„Ich kostete meiner Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück“, notierte Jean-Jacques Rousseau in seinen „Bekenntnissen“. Er wurde als Sohn eines Uhrmachers am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Nach schwierigen Jugendjahren und einem Vater, der mit ihm überfordert war und ihn früh zu Verwandten gab, floh er sechzehnjährig aus Genf nach Annecy, wo ihn Madame de Warens in mütterlicher Fürsorge aufnahm. Später wurde er ihr Geliebter und verbrachte mit Unterbrechungen 12 Jahre bei ihr. 1742 zog er nach Paris, stellte eine mit Zahlen operierende Notenschrift vor, die keine Anerkennung fand. In den Cafés und Salons befreundete er sich mit den Enzyklopädisten Diderot, d’Alembert, Condillac und Grimm. Als Diderot 1749 wegen religionsfeindlicher Schriften verhaftet und nach Vincennes gebracht wurde, besuchte ihn Rousseau. Unterwegs hatte er eine Erleuchtung, die zum Schlüsseldatum in der Geistesgeschichte der Moderne werden sollte. Von diesem Oktobertag an wurde Rousseau für die Aufklärung wichtig. Er verfasste seinen „Diskurs über Wissenschaft und Künste“ und stellte als erster „philosophe“ eine „Dialektik der Aufklärung“ fest: Die Wohltaten des wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts werden aufgewogen durch die zahlreichen Laster, die vom Trug des Scheins stammen. Mit dieser Kulturkritik setzte sich Rousseau von den Enzyklopädisten ab, auch von Voltaire.
Der zweite Diskurs „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ von 1759 ist die spekulative Rekonstruktion eines ursprünglichen Naturzustands, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat“. Das Böse entsteht erst, wenn der Mensch in gesellschaftliche Strukturen eingebunden wird. Er hatte zusammen mit Diderot und d’Alembert zahlreiche Artikel für die entstehende „Enzyklopädie“ geschrieben, doch nach Erscheinen der beiden Diskurse Rousseaus kam es immer mehr zu Auseinandersetzungen über die Religion, die Wissenschaften, das Wesen des Menschen und den Lauf der Geschichte. Rousseau hielt Voltaire und Diderot einen Verhängniszusammenhang von Fortschritt und Dekadenz entgegen. Hinzu kam ein soziale Komponente, vor allem in seinem „Zweiten Diskurs“ und im „Gesellschaftsvertrag“: Das Prinzip der Gleichheit, ohne das für Rousseau die Freiheit für die einzelnen Subjekte nicht gesichert werden konnte. Das hatte revolutionäres Potential und damit sahen sich nicht nur Kirche und Feudalaristokratie, sondern nicht wenige seiner Mitstreiter herausgefordert, auch der Großbürger Voltaire. Als 1761 zuerst der Erziehungsroman „Emile“ und 1763 der „Gesellschaftsvertrag“ erschien, wuchsen die Widerstände gegen Rousseau, ein Haftbefehl und lebenslanges Publikationsverbot erfolgten, der „Emile“ wurde öffentlich verbrannt. Kant im fernen Königsberg hingegen sah in Rousseau nach der Lektüre der beiden Schriften seinesgleichen. Die beiden wichtigsten Wirkungsorte für den “Contrat social” sollten Paris und Königsberg werden, praktisch in der französischen Revolution und theoretisch in Immanuel Kants Werk, in der Theorie der “Revolution der Denkart”. Kant stellte für sich fest: “Rousseau hat mich zurechtgebracht”. Das Porträt des französischen Philosophen war das einzige Bildnis in Kants Haus und hing über dem Schreibtisch des bilderarmen und beispiellosen Königsbergers. Der Verfasser des „Gesellschaftsvertrags“ war, anders als Voltaire, ein erklärter Feind der Sklaverei, des Luxus, der Ungleichheit. Die Fronten verhärteten sich im Laufe der Jahre immer mehr, die Widersprüche und Widerstände um Rousseau wuchsen.
Als er die „Bekenntnisse“ von 1764 bis 1770 schrieb, war er zumeist auf der Flucht, überall angefeindet, ausgewiesen, in Genf wurde ihm im Laufe der Jahre gleich zweimal das Bürgerrecht entzogen. In Motiers begann eine Menschenjagd, die Geistlichkeit wiegelte die Bevölkerung auf, er entging knapp einer Steinigung. Der englische Philosoph David Hume holte ihn nach England, auch dort blieb er nicht. Einige seiner früheren Weggenossen und Freunde, allen voran Voltaire, spielten ihm übel mit. 1764 sah er sich in einer achtseitigen Schrift diffamiert. Es war die vermutlich infamste Verleumdung, die jemals gegen einen Autor veröffentlicht wurde. Sie lieferte bis heute den Stoff für die moralische Entrüstung über Rousseau. Ihr Verfasser war Voltaire. Die meisten Anschuldigungen waren erfunden. Eine wog schwer: Rousseau habe seine fünf Kinder ausgesetzt, was nicht stimmte, aber er hatte sie ins Findelhaus gegeben. Damit war der Skandal perfekt. Für Rousseau wurde die widerständige Welt zu einem, wie er resigniert konstatierte, „undurchdringlichen Gebäude der Finsternis“. Der berühmteste Philosoph und Schriftsteller seiner Zeit wurde zum Außenseiter, Angst und Verfolgungswahn nahmen immer mehr Besitz von ihm.
In seinen „Bekenntnissen“ versuchte er sich durch die Preisgabe privater und intimer Details wie kein anderer Autor vor ihm zu rechtfertigen, er erteilte sich seine eigene Absolution. Er heiratete seine langjährige Lebensgefährtin Thérèse Levasseur, die auch die Mutter seiner Kinder war, zog nach Paris zurück, wurde dort offiziell geduldet und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Notenkopist. „Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, seine letzte Schrift, entstand ab 1772, die vielleicht schönste, sicher gewagteste des Genfer Philosophen. Sie hat das philosophische Leben zu ihrem Gegenstand und gipfelt in einer poetischen Darstellung des Glücks, das dieses Leben eröffnet. Die „Träumereien“ nehmen nichts zurück, sie verweisen den Leser nachdrücklich auf das „Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars“, das 1762 als Teil von „Emile“ erschienen war und Rousseau die politische Verfolgung durch die kirchlichen und weltlichen Autoritäten seiner Zeit eintrug.
Seine letzten Lebenstage verbrachte der Eremit der Aufklärung in Ermenonville, wo er am 2. Juli 1778 starb und auf einer kleinen Pappelinsel beigesetzt wurde. Hier sollte er seine letzte Ruhe nicht finden. 1794 wurden seine sterblichen Überreste ins Panthéon überführt. Dort liegen sie nun nebeneinander, seit über 200 Jahren: Voltaire und Rousseau.
Der Artikel erschien anlässlich des 300. Geburtstag von Rousseau am 26. Juni 2012 im General-Anzeiger Bonn
Der zweite Diskurs „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ von 1759 ist die spekulative Rekonstruktion eines ursprünglichen Naturzustands, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat“. Das Böse entsteht erst, wenn der Mensch in gesellschaftliche Strukturen eingebunden wird. Er hatte zusammen mit Diderot und d’Alembert zahlreiche Artikel für die entstehende „Enzyklopädie“ geschrieben, doch nach Erscheinen der beiden Diskurse Rousseaus kam es immer mehr zu Auseinandersetzungen über die Religion, die Wissenschaften, das Wesen des Menschen und den Lauf der Geschichte. Rousseau hielt Voltaire und Diderot einen Verhängniszusammenhang von Fortschritt und Dekadenz entgegen. Hinzu kam ein soziale Komponente, vor allem in seinem „Zweiten Diskurs“ und im „Gesellschaftsvertrag“: Das Prinzip der Gleichheit, ohne das für Rousseau die Freiheit für die einzelnen Subjekte nicht gesichert werden konnte. Das hatte revolutionäres Potential und damit sahen sich nicht nur Kirche und Feudalaristokratie, sondern nicht wenige seiner Mitstreiter herausgefordert, auch der Großbürger Voltaire. Als 1761 zuerst der Erziehungsroman „Emile“ und 1763 der „Gesellschaftsvertrag“ erschien, wuchsen die Widerstände gegen Rousseau, ein Haftbefehl und lebenslanges Publikationsverbot erfolgten, der „Emile“ wurde öffentlich verbrannt. Kant im fernen Königsberg hingegen sah in Rousseau nach der Lektüre der beiden Schriften seinesgleichen. Die beiden wichtigsten Wirkungsorte für den “Contrat social” sollten Paris und Königsberg werden, praktisch in der französischen Revolution und theoretisch in Immanuel Kants Werk, in der Theorie der “Revolution der Denkart”. Kant stellte für sich fest: “Rousseau hat mich zurechtgebracht”. Das Porträt des französischen Philosophen war das einzige Bildnis in Kants Haus und hing über dem Schreibtisch des bilderarmen und beispiellosen Königsbergers. Der Verfasser des „Gesellschaftsvertrags“ war, anders als Voltaire, ein erklärter Feind der Sklaverei, des Luxus, der Ungleichheit. Die Fronten verhärteten sich im Laufe der Jahre immer mehr, die Widersprüche und Widerstände um Rousseau wuchsen.
Als er die „Bekenntnisse“ von 1764 bis 1770 schrieb, war er zumeist auf der Flucht, überall angefeindet, ausgewiesen, in Genf wurde ihm im Laufe der Jahre gleich zweimal das Bürgerrecht entzogen. In Motiers begann eine Menschenjagd, die Geistlichkeit wiegelte die Bevölkerung auf, er entging knapp einer Steinigung. Der englische Philosoph David Hume holte ihn nach England, auch dort blieb er nicht. Einige seiner früheren Weggenossen und Freunde, allen voran Voltaire, spielten ihm übel mit. 1764 sah er sich in einer achtseitigen Schrift diffamiert. Es war die vermutlich infamste Verleumdung, die jemals gegen einen Autor veröffentlicht wurde. Sie lieferte bis heute den Stoff für die moralische Entrüstung über Rousseau. Ihr Verfasser war Voltaire. Die meisten Anschuldigungen waren erfunden. Eine wog schwer: Rousseau habe seine fünf Kinder ausgesetzt, was nicht stimmte, aber er hatte sie ins Findelhaus gegeben. Damit war der Skandal perfekt. Für Rousseau wurde die widerständige Welt zu einem, wie er resigniert konstatierte, „undurchdringlichen Gebäude der Finsternis“. Der berühmteste Philosoph und Schriftsteller seiner Zeit wurde zum Außenseiter, Angst und Verfolgungswahn nahmen immer mehr Besitz von ihm.
In seinen „Bekenntnissen“ versuchte er sich durch die Preisgabe privater und intimer Details wie kein anderer Autor vor ihm zu rechtfertigen, er erteilte sich seine eigene Absolution. Er heiratete seine langjährige Lebensgefährtin Thérèse Levasseur, die auch die Mutter seiner Kinder war, zog nach Paris zurück, wurde dort offiziell geduldet und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Notenkopist. „Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, seine letzte Schrift, entstand ab 1772, die vielleicht schönste, sicher gewagteste des Genfer Philosophen. Sie hat das philosophische Leben zu ihrem Gegenstand und gipfelt in einer poetischen Darstellung des Glücks, das dieses Leben eröffnet. Die „Träumereien“ nehmen nichts zurück, sie verweisen den Leser nachdrücklich auf das „Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars“, das 1762 als Teil von „Emile“ erschienen war und Rousseau die politische Verfolgung durch die kirchlichen und weltlichen Autoritäten seiner Zeit eintrug.
Seine letzten Lebenstage verbrachte der Eremit der Aufklärung in Ermenonville, wo er am 2. Juli 1778 starb und auf einer kleinen Pappelinsel beigesetzt wurde. Hier sollte er seine letzte Ruhe nicht finden. 1794 wurden seine sterblichen Überreste ins Panthéon überführt. Dort liegen sie nun nebeneinander, seit über 200 Jahren: Voltaire und Rousseau.
Der Artikel erschien anlässlich des 300. Geburtstag von Rousseau am 26. Juni 2012 im General-Anzeiger Bonn