Über sie schreiben bedeutet zunächst, innere Bedenken über Bord zu werfen und das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit – wenigstens vorübergehend – zum Schweigen zu bringen, denn nicht nur, dass dies viele bereits lange vor mir unternommen hätten, – daran ist nichts Ungewöhnliches -, jedoch gelang dies – Schreiben über Karoline von Günderrode – einer der ganz großen Autorinnen – Christa Wolf – Jahre zuvor in ihrem Essay „Der Schatten eines Traums“ – wie mit jedem Stoff, dessen sie sich annimmt – auf solch vollendete Weise, die es allen Nachfolgenden schwer macht, dem weiteres hinzuzufügen. Ich hatte lange gezögert, jenen großartigen Essay mehrmals gelesen, – wie alles von Christa Wolf es verdient, mehrmals gelesen zu werden, schon weil sich der darin enthaltene Gedankenreichtum schwerlich mit einem Male erfassen lässt -, nicht nur mit Interesse, auch mit gewissem Vergnügen, wie immer, wenn ich meine eigenen Sympathien oder auch Antipathien für einzelne Charaktere durch andere geteilt weiß.
Die Günderrode. Ein tragisches Leben, ein tragisches Schaffen und ein tragisches Ende, welches uns zweihundert Jahre später Lebende, Schaffende, das Ende zumeist noch nicht ins Auge Fassende, nicht unberührt lassen kann, – nicht unberührt lassen darf. Die wohlmeinende Warnung im Gedächtnis, sich als Autorin, die sich ihren Weg erst suchen muss, möglichst nicht gerade diejenigen zu Vorbildern zu wählen, die ihrem Leben vorzeitig selbst ein Ende setzten, mich jedoch zu jenen zählend, die ihre Inspiration von vielerlei Seiten beziehen, worunter sich – die zahlreichen noch Lebenden ausgenommen – die Zahl derer, die den Freitod wählten, zumindest die Waage hält mit der jener, die allem trotzend mitunter steinalt wurden -, wollte ich eigentlich zunächst über die Bettine schreiben.
Bettine, die für mich immer den erfrischenden Gegenpol bildete, – Bettine, die Unkonventionelle, die sich bereits zu Zeiten, in denen solches bedeutend mehr Mut erforderte als heute, keinen Deut um die Ansichten und Vorurteile ihrer Kreise scherte, die sich das freie Denken als Letzte hätte verbieten lassen, und die dies unumwunden kundtat, auch auf die Gefahr hin, zu nerven, – und sie nervte so manchen Zeitgenossen! -, Bettine, die es sich nicht hätte einfallen lassen, zu kapitulieren, die jedem Rückschlag und jeder Zurückweisung nach kürzester Zeit ein Jetzt-erst-recht! entgegenzusetzen wusste. Ihre vorübergehende Kapitulation vor den Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft war nur eine vermeintliche, – eine Zeit, in der sie sich regelrecht in jener Rolle eingerichtet zu haben schien, die ihr von eben dieser Gesellschaft zugemessen wurde, in der sie mit beachtlicher Energie ein Gut bewirtschaftete, sieben Kinder gebar und aufzog, die alle – nicht selbstverständlich in jenen Jahren! – das Erwachsenenalter erreichten, – um sich danach unversehrt zurückzumelden und in der Verfolgung ihrer sich selbst gesetzten Lebensziele dort fortzufahren, wo sie sich in jungen Jahren zur Unterbrechung derselben genötigt sah. Bettine, unbeirrt den Faden wieder aufnehmend, schreibend, veröffentlichend, das Berliner Salonleben prägend und in ihrem sozialen und politischen Engagement geradezu Kopf und Kragen riskierend. An sie habe ich mich stets geklammert, sie hervor gezerrt, – abergläubisch die Namensgleichheit beschwörend, – mit deren Mut, deren Unerschrockenheit ausgestattet sein, damit wäre gut leben! Wenn die Welt nicht passt, in die man hineingeboren wurde, sich einfach eine neue schaffen, – ob diese anderen nun gefällt oder nicht, – ein vorstellbarer Weg.
Sich hingegen mit ihrer um fünf Jahre älteren Freundin Karoline, der vermeintlich Gescheiterten, die so ganz anderen Gemütes war, zu befassen, kostet Überwindung. Da ist die Trauer, die einen verstummen lassen möchte. Eine junge Dichterin und Philosophin beendet ihr Leben – sechsundzwanzigjährig – aus freiem Willen.
Als ich auf dem weitläufigen Friedhof in Winkel am Rhein den Weg zu ihrem Grab erfrage, weist mir eine sichtlich belesene Frau die Richtung, – es liegt etwas abseits an der Mauer -, ja, sie habe viel von der Günderrode gelesen, sie spricht über die Ereignisse, als habe sich alles erst vor Kurzem zugetragen; es scheint sie persönlich sehr zu beschäftigen. Ihr sei auch lange nicht klar gewesen, bekennt sie, dass die Günderrode sich ja gar nicht ertränkt habe, wie manche annähmen, da man sie unten am Rhein, halb im Wasser liegend, gefunden hatte, – stattdessen ein gezielter, mit Präzision von eigener Hand durchgeführter Dolchstoß, der zum Tode führte. Keine sehr weibliche Art, sich umzubringen, – in der Tat! Mit einem Dolch, über lange Zeit stets in der Handtasche mit sich geführt, – auch nicht gerade ein typisch weibliches Utensil.
Vor dem Gedenkstein stehend, stellt sich auch bei mir ein Gefühl von fassungsloser Betroffenheit ein. Der lange Zeitraum scheint sich zusammenzuziehen, keine Rolle mehr zu spielen. Lese die Inschrift:
Erde, du meine Mutter, und du mein Ernährer, der Lufthauch,
Heilges Feuer mir Freund, und du, o Bruder, der Bergstrom,
Und mein Vater der Äther, ich sage euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank; mit euch hab’ ich hienieden gelebt,
Und ich gehe zur andern Welt, euch gerne verlassend,
Lebt wohl denn, Bruder und Freund, Vater und Mutter, lebt wohl!
Ihre letzten Worte, – nicht ganz ihre eigenen -, vielmehr Verse aus „Abschied des Einsiedlers“ von Herder, welche sie, so nimmt man an, aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hatte. Auf einem Blatt Papier, in ihrem Zimmer zurückgelassen, in welchem sie sich während eines Besuchs bei einer Freundin in Winkel aufhielt. Endstation eines Lebens, in dem, um es mit heutigen Worten auszudrücken, nichts mehr stimmte. Eines an äußeren und inneren Beschränkungen wundgestoßenen Lebens. Als Frau und Dichterin keine Chance auf ein von Gunst und Wohlwollen anderer unabhängiges Leben. Weder in ihrem Leben, noch in ihrem Schaffen. Von der Liebe ganz zu schweigen. Betrogen um ihr Erbe, – zwar ausreichend versorgt, allerdings nicht so, als dass es zu einer Mitgift für eine Ehe gereicht hätte -, stets in dem erniedrigenden Bewusstsein, letztlich von Almosen abhängig zu sein. Von Freunden verehrt, jedoch selten verstanden, in entscheidenden Momenten entweder zur Ikone stilisiert oder mit gönnerhafter Herablassung bedacht. Das „Günderrödchen“. Ihr beachtliches dichterisches und philosophisches Schaffen gleichermaßen schmeichelnd bewundert und neidvoll heruntergespielt. Anerkennung hatte es glücklicherweise bereits gefunden, bevor sie als Autorin persönlich öffentlich in Erscheinung trat. Sie hatte zunächst unter dem Pseudonym Tian veröffentlicht, was auf einen männlichen Verfasser schließen ließ, hinter dem niemand so ohne weiteres gerade sie, die Sanfte, die schüchtern Wirkende, vermutete.
Als es schließlich bekannt wurde, kam, was kommen musste: Man neidete ihr das Talent, zerriss sich die Mäuler, versuchte ihr Werk kleinzureden, – aber man hatte ja bereits zugegeben, zugeben müssen, dass ihre Lyrik beachtlich war, reich an gedanklicher Fülle und sprachlicher Schönheit, – also umschmeichelte man sie, ließ sich gerne mit ihr sehen, schätzte sie als kluge Gesellschafterin, Unterhalterin, Ratgeberin und Freundin, sonnte sich in ihrer Gegenwart, – wusste man sich im schlimmsten Fall gar nicht mehr zu helfen, überhöhte man sie zur Heiligen, die sie nicht sein wollte. Als Frau mit allen Bedürfnissen einer Frau wollte man sie nicht sehen, – sie, die sich selbst unbestimmt zerrissen zwischen Mann und Frau wiederfand, keiner Seite wirklich zugehörig. Auch hiermit setzte sie sich auseinander, – sprach es offen aus. Sich verstellen, sich verstecken hinter Lügen und faulen Kompromissen war ihre Sache nicht. Voraussetzung für ein lebbares Leben bedeutete ihr ein Streben nach größtmöglicher Authentizität, nach höchstmöglicher Übereinstimmung von Denken, Fühlen, Handeln und Schaffen. Ein Anspruch, an dem sie letztlich zerbrach.
Die Erfahrung von Vergeblichkeit und Entfremdung, wie Christa Wolf es ausdrückte:
„Kein Ort. Nirgends“. Die fiktive Begegnung Karoline von Günderrodes mit Heinrich von Kleist. Schauplatz: Winkel, im Sommerhaus der Brentanos. Ich suche es auf. Ein langgezogener Barockbau, Eingang zur Hofseite, in der Toreinfahrt eines jener inzwischen veralteten, dreieckig-rotumrandeten Warnschilder, auf dem ein schwarzer Mann mit Hut auf weißem Grund den Zebrastreifen überquert, ein Glas in der Hand hinzu gezeichnet – Symbol des Weingutbesitzers! – darunter eine Tafel mit dem Aufdruck: „Baron kreuzt!“ Man scheint im Hause Brentano mit Humor ausgestattet. Vom Hof aus erstreckt sich in Richtung Rhein ein parkähnlicher Garten mit Kletterspalieren, einem Brunnen und steinernen Skulpturen. Alles wirkt still und verwunschen, – eine Oase, aus alter Zeit hinübergerettet, inmitten des vom Verkehrslärm reichlich gebeutelten Ortes. „Besichtigung nach Anfrage möglich“, steht auf dem Schild an der Tür, aber ich weiß nicht, ob ich anfragen, ob ich es wirklich besichtigen möchte, oder ob ich mir nicht lieber die Bilder aus meiner Vorstellungskraft bewahren will. Mit etwas Phantasie wäre es denkbar, dass sich sogleich die Tür öffnet und die Gesellschaft aus jenen Tagen heraustritt, um sich auf ihren Spaziergang zu begeben. Clemens Brentano und Sophie Mereau, Friedrich Karl von Savigny und Gunda Brentano, Christian Nees von Esenbeck und dessen Frau Lisette, geborene Mettingh, Karolines Freundin aus Frankfurter Stiftstagen. Allen voran die quirlige Bettine. Kleist, von dem nicht gewiss überliefert ist, ob er diesen Ort in Wirklichkeit je besuchte. Und nicht zuletzt Karoline von Günderrode, des Öfteren in Winkel zu Gast.
Der Rheingau, – die Sommerfrische der Frankfurter Gesellschaft und was sich so dafür hielt. Von Charakter und Schönheit der Umgebung, die ich aus Bettines brieflichen Schilderungen so lebendig vor Augen habe, scheint weniges erhalten. Das Ufer verbaut, Ortschaft reiht sich an Ortschaft, – Lärm durch Industrie und Verkehr erschlägt alle Bemühungen, sich vorzustellen, wie es hier vor zwei Jahrhunderten ausgesehen haben mag. Die Orte selbst sind touristisch überlaufene, Übelkeit erzeugende Albträume; durch die als malerisch bezeichneten Gassen von Eltville, Rüdesheim und Assmannshausen wälzen sich Tag für Tag grölende Horden wein- und schunkelseliger Busreisender, offensichtlich im Bemühen, sich die verflossene Rheinromantik mittels Promille zurückzuholen. Erst etwas weiter nördlich, bei Lorch und Kaub, wo das Mittlere Rheintal sich zunehmend verengt, die Berge zum Ufer hin steiler abfallen, weniger Bausünden zulassend, lässt sich auf Wanderwegen wie dem Rheingauer Rieslingpfad zwischen altem Weinland, Gärten und jungen Eichenwäldern eine Ahnung der einstigen Beschaulichkeit wiederbeleben, finden sich noch stille Seitentäler und Schluchten mit den munteren Bächen, die den Felsen des Taunus entspringen, erschließen sich immer wieder verträumte Aussichten auf den Strom und dessen andere Uferseite mit den bewaldeten Höhenzügen des Hunsrücks und auf stolze Burgen als stumme Zeugen alter, jedoch selten friedlicherer Tage.
Bedeutend schwieriger noch, das alte Frankfurt, wo Karoline von Günderrode aus Gründen ihrer Mittellosigkeit in einem Stift für unverheiratete, adelige Fräulein lebte, inmitten seiner Bankenviertel und Wolkenkratzer auszumachen. Grotesk mutet selbst das wiedererrichtete Goethehaus zwischen den ansonsten unsäglich hässlichen Betonklötzen an, – die ganze Stadt traurig überspitztes Symbol für die Gesellschaft, unter der gerade Karoline unsäglich litt, eine Gesellschaft, die sich das Bereichere-dich- um-jeden-Preis bereits zweihundert Jahre vor unserer Zeit auf ihre restaurativen Fahnen geschrieben hatte. Und es will uns gruseln im Bewusstsein, wie richtig die Dichterin lag mit der Einschätzung dieser Gesellschaft und der Fortentwicklung der Verhältnisse, durch alle geschichtlichen Um- und Einbrüche hindurch, bis in unsere Tage.
Das Cronstetten-Hynspergische Damenstift, – es stieß an seiner Gartenseite an diejenige des Anwesens der Bankiersfamilie Gontard, bei welcher Friedrich Hölderlin – einige Jahre vor Karolines Einzug im Stift – seine Hauslehrerstelle inne hatte und dort die Tragik seiner unglücklichen Liebe zur Hausherrin Susette Gontard durchlebte. Auch er ein vermeintlich Gescheiterter, – von der Gesellschaft zum Gescheiterten erklärt -, auch hier eine unglückliche Liebe, die ihren Teil zum weiteren dramatischen Lebensverlauf beitrug.
Verhängnisvolles Jahr 1806 – für beide. Karoline von Günderrode nimmt sich im Sommer, am 26. Juli, das Leben, Hölderlin wird am 11. September gegen seinen erbitterten Widerstand von Bad Homburg in das Authenriethsche Klinikum in Tübingen gebracht, wo man ihn Monate später als „unheilbar wahnsinnig“ – Glück im Unglück! – in die Obhut des Schreinermeisters Zimmer entlässt, wo er – wenn auch verloren für die Welt – noch weitere sechsunddreißig Jahre leben wird. Hälfte des Lebens.
Die Günderrode, sie verehrte Hölderlin und seine Dichtung, – von einer Begegnung jedoch ist nichts überliefert. Angenommen, sie wären sich begegnet? Es würde dies besser in meine Vorstellungswelt passen, da er mir – es mag etwas mit dem gemeinsamen Geburtsort zu tun haben – näher steht als Kleist, welcher mir stets fremd geblieben ist.
Die Günderrode und Hölderlin. Gewisse Gemeinsamkeiten fallen auf. In ihrer Dichtung, in ihrer Philosophie. In den Vorurteilen der Gesellschaft, die beide umgab. Abgedrängt in die Ecke der verträumten Phantasten und Spinner, – die ohnehin keiner versteht, – kein Wunder, da muss sich einer ja umbringen oder verrückt werden. Beide arbeiteten mit größtem Ernst, stets am Rande der physischen und psychischen Verausgabung. Beide waren reich an Bildung, allerdings stand diese bei ihm als Mann und ältesten Sohn einer Familie, die zur damaligen württembergisch-protestantischen „Ehrbarkeit“ zählte, die für ihn der Tradition gemäß ein Pfarramt vorgesehen hatte, von Jugend an auf dem Plan, während ihr als Frau ohne Mittel kein Weg blieb, als sich alles an Wissen unter beträchtlichen Mühen selbst oder mit Unterstützung von Freunden anzueignen.
Beider unglückliche Liebe wiederum ist nur die jeweils eine Seite der Tragik, – „nur die Form“, wie es bei Karolines Freundin Lisette recht treffend in einem Brief zu lesen ist, während ihre weiteren Erklärungsversuche sich in unerträglichem Moralisieren ergehen, – die fassbare Seite. Dahinter wird es bodenlos, müssen Erklärungsversuche vor der Tiefe der Verzweiflung kapitulieren. Eine unglückliche Liebe als Katalysator für den Ausbruch dieser Verzweiflung? Zumindest steht hier einmal mehr die Unmöglichkeit, ohne Liebe leben zu können, gegenüber der unmenschlichen Forderung, ohne Liebe leben zu müssen. Sie durchlebte dies zweimal.
Ihre erste große Liebe galt Savigny, ihrem „Schatten eines Traumes“. Er ist von ihr fasziniert und bleibt es, aber noch mehr ist er ein ehrgeiziger, zielstrebiger Jurist, der nüchtern-praktische Überlegungen vor Gefühle stellt, – und eine mittellose Stiftsdame zu ehelichen wäre seiner Sache wenig dienlich. Er heiratet letztlich Gunda Brentano, – die bessere Partie! -, hält den intensiven Kontakt zu Karoline jedoch aufrecht, drängt sie, da er auf den geistigen Austausch mit ihr nicht verzichten will, in die Rolle der gemeinsamen Freundin, – eine Zumutung, die diese auf sich nimmt, denn auch sie ist auf diesen Austausch mehr als angewiesen. Zugang zu Bildung, – für uns heute selbstverständlich, damals für Frauen nur über Umwege zu haben: über einflussreiche männliche Freunde, Förderer und Gönner. Dafür wollte vieles in Kauf genommen sein.
Geistiger Austausch, – gegenseitige Inspiration war es auch, der ihre spätere Beziehung zu dem unglücklich verheirateten Friedrich Creuzer entscheidend prägte. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich gefühlsmäßig von ihm zu lösen, ihm, dem zaudernden, sich gern selbst bemitleidenden, von der Meinung seiner Freunde über das gesunde Maß hinaus abhängigen und in seinen Briefen sichtlich wenig auf ihre Gefühle und Empfindungen eingehenden Mann, der sie hinhält, über lange Zeit unfähig, sich für oder gegen sie zu entscheiden, und sie schließlich fallen lässt , – auf die geistige Zusammenarbeit, die sich entscheidend auf ihr literarisches Schaffen auswirkte, verzichten, war für sie unvorstellbar, – ja, letzten Endes: tödlich. Schwer nachzuvollziehen für jemanden, der solches nicht erfahren hat. Wem es nie gegeben war, für den gibt es nichts zu vermissen. Das Verständnis der Freunde bleibt auf der Strecke, – Stück um Stück.
Tödlich auch das Fehlen jeglicher Alternativen. Vor die Wahl gestellt sein, entweder auf freie Entfaltung oder auf Liebe zu verzichten. Das eine ohne das andere für ein lebbares Leben nicht zu denken. Eine grausame, unmenschliche Wahl! Liebe nur um den Preis, sich in die von der Gesellschaft vorgeschriebene Rolle einzufinden, – Entfaltung nur um den Preis des Außenseiterdaseins, der Vereinsamung. Auch Bettine musste dies im Verlaufe ihres recht langen Lebens mehrmals sehr bitter erfahren. Sie war robuster, widerstandsfähiger. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht immens darunter litt.
Während der Zeit, die ihre Freundschaft währte, in der die beiden jungen Frauen sich eng aneinander angeschlossen hatten, inspirierten sie sich gegenseitig, in Gesprächen und durch gemeinsames Lernen, in ihrer Korrespondenz, wenn sie sich an getrennten Orten aufhielten, unternahmen Phantasiereisen und Gedankenflüge, erhoben sich geistig über die äußerlichen, beengenden Verhältnisse.
Es war Karoline, die sich letzten Endes zurückzog, – ob der Druck Creuzers, der gegen die Brentanos eine neidvolle Aversion hegte, dafür ausgereicht hatte, ist fraglich, fiel dies doch in eine Zeit, als der Entschluss, ihr Leben zu beenden, längst gereift war. Berichten Bettines zufolge gab es Zeichen hierfür, die in ihr selbst Verzweiflung und Ratlosigkeit auslösten, ohne dass sie zu der Freundin weiter hätte vordringen können, – auch die Ankündigung einer „Entzweiung“. Der Weg, den Karoline gewählt hatte, war ihr eigener, ein aus frei gefasstem Entschluss eingeschlagener Weg, auf den sie – so bitter es die Freunde ankommen mochte – niemand begleiten – und auf dem niemand sie zurückhalten konnte.
Zwei Frauenschicksale lange vor unserer Zeit, sehr unterschiedlich und doch sehr ähnlich in ihrer Verschiedenheit, eine Verschiedenheit, um die beide wussten. Karoline schrieb in einem Brief an Bettine, in dessen Verlauf sie dieser eine energischere Natur bescheinigte, als es ihr selbst beschieden war:
„… mir sind nicht allein durch meine Verhältnisse, sondern auch durch meine Natur engere Grenzen in meiner Handlungsweise gezogen, es könnte also leicht kommen, dass dir etwas möglich wäre, was es darum mir noch nicht sein könnte. Du musst dies bei deinen Blicken in die Zukunft auch bedenken.“
Das Lesen der Briefe, die der Nachwelt erhalten geblieben sind, macht betroffen, zieht mich in ihren Bann, erschüttert mich, als läge all dies nur Tage zurück. Warum, frage ich mich? Sind wir doch die Vertreterinnen einer Zeit, in der diese Widersprüche überwunden zu sein scheinen, stehen uns doch heute alle Wege offen. Wirklich? Die Realität zeigt eine andere Seite. Das Scheitern ist auch uns nur zu vertraut. Nur: Woran scheitern wir?
Daran, dass wir zwar vermeintlich freie Wahl haben, jedoch die alten, überkommenen Rollenvorstellungen, von Generation zu Generation – bewusst oder unbewusst – weitergegeben, sich nach wie vor tief in uns eingefressen haben, so dass wir dennoch immer wieder versuchen, ihnen gerecht zu werden, – schlimmer noch: dass wir oft mehreren Rollenbildern völlig gegensätzlicher Ausrichtung entsprechen wollen, diese vergebens in uns zu vereinen versuchen, – eine Zerreißprobe, die wir auf Dauer nicht bestehen können?
Daran, dass wir trotz der angeblichen Fülle von Möglichkeiten Gefahr laufen, uns in der Beliebigkeit zu verlieren, zerstreuter, ablenkbarer sind, schwerer in der Lage, einen gewählten Weg zielstrebig und kontinuierlich zu verfolgen?
Daran, dass heute weniger die Gesellschaft oder eine bestimmte Gesellschaftsklasse die Rollenmodelle vorgibt, sondern zu einem beträchtlichen Anteil die Massenmedien, die uns Zerrbilder vermitteln, denen entsprechen zu wollen das Scheitern zwangsläufig mit sich bringen muss? Denn hier erschöpft es sich wahrlich nicht im Fleißig-sein-müssen und Brav-sein-müssen; hinzu kommen Schlank-sein-müssen, Schön-sein-müssen, Jugendlich-sein-müssen, Sich-alles-leisten-können-müssen, Stets-Power-haben-müssen… Endlosschleife! Und das Verurteilen unseres Selbst, sobald wir nicht dies alles zugleich schaffen, – und wir können und werden es nicht schaffen, die einen werden dies nur früher, die anderen später feststellen! -, das übernehmen wir auch gleich selbst. Denn wir sind emanzipiert!
So stehen uns unsere Vorkämpferinnen aus vergangenen Jahrhunderten näher denn je. Und es klingt uns nicht einmal unvertraut in den Ohren, wenn wir aus der Feder der Günderrode lesen:
Liebe
O reiche Armuth! Gebend, seliges Empfangen!
In Zagheit Muth! In Freiheit doch gefangen.
In Stummheit Sprache,
Schüchtern bei Tage,
Siegend mit zaghaftem Bangen.
Lebendiger Tod, im Einen sel’ges Leben
Schwelgend in Noth, im Widerstand ergeben,
Genießend schmachten,
Nie satt betrachten
Leben im Traum und doppelt Leben.
Die Günderrode. Ein tragisches Leben, ein tragisches Schaffen und ein tragisches Ende, welches uns zweihundert Jahre später Lebende, Schaffende, das Ende zumeist noch nicht ins Auge Fassende, nicht unberührt lassen kann, – nicht unberührt lassen darf. Die wohlmeinende Warnung im Gedächtnis, sich als Autorin, die sich ihren Weg erst suchen muss, möglichst nicht gerade diejenigen zu Vorbildern zu wählen, die ihrem Leben vorzeitig selbst ein Ende setzten, mich jedoch zu jenen zählend, die ihre Inspiration von vielerlei Seiten beziehen, worunter sich – die zahlreichen noch Lebenden ausgenommen – die Zahl derer, die den Freitod wählten, zumindest die Waage hält mit der jener, die allem trotzend mitunter steinalt wurden -, wollte ich eigentlich zunächst über die Bettine schreiben.
Bettine, die für mich immer den erfrischenden Gegenpol bildete, – Bettine, die Unkonventionelle, die sich bereits zu Zeiten, in denen solches bedeutend mehr Mut erforderte als heute, keinen Deut um die Ansichten und Vorurteile ihrer Kreise scherte, die sich das freie Denken als Letzte hätte verbieten lassen, und die dies unumwunden kundtat, auch auf die Gefahr hin, zu nerven, – und sie nervte so manchen Zeitgenossen! -, Bettine, die es sich nicht hätte einfallen lassen, zu kapitulieren, die jedem Rückschlag und jeder Zurückweisung nach kürzester Zeit ein Jetzt-erst-recht! entgegenzusetzen wusste. Ihre vorübergehende Kapitulation vor den Erwartungen der bürgerlichen Gesellschaft war nur eine vermeintliche, – eine Zeit, in der sie sich regelrecht in jener Rolle eingerichtet zu haben schien, die ihr von eben dieser Gesellschaft zugemessen wurde, in der sie mit beachtlicher Energie ein Gut bewirtschaftete, sieben Kinder gebar und aufzog, die alle – nicht selbstverständlich in jenen Jahren! – das Erwachsenenalter erreichten, – um sich danach unversehrt zurückzumelden und in der Verfolgung ihrer sich selbst gesetzten Lebensziele dort fortzufahren, wo sie sich in jungen Jahren zur Unterbrechung derselben genötigt sah. Bettine, unbeirrt den Faden wieder aufnehmend, schreibend, veröffentlichend, das Berliner Salonleben prägend und in ihrem sozialen und politischen Engagement geradezu Kopf und Kragen riskierend. An sie habe ich mich stets geklammert, sie hervor gezerrt, – abergläubisch die Namensgleichheit beschwörend, – mit deren Mut, deren Unerschrockenheit ausgestattet sein, damit wäre gut leben! Wenn die Welt nicht passt, in die man hineingeboren wurde, sich einfach eine neue schaffen, – ob diese anderen nun gefällt oder nicht, – ein vorstellbarer Weg.
Sich hingegen mit ihrer um fünf Jahre älteren Freundin Karoline, der vermeintlich Gescheiterten, die so ganz anderen Gemütes war, zu befassen, kostet Überwindung. Da ist die Trauer, die einen verstummen lassen möchte. Eine junge Dichterin und Philosophin beendet ihr Leben – sechsundzwanzigjährig – aus freiem Willen.
Als ich auf dem weitläufigen Friedhof in Winkel am Rhein den Weg zu ihrem Grab erfrage, weist mir eine sichtlich belesene Frau die Richtung, – es liegt etwas abseits an der Mauer -, ja, sie habe viel von der Günderrode gelesen, sie spricht über die Ereignisse, als habe sich alles erst vor Kurzem zugetragen; es scheint sie persönlich sehr zu beschäftigen. Ihr sei auch lange nicht klar gewesen, bekennt sie, dass die Günderrode sich ja gar nicht ertränkt habe, wie manche annähmen, da man sie unten am Rhein, halb im Wasser liegend, gefunden hatte, – stattdessen ein gezielter, mit Präzision von eigener Hand durchgeführter Dolchstoß, der zum Tode führte. Keine sehr weibliche Art, sich umzubringen, – in der Tat! Mit einem Dolch, über lange Zeit stets in der Handtasche mit sich geführt, – auch nicht gerade ein typisch weibliches Utensil.
Vor dem Gedenkstein stehend, stellt sich auch bei mir ein Gefühl von fassungsloser Betroffenheit ein. Der lange Zeitraum scheint sich zusammenzuziehen, keine Rolle mehr zu spielen. Lese die Inschrift:
Erde, du meine Mutter, und du mein Ernährer, der Lufthauch,
Heilges Feuer mir Freund, und du, o Bruder, der Bergstrom,
Und mein Vater der Äther, ich sage euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank; mit euch hab’ ich hienieden gelebt,
Und ich gehe zur andern Welt, euch gerne verlassend,
Lebt wohl denn, Bruder und Freund, Vater und Mutter, lebt wohl!
Ihre letzten Worte, – nicht ganz ihre eigenen -, vielmehr Verse aus „Abschied des Einsiedlers“ von Herder, welche sie, so nimmt man an, aus dem Gedächtnis aufgeschrieben hatte. Auf einem Blatt Papier, in ihrem Zimmer zurückgelassen, in welchem sie sich während eines Besuchs bei einer Freundin in Winkel aufhielt. Endstation eines Lebens, in dem, um es mit heutigen Worten auszudrücken, nichts mehr stimmte. Eines an äußeren und inneren Beschränkungen wundgestoßenen Lebens. Als Frau und Dichterin keine Chance auf ein von Gunst und Wohlwollen anderer unabhängiges Leben. Weder in ihrem Leben, noch in ihrem Schaffen. Von der Liebe ganz zu schweigen. Betrogen um ihr Erbe, – zwar ausreichend versorgt, allerdings nicht so, als dass es zu einer Mitgift für eine Ehe gereicht hätte -, stets in dem erniedrigenden Bewusstsein, letztlich von Almosen abhängig zu sein. Von Freunden verehrt, jedoch selten verstanden, in entscheidenden Momenten entweder zur Ikone stilisiert oder mit gönnerhafter Herablassung bedacht. Das „Günderrödchen“. Ihr beachtliches dichterisches und philosophisches Schaffen gleichermaßen schmeichelnd bewundert und neidvoll heruntergespielt. Anerkennung hatte es glücklicherweise bereits gefunden, bevor sie als Autorin persönlich öffentlich in Erscheinung trat. Sie hatte zunächst unter dem Pseudonym Tian veröffentlicht, was auf einen männlichen Verfasser schließen ließ, hinter dem niemand so ohne weiteres gerade sie, die Sanfte, die schüchtern Wirkende, vermutete.
Als es schließlich bekannt wurde, kam, was kommen musste: Man neidete ihr das Talent, zerriss sich die Mäuler, versuchte ihr Werk kleinzureden, – aber man hatte ja bereits zugegeben, zugeben müssen, dass ihre Lyrik beachtlich war, reich an gedanklicher Fülle und sprachlicher Schönheit, – also umschmeichelte man sie, ließ sich gerne mit ihr sehen, schätzte sie als kluge Gesellschafterin, Unterhalterin, Ratgeberin und Freundin, sonnte sich in ihrer Gegenwart, – wusste man sich im schlimmsten Fall gar nicht mehr zu helfen, überhöhte man sie zur Heiligen, die sie nicht sein wollte. Als Frau mit allen Bedürfnissen einer Frau wollte man sie nicht sehen, – sie, die sich selbst unbestimmt zerrissen zwischen Mann und Frau wiederfand, keiner Seite wirklich zugehörig. Auch hiermit setzte sie sich auseinander, – sprach es offen aus. Sich verstellen, sich verstecken hinter Lügen und faulen Kompromissen war ihre Sache nicht. Voraussetzung für ein lebbares Leben bedeutete ihr ein Streben nach größtmöglicher Authentizität, nach höchstmöglicher Übereinstimmung von Denken, Fühlen, Handeln und Schaffen. Ein Anspruch, an dem sie letztlich zerbrach.
Die Erfahrung von Vergeblichkeit und Entfremdung, wie Christa Wolf es ausdrückte:
„Kein Ort. Nirgends“. Die fiktive Begegnung Karoline von Günderrodes mit Heinrich von Kleist. Schauplatz: Winkel, im Sommerhaus der Brentanos. Ich suche es auf. Ein langgezogener Barockbau, Eingang zur Hofseite, in der Toreinfahrt eines jener inzwischen veralteten, dreieckig-rotumrandeten Warnschilder, auf dem ein schwarzer Mann mit Hut auf weißem Grund den Zebrastreifen überquert, ein Glas in der Hand hinzu gezeichnet – Symbol des Weingutbesitzers! – darunter eine Tafel mit dem Aufdruck: „Baron kreuzt!“ Man scheint im Hause Brentano mit Humor ausgestattet. Vom Hof aus erstreckt sich in Richtung Rhein ein parkähnlicher Garten mit Kletterspalieren, einem Brunnen und steinernen Skulpturen. Alles wirkt still und verwunschen, – eine Oase, aus alter Zeit hinübergerettet, inmitten des vom Verkehrslärm reichlich gebeutelten Ortes. „Besichtigung nach Anfrage möglich“, steht auf dem Schild an der Tür, aber ich weiß nicht, ob ich anfragen, ob ich es wirklich besichtigen möchte, oder ob ich mir nicht lieber die Bilder aus meiner Vorstellungskraft bewahren will. Mit etwas Phantasie wäre es denkbar, dass sich sogleich die Tür öffnet und die Gesellschaft aus jenen Tagen heraustritt, um sich auf ihren Spaziergang zu begeben. Clemens Brentano und Sophie Mereau, Friedrich Karl von Savigny und Gunda Brentano, Christian Nees von Esenbeck und dessen Frau Lisette, geborene Mettingh, Karolines Freundin aus Frankfurter Stiftstagen. Allen voran die quirlige Bettine. Kleist, von dem nicht gewiss überliefert ist, ob er diesen Ort in Wirklichkeit je besuchte. Und nicht zuletzt Karoline von Günderrode, des Öfteren in Winkel zu Gast.
Der Rheingau, – die Sommerfrische der Frankfurter Gesellschaft und was sich so dafür hielt. Von Charakter und Schönheit der Umgebung, die ich aus Bettines brieflichen Schilderungen so lebendig vor Augen habe, scheint weniges erhalten. Das Ufer verbaut, Ortschaft reiht sich an Ortschaft, – Lärm durch Industrie und Verkehr erschlägt alle Bemühungen, sich vorzustellen, wie es hier vor zwei Jahrhunderten ausgesehen haben mag. Die Orte selbst sind touristisch überlaufene, Übelkeit erzeugende Albträume; durch die als malerisch bezeichneten Gassen von Eltville, Rüdesheim und Assmannshausen wälzen sich Tag für Tag grölende Horden wein- und schunkelseliger Busreisender, offensichtlich im Bemühen, sich die verflossene Rheinromantik mittels Promille zurückzuholen. Erst etwas weiter nördlich, bei Lorch und Kaub, wo das Mittlere Rheintal sich zunehmend verengt, die Berge zum Ufer hin steiler abfallen, weniger Bausünden zulassend, lässt sich auf Wanderwegen wie dem Rheingauer Rieslingpfad zwischen altem Weinland, Gärten und jungen Eichenwäldern eine Ahnung der einstigen Beschaulichkeit wiederbeleben, finden sich noch stille Seitentäler und Schluchten mit den munteren Bächen, die den Felsen des Taunus entspringen, erschließen sich immer wieder verträumte Aussichten auf den Strom und dessen andere Uferseite mit den bewaldeten Höhenzügen des Hunsrücks und auf stolze Burgen als stumme Zeugen alter, jedoch selten friedlicherer Tage.
Bedeutend schwieriger noch, das alte Frankfurt, wo Karoline von Günderrode aus Gründen ihrer Mittellosigkeit in einem Stift für unverheiratete, adelige Fräulein lebte, inmitten seiner Bankenviertel und Wolkenkratzer auszumachen. Grotesk mutet selbst das wiedererrichtete Goethehaus zwischen den ansonsten unsäglich hässlichen Betonklötzen an, – die ganze Stadt traurig überspitztes Symbol für die Gesellschaft, unter der gerade Karoline unsäglich litt, eine Gesellschaft, die sich das Bereichere-dich- um-jeden-Preis bereits zweihundert Jahre vor unserer Zeit auf ihre restaurativen Fahnen geschrieben hatte. Und es will uns gruseln im Bewusstsein, wie richtig die Dichterin lag mit der Einschätzung dieser Gesellschaft und der Fortentwicklung der Verhältnisse, durch alle geschichtlichen Um- und Einbrüche hindurch, bis in unsere Tage.
Das Cronstetten-Hynspergische Damenstift, – es stieß an seiner Gartenseite an diejenige des Anwesens der Bankiersfamilie Gontard, bei welcher Friedrich Hölderlin – einige Jahre vor Karolines Einzug im Stift – seine Hauslehrerstelle inne hatte und dort die Tragik seiner unglücklichen Liebe zur Hausherrin Susette Gontard durchlebte. Auch er ein vermeintlich Gescheiterter, – von der Gesellschaft zum Gescheiterten erklärt -, auch hier eine unglückliche Liebe, die ihren Teil zum weiteren dramatischen Lebensverlauf beitrug.
Verhängnisvolles Jahr 1806 – für beide. Karoline von Günderrode nimmt sich im Sommer, am 26. Juli, das Leben, Hölderlin wird am 11. September gegen seinen erbitterten Widerstand von Bad Homburg in das Authenriethsche Klinikum in Tübingen gebracht, wo man ihn Monate später als „unheilbar wahnsinnig“ – Glück im Unglück! – in die Obhut des Schreinermeisters Zimmer entlässt, wo er – wenn auch verloren für die Welt – noch weitere sechsunddreißig Jahre leben wird. Hälfte des Lebens.
Die Günderrode, sie verehrte Hölderlin und seine Dichtung, – von einer Begegnung jedoch ist nichts überliefert. Angenommen, sie wären sich begegnet? Es würde dies besser in meine Vorstellungswelt passen, da er mir – es mag etwas mit dem gemeinsamen Geburtsort zu tun haben – näher steht als Kleist, welcher mir stets fremd geblieben ist.
Die Günderrode und Hölderlin. Gewisse Gemeinsamkeiten fallen auf. In ihrer Dichtung, in ihrer Philosophie. In den Vorurteilen der Gesellschaft, die beide umgab. Abgedrängt in die Ecke der verträumten Phantasten und Spinner, – die ohnehin keiner versteht, – kein Wunder, da muss sich einer ja umbringen oder verrückt werden. Beide arbeiteten mit größtem Ernst, stets am Rande der physischen und psychischen Verausgabung. Beide waren reich an Bildung, allerdings stand diese bei ihm als Mann und ältesten Sohn einer Familie, die zur damaligen württembergisch-protestantischen „Ehrbarkeit“ zählte, die für ihn der Tradition gemäß ein Pfarramt vorgesehen hatte, von Jugend an auf dem Plan, während ihr als Frau ohne Mittel kein Weg blieb, als sich alles an Wissen unter beträchtlichen Mühen selbst oder mit Unterstützung von Freunden anzueignen.
Beider unglückliche Liebe wiederum ist nur die jeweils eine Seite der Tragik, – „nur die Form“, wie es bei Karolines Freundin Lisette recht treffend in einem Brief zu lesen ist, während ihre weiteren Erklärungsversuche sich in unerträglichem Moralisieren ergehen, – die fassbare Seite. Dahinter wird es bodenlos, müssen Erklärungsversuche vor der Tiefe der Verzweiflung kapitulieren. Eine unglückliche Liebe als Katalysator für den Ausbruch dieser Verzweiflung? Zumindest steht hier einmal mehr die Unmöglichkeit, ohne Liebe leben zu können, gegenüber der unmenschlichen Forderung, ohne Liebe leben zu müssen. Sie durchlebte dies zweimal.
Ihre erste große Liebe galt Savigny, ihrem „Schatten eines Traumes“. Er ist von ihr fasziniert und bleibt es, aber noch mehr ist er ein ehrgeiziger, zielstrebiger Jurist, der nüchtern-praktische Überlegungen vor Gefühle stellt, – und eine mittellose Stiftsdame zu ehelichen wäre seiner Sache wenig dienlich. Er heiratet letztlich Gunda Brentano, – die bessere Partie! -, hält den intensiven Kontakt zu Karoline jedoch aufrecht, drängt sie, da er auf den geistigen Austausch mit ihr nicht verzichten will, in die Rolle der gemeinsamen Freundin, – eine Zumutung, die diese auf sich nimmt, denn auch sie ist auf diesen Austausch mehr als angewiesen. Zugang zu Bildung, – für uns heute selbstverständlich, damals für Frauen nur über Umwege zu haben: über einflussreiche männliche Freunde, Förderer und Gönner. Dafür wollte vieles in Kauf genommen sein.
Geistiger Austausch, – gegenseitige Inspiration war es auch, der ihre spätere Beziehung zu dem unglücklich verheirateten Friedrich Creuzer entscheidend prägte. Selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich gefühlsmäßig von ihm zu lösen, ihm, dem zaudernden, sich gern selbst bemitleidenden, von der Meinung seiner Freunde über das gesunde Maß hinaus abhängigen und in seinen Briefen sichtlich wenig auf ihre Gefühle und Empfindungen eingehenden Mann, der sie hinhält, über lange Zeit unfähig, sich für oder gegen sie zu entscheiden, und sie schließlich fallen lässt , – auf die geistige Zusammenarbeit, die sich entscheidend auf ihr literarisches Schaffen auswirkte, verzichten, war für sie unvorstellbar, – ja, letzten Endes: tödlich. Schwer nachzuvollziehen für jemanden, der solches nicht erfahren hat. Wem es nie gegeben war, für den gibt es nichts zu vermissen. Das Verständnis der Freunde bleibt auf der Strecke, – Stück um Stück.
Tödlich auch das Fehlen jeglicher Alternativen. Vor die Wahl gestellt sein, entweder auf freie Entfaltung oder auf Liebe zu verzichten. Das eine ohne das andere für ein lebbares Leben nicht zu denken. Eine grausame, unmenschliche Wahl! Liebe nur um den Preis, sich in die von der Gesellschaft vorgeschriebene Rolle einzufinden, – Entfaltung nur um den Preis des Außenseiterdaseins, der Vereinsamung. Auch Bettine musste dies im Verlaufe ihres recht langen Lebens mehrmals sehr bitter erfahren. Sie war robuster, widerstandsfähiger. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht immens darunter litt.
Während der Zeit, die ihre Freundschaft währte, in der die beiden jungen Frauen sich eng aneinander angeschlossen hatten, inspirierten sie sich gegenseitig, in Gesprächen und durch gemeinsames Lernen, in ihrer Korrespondenz, wenn sie sich an getrennten Orten aufhielten, unternahmen Phantasiereisen und Gedankenflüge, erhoben sich geistig über die äußerlichen, beengenden Verhältnisse.
Es war Karoline, die sich letzten Endes zurückzog, – ob der Druck Creuzers, der gegen die Brentanos eine neidvolle Aversion hegte, dafür ausgereicht hatte, ist fraglich, fiel dies doch in eine Zeit, als der Entschluss, ihr Leben zu beenden, längst gereift war. Berichten Bettines zufolge gab es Zeichen hierfür, die in ihr selbst Verzweiflung und Ratlosigkeit auslösten, ohne dass sie zu der Freundin weiter hätte vordringen können, – auch die Ankündigung einer „Entzweiung“. Der Weg, den Karoline gewählt hatte, war ihr eigener, ein aus frei gefasstem Entschluss eingeschlagener Weg, auf den sie – so bitter es die Freunde ankommen mochte – niemand begleiten – und auf dem niemand sie zurückhalten konnte.
Zwei Frauenschicksale lange vor unserer Zeit, sehr unterschiedlich und doch sehr ähnlich in ihrer Verschiedenheit, eine Verschiedenheit, um die beide wussten. Karoline schrieb in einem Brief an Bettine, in dessen Verlauf sie dieser eine energischere Natur bescheinigte, als es ihr selbst beschieden war:
„… mir sind nicht allein durch meine Verhältnisse, sondern auch durch meine Natur engere Grenzen in meiner Handlungsweise gezogen, es könnte also leicht kommen, dass dir etwas möglich wäre, was es darum mir noch nicht sein könnte. Du musst dies bei deinen Blicken in die Zukunft auch bedenken.“
Das Lesen der Briefe, die der Nachwelt erhalten geblieben sind, macht betroffen, zieht mich in ihren Bann, erschüttert mich, als läge all dies nur Tage zurück. Warum, frage ich mich? Sind wir doch die Vertreterinnen einer Zeit, in der diese Widersprüche überwunden zu sein scheinen, stehen uns doch heute alle Wege offen. Wirklich? Die Realität zeigt eine andere Seite. Das Scheitern ist auch uns nur zu vertraut. Nur: Woran scheitern wir?
Daran, dass wir zwar vermeintlich freie Wahl haben, jedoch die alten, überkommenen Rollenvorstellungen, von Generation zu Generation – bewusst oder unbewusst – weitergegeben, sich nach wie vor tief in uns eingefressen haben, so dass wir dennoch immer wieder versuchen, ihnen gerecht zu werden, – schlimmer noch: dass wir oft mehreren Rollenbildern völlig gegensätzlicher Ausrichtung entsprechen wollen, diese vergebens in uns zu vereinen versuchen, – eine Zerreißprobe, die wir auf Dauer nicht bestehen können?
Daran, dass wir trotz der angeblichen Fülle von Möglichkeiten Gefahr laufen, uns in der Beliebigkeit zu verlieren, zerstreuter, ablenkbarer sind, schwerer in der Lage, einen gewählten Weg zielstrebig und kontinuierlich zu verfolgen?
Daran, dass heute weniger die Gesellschaft oder eine bestimmte Gesellschaftsklasse die Rollenmodelle vorgibt, sondern zu einem beträchtlichen Anteil die Massenmedien, die uns Zerrbilder vermitteln, denen entsprechen zu wollen das Scheitern zwangsläufig mit sich bringen muss? Denn hier erschöpft es sich wahrlich nicht im Fleißig-sein-müssen und Brav-sein-müssen; hinzu kommen Schlank-sein-müssen, Schön-sein-müssen, Jugendlich-sein-müssen, Sich-alles-leisten-können-müssen, Stets-Power-haben-müssen… Endlosschleife! Und das Verurteilen unseres Selbst, sobald wir nicht dies alles zugleich schaffen, – und wir können und werden es nicht schaffen, die einen werden dies nur früher, die anderen später feststellen! -, das übernehmen wir auch gleich selbst. Denn wir sind emanzipiert!
So stehen uns unsere Vorkämpferinnen aus vergangenen Jahrhunderten näher denn je. Und es klingt uns nicht einmal unvertraut in den Ohren, wenn wir aus der Feder der Günderrode lesen:
Liebe
O reiche Armuth! Gebend, seliges Empfangen!
In Zagheit Muth! In Freiheit doch gefangen.
In Stummheit Sprache,
Schüchtern bei Tage,
Siegend mit zaghaftem Bangen.
Lebendiger Tod, im Einen sel’ges Leben
Schwelgend in Noth, im Widerstand ergeben,
Genießend schmachten,
Nie satt betrachten
Leben im Traum und doppelt Leben.