühle haben. So froh und dankbar war er über Marlenes entgegenkommen, dass ihn die Einseitigkeit der Zärtlichkeit nicht im Mindesten störte. Die hübsche Marlene gab sich mit ihm, dem schwammig aufgedunsenen Versager ab. Das war eine Freundlichkeit, die er zu schätzen wusste. Dass er Marlene liebte, konnte er nicht sagen, denn er liebte sie nicht so umfassend ohne irgendwelche Abstriche wie Bea. Und trotzdem gab sie sich mit ihm ab und ließ sich von ihm berühren.
Freilich hätte er sein drängendes sexuelles Unbehagen gerne mal wieder in einem Koitus mit einem weiblichen Wesen ruhig gestellt. Er überlegte schon, ob er sich an eine Prostituierte wenden sollte und dafür bezahlen. Der Prostituierten ginge es nur um sein Geld. Sie würde möglichst schnell mechanisch eine Triebabfuhr besorgen, damit sie ihre Ruhe vor ihm hätte. Er würde sich der Prostituierten gegenüber wertlos machen, weil er sie dafür bezahlte, dass sie sich mit ihm abgab. Entwertet, müsste er sich selbst verachten. Seine Selbstachtung also hielt ihn davon ab, diesen falschen Weg einzuschlagen. Und er schaffte sich durch Masturbieren wieder einen kühlen Kopf. Das war das geringere Übel. Außerdem wie stünde er vor Marlene und Ulrike und anderen Mädchen da, wenn er ein Hurenbock geworden wäre. Die schändlichen Erlebnisse würden sich unauslöschlich in ihm einprägen, sie würden ihn quälen, und er müsste sich dafür schämen. Kurzum er hatte Angst zu versauen, wenn er zu Prostituierten ginge, darum unterließ er diesen Schritt der Not. Der bessere Weg war die Mühe, eine Freundin zu finden, mit der alle sexuellen Wünsche gemeinsam gelebt werden konnten. Auch in der Bibel waren Warnungen vor käuflichem Sex zu lesen, die ihm zu denken gaben.
So dachte er an Bea, an Marlene, an Ulrike, an Susy, an Myriam und an Monika F., wenn ihn die Wollust überkam, und er begnügte sich mit diesen Vorstellungen, wenn er sich eigenhändig entlastete. Er war sowieso schon ein wenig versaut, weil er mehrere Sexualobjekte hatte, weil er sich nicht nur mit Bea in seiner Phantasie begnügte, wie es eigentlich richtig gewesen wäre, sagte ihm sein Gewissen.
Die Besuche bei Marlene verliefen jedes Mal ähnlich. In ihrem indischen Kleid erwartete sie ihn an der Tür. Zur Begrüßung gaben sie sich die Hand. Dann geleitete sie ihn in die Wohnküche, wo sie schwarzen Tee tranken, der auf einem kunstvollen Stövchen warm gehalten wurde. Auch die Teeschalen hatten alternativen Stil. Raimund bemühte sich, seine, wie ihm vorkam, spärlichen Gedanken hervorzukramen. Er sprach über seine Schwermut, was wohl die Ursache davon sein könnte. Hier berührte er die leidliche Geschichte mit Bea, mit der eine Zusammenkunft aussichtslos erschien. Er sprach von den sexuellen Freuden, die er genossen hatte, allerdings mit anderen Mädchen als mit Bea zu seinem Bedauern. - Was er einmal beruflich machen wollte, darüber war er völlig ratlos. Außer der Beruf des Schriftstellers wollte ihm nichts zusagen. Auch Marlene wusste, was Gelderwerb betraf, keinen Rat. Sie gab Flöten- und Klavierunterricht, wusste darüber hinaus auch nicht, womit sie ihren Lebensunterhalt erwerben könnte, denn ihre eigenen Einkünfte reichten nicht aus, so dass sie auf den zusätzlichen Unterhalt von ihrem Vater angewiesen war. So waren sie beide in der gleichen ratlosen Situation. Doch hatten beide die unbestimmte Hoffnung, dass sich das Problem irgendwie beheben werde.
Raimund und Marlene gingen allmählich die Gedanken aus, immer wieder trat Schweigen ein, während Raimund verstohlen Marlenes Leiblichkeit mit Blicken abtastete und sich davon angenehm gereizt fühlte und phantasierte, diesen Leib zu berühren und zu streicheln. Er dachte daran, dass dazu die Gelegenheit am besten Marlenes Zimmer böte, wagte es aber nicht dergleichen Vorschlag zu machen. Marlene, die Raimunds inneres Sinnen zu bemerken schien, fragte ihn in dieser Situation immer, woran er denke. Raimund wagte es nicht, seine Gedanken zu offenbaren. Stattdessen antwortete er gedrechselt von Gefühlen und Zärtlichkeit im Allgemeinen. Es war dann immer Marlene, die vorschlug den Raum zu wechseln und in ihr Zimmer zu gehen. Darauf hatte er immer gewartet, selbst zu feige, solchen Vorschlag zu machen.
Hier in Marlenes Zimmer fläzten sie sich auf Marlenes brauner Bettcouch. Vom Bettzeug war nichts zu sehen. Hier ging das Gespräch weiter, wobei Raimund mit Mühe Gedanken für Gedanken hervorziehen musste, denn sein Leben war gegenwärtig so erlebnisarm, dass es ihm Mühe bereitete, das Gespräch aufrecht zu erhalten. Er war abgelenkt von Marlenes Wölbungen, von denen er wusste, dass sie nicht von einem Büstenhalter eingebunden waren, eine reizvolle Freiheit, die er besonders schätzte. Er wagte es auch, Marlene dafür zu loben und zu bestärken. Seine sachten Zärtlichkeiten, zu denen er sich getrieben fühlte, waren so nicht behindert von jenem Hilfsmittel weiblicher Eitelkeit und Konvention. Marlene genoss, was Raimund ihr gewährte. Freilich sprachen sie davon, Gewagteres zu unternehmen, doch war sich Marlene zu unsicher zu diesem Schritt. Da Raimund ehrlichen Herzens nicht sagen konnte, dass er Marlene liebte, er mochte und schätzte sie, war Intimeres wahrhaftiger Weise nicht angebracht. Er musste ja nicht immer denselben Fehler machen wie früher. Es kam auch nie zu einem Kuss zwischen ihm und Marlene. Das wäre ja ein Zeichen für Liebe gewesen, die ehrlicher Weise nicht im allumfassenden Sinn vorhanden war.
Auch Marlene hatte eine Liebe ähnlich wie Raimund. Allerdings hatte sie noch Zugang zu ihm. Ähnlich wie bei Raimunds einzigartiger Liebe blieb der beiden Zuneigung unerklärt und in unausgesprochener Schwebe. So wie Raimund kaum etwas von Bea erzählte, machte auch Marlene kaum Mitteilungen über diesen Einen, den sie liebte. So wusste Raimund nichts Genaueres von ihm. Vermutlich weil ihre Liebe noch offen war, war Marlene stets frohgemut und von nachdenklicher Heiterkeit. Anders Raimund, auf dem die traurige Schwermut des Aussichtslosen lastete.
Im Frühling kam es vor, dass sie nachmittags beide einen Spaziergang im Sendlinger Wald machten. Hier leitete sie Raimund auf den erinnerungsträchtigen Wegen aus vergangenen Zeiten. Die Orte und Plätze dieses Haines waren für ihn mit den unterschiedlichsten Erinnerungen belegt. Frohsinnige, aber auch unangenehme Assoziationen stellten sich ein. Darüber hätte er Marlene berichten können, wenn die Erlebnisse verarbeitet gewesen wären. So aber lasteten sie alle auf seinem Gemüt. Das neubeginnende Frühlingsgrün der Bäume und Sträucher vermochte ihn kaum aus seiner Trauer über sein verfehltes Leben herauszureißen.
Sie sprachen über die Zukunft, über die berufliche Zukunft. Er, Raimund, hatte mit Betriebswirtschaft begonnen, was ihn verdross. Er hätte sich lieber mit Philosophie befasst im Studium. So las er zuhause im Bett vor allem philosophische Werke, wohingegen er die betriebswirtschaftlichen Bücher vernachlässigte. Seine falsche Wahl, die er getroffen, damit sein Vater zufrieden war, verdross ihn. Er müsse etwas studieren, das Aussicht auf ein Einkommen habe. Philosophie sei eine Lumperei, so meinte sein Vater. Er mochte recht haben. Mit Philosophie ließ sich kein Geld machen. So sehr er sich auch den Kopf zermarterte, eine Möglichkeit Geld einzunehmen, sah er bei Philosophie nicht auffindbar. Und doch interessierte er sich nur für Philosophie.
Marlene klagte er sein Leid. Sie hatte Verständnis. Auch ihre Interessen zogen nicht gerade Geld nach sich. Die Musik. Ein weiteres verwandtes Interesse war die Eurhythmie. So übte sie sich in anmutiger Bewegung. Sie meinte, vielleicht könne sie Eurhythmielehrerin werden. Raimund dachte insgeheim, dass diese Kunst finanziell nicht viel bringen würde, ohne sich zu äußern, weil er Marlene nicht frustrieren wollte. Beide waren in ihren mehr auf Vorstellung, Gefühl und Phantasie angelegten Interessen auf der Verliererseite in dieser Realität, wo andere handfeste Fähigkeiten hochbezahlt und gefragt waren. Immerhin gehörte Marlene nicht zu den konformistischen Realisten, die sich anpassten, sich mit ihrer Spießerkleidung identifizierten und sich in ihrem Tun großartig vorkamen, weil ihnen das Geld recht zu geben schien. Sie waren beide mehr Idealisten. Der Geist und das Gefühl standen im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Gegenständlichkeiten und käuflicher Tand fanden keine Beachtung. Beide waren irgendwie ratlos, was ihren künftigen finanziellen Unterhalt betraf. So waren sie in ihren Problemen und ihrem Denken wesensverwandt.