- Ein Beitrag zur Archäologie der alten BRD -
Da stand jahrzehntelang ein Buch in meinem Bücherschrank, nie zu Ende gelesen. Zweimal brach ich die Lektüre nach einem Dutzend Seiten ab – warum? Vertagen wir die Frage … Nun habe ich einen argentinischen Film über ein verwandtes Thema gesehen und es noch einmal mit dem Buch versucht.
Es heißt: „Kleinstadtmörder. Spur 1081. Hintergründe zum Fall Lebach“. Erschienen ist es 1971 bei Hoffmann und Campe, heute nur noch antiquarisch zu bekommen. Sein Autor Jürgen Neven-du Mont (1921 – 1979) war einer der großen Journalisten der Nachkriegszeit, er hat auch Dokufilme gedreht und Sachbücher geschrieben. Das über die Lebach-Mörder hat er gemeinsam mit dem Leitenden Regierungskriminaldirektor Karl Schütz und Rainer Söhnlein verfasst.
Zur Erinnerung und für die Nachgeborenen: Am 20.1.1969 wurde in Lebach/Saar ein Munitionsdepot überfallen, dabei wurden vier Soldaten im Schlaf erschossen, ein weiterer schwer verletzt. Nach einer bis dahin beispiellosen Fahndung wurden drei Täter Ende April 1969 festgenommen. Zwei von ihnen hatten den Überfall ausgeführt, einer war an der Tatvorbereitung beteiligt gewesen. Sie kamen aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen, aus teils sogar gut situierten Familien im pfälzischen Landau. Fuchs (geb. 1943), der Kopf des Trios, war Bankkaufmann, Ditz (geb. 1942) Justizbeamter im mittleren Dienst. Den dritten Mann nenne ich hier „Knabe“, diesen Decknamen hat ihm seinerzeit der SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz gegeben. Knabe (geb. 1945) war Zahntechniker.
Was die drei verband? Unzufriedenheit mit dem Brotberuf (teilweise unter familiärem Druck ergriffen) und mit der Außenseiterrolle von Homosexuellen in einer kleinen Provinzstadt. Fuchs und Ditz kannten sich schon seit ihren Schultagen. Ihr Verhältnis war auf verhängnisvolle Weise platonisch. Der intelligente, wendige Fuchs las sehr viel, von Schopenhauer, Nietzsche, Ortega y Gasset, Wittgenstein bis zu Freud, Adler, Jung und Konrad Lorenz, auch Machiavelli, Hobbes und buddhistische Schriften. Er entwickelte daraus eine radikal gesellschaftsfeindliche Weltanschauung, die er in langjährigen Diskussionen mit Ditz und später auch Knabe, seinen Schülern oder Jüngern, immer mehr vertiefte. Fuchs und Knabe hatten auch eine sexuelle Beziehung. Das Trio schloss sich nach außen hin ab. Sie verschmähten es, ein freieres Leben in einer Großstadt zu führen, sie wollten den entgegengesetzten Weg einschlagen. Es entstand der Plan, gemeinsam auf einer Hochseeyacht nur für sich zu leben – und sich die Mittel dafür durch ein Gewaltverbrechen zu beschaffen.
Die Tat von Lebach sollte nur der Anfang sein. Mit den erbeuteten Waffen wollte man anschließend reiche Mitbürger erpressen und gerade die Grausamkeit des Überfalls auf die Soldaten sollte die späteren Opfer gefügig machen. Tatsächlich war der gesamte Plan von Beginn an unrealistisch gewesen, rein phantastisch. Die Vorbereitung erstreckte sich über Jahre, die Ausführung wurde immer wieder verschoben. Die Spannungen in der Gruppe nahmen so sehr zu, dass die Tat zum Notausgang wurde und dabei alle vorhandenen Energien aufbrauchte. Danach folgten bis zur Festnahme nur inkonsequente, mutlose Versuche der Erpressung.
Der Prozess in der Saarbrücker Kongresshalle im Sommer 1970 wurde viel kritisiert als Monster-Schauprozess, der Tatmotive und Täterstrukturen nicht einmal in Ansätzen herausarbeitete. Was z.B. Gerhard Mauz im SPIEGEL dazu sehr treffend formulierte, findet der Interessierte mit wenigen Klicks im Internet. Fuchs und Ditz wurden zu Lebenslänglich verurteilt, Knabe bekam sechs Jahre.
Neven-du Monts Buch ist das Ergebnis umfangreicher Recherchen quer durchs Land und bei zahlreichen Zeugen. Es verbindet gute Einblicke in äußere Abläufe mit nicht immer überzeugenden Analysen der Täter. Die Autoren wollten die vom Gericht unterlassene Motivaufklärung in aller Gründlichkeit nachholen und sind dabei selbst gelegentlich das Opfer von Nichtwissenkönnen, Oberflächlichkeit und Kurzschlüssen geworden. Deutlich wird dies z.B. an Knabe, den sie immer wieder als hübschen, inhaltsleeren Trottel darstellen. Knabe hat es ihnen dann gezeigt: Neven-du Monts Verfilmung des Stoffs durfte nach dem von ihm erwirkten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 nicht im Fernsehen gesendet werden. Ditz wurde 2006 aus der Haft entlassen. Fuchs sitzt jetzt mehr als vierzig Jahre ein, wohl der dienstälteste unter allen deutschen Strafgefangenen. Eine Rolle spielt möglicherweise, dass er sein früheres Geständnis im Gerichtsverfahren widerrufen hat und noch immer daran festhalten soll, nicht am Überfall beteiligt gewesen zu sein.
Ein Reiz des Buches: Man begegnet oft Personen der Zeitgeschichte, Prominenten von damals. Da sind u.a. der zehn Jahre später ermordete Siegfried Buback, der berühmt-berüchtigte Finanzmakler Rudolf Münemann oder die Wahrsagerin Buchela.
Ich habe das Buch jetzt mit großer Anteilnahme zu Ende gelesen. Warum missfiel es mir früher? Einige Sätze in Neven-du Monts Vorwort geben mir einen Fingerzeig: „Seit ich denken kann, ärgert es mich, dass Menschen ihre Scheußlichkeiten als unmenschlich verfemen – so tun, als seien sie kein Bestandteil ihrer Natur. Wir verweigern uns dem Anblick unseres wahren Gesichts. Mord ist nicht unmenschlich … Wir nennen sie Unmenschen, als hätten wir nichts mit ihnen zu tun … Der Mord als Spiegel unserer Gesellschaft …“
Tatsächlich erscheint mir vieles an der Vorgeschichte von Lebach jetzt heimlich-unheimlich vertraut. Es beginnt schon mit dem regionalen Rahmen. Dazu hieß es seinerzeit in einer Reportage für das Schweizer „Sonntags-Journal“: „Kaum ein Hauch modernen Lebens belebt jene an Lothringen grenzenden kleinen ‚vergessenen Gebiete’, denen die Täter von Lebach entsprangen. Der Provinzialismus dieser Gegend ist niederschmetternd. Das ‚Establishment’ von Landau bis Kaiserslautern und Saarbrücken ist so festgefügt, wie wenn es nie einen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Für Außenseiter und Nonkonformisten irgendwelcher Art ist da kein Platz …“ Exakt, so war es damals dort. Und dagegen die Welt der Bücher. Und die Frage, wohin geht man, wenn man nicht bleiben kann: in die Großstadt oder in die Einöde?
Alle Schuld ist plötzlich, sagt Hans-Henny Jahnn. Aber hier trifft einmal das Gegenteil zu: Ihre Schuld war wie ein in langen Jahren und von vielen Zufällen genährter Tropfen in einer Tropfsteinhöhle. Zufrieden sei, wer ihr entkommen konnte.
In der Tat sind die Morde von Lebach nicht so singulär, wie es zunächst scheint. Sie ordnen sich ein in einen größeren Zusammenhang. Nach dem 2. Weltkrieg galten noch die alten Sexualnormen, doch ihr Anspruch wurde zunehmend in Frage gestellt, eine kritische Situation, die zu mörderischer Gewalt führen konnte. Frühes Indiz für das Interesse an diesem Zusammenhang ist Hitchcocks Film „Cocktail für eine Leiche“ von 1948, in dem er den Mord von Leopold und Loeb (Chicago 1924) aufgreift. Ab Mitte der sechziger Jahre treten schwule Gewaltverbrecher für einige Jahre gehäuft paarweise auf: Brignone und Dorda (Buenos Aires 1965), die Deutschen Duft und Bassenauer (Griechenland 1969), Fuchs und Ditz (Lebach 1969), Rammelmayr und Todorov (München 1971). Untersucht man die sehr verschieden gelagerten Fälle näher, findet man zumeist Querverbindungen zu gleichzeitigen politischen Phänomenen mit emanzipatorischem Anspruch, von den argentinischen Peronisten bis zur RAF. Das private Verbrechen ist nie nur privat.
Da stand jahrzehntelang ein Buch in meinem Bücherschrank, nie zu Ende gelesen. Zweimal brach ich die Lektüre nach einem Dutzend Seiten ab – warum? Vertagen wir die Frage … Nun habe ich einen argentinischen Film über ein verwandtes Thema gesehen und es noch einmal mit dem Buch versucht.
Es heißt: „Kleinstadtmörder. Spur 1081. Hintergründe zum Fall Lebach“. Erschienen ist es 1971 bei Hoffmann und Campe, heute nur noch antiquarisch zu bekommen. Sein Autor Jürgen Neven-du Mont (1921 – 1979) war einer der großen Journalisten der Nachkriegszeit, er hat auch Dokufilme gedreht und Sachbücher geschrieben. Das über die Lebach-Mörder hat er gemeinsam mit dem Leitenden Regierungskriminaldirektor Karl Schütz und Rainer Söhnlein verfasst.
Zur Erinnerung und für die Nachgeborenen: Am 20.1.1969 wurde in Lebach/Saar ein Munitionsdepot überfallen, dabei wurden vier Soldaten im Schlaf erschossen, ein weiterer schwer verletzt. Nach einer bis dahin beispiellosen Fahndung wurden drei Täter Ende April 1969 festgenommen. Zwei von ihnen hatten den Überfall ausgeführt, einer war an der Tatvorbereitung beteiligt gewesen. Sie kamen aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen, aus teils sogar gut situierten Familien im pfälzischen Landau. Fuchs (geb. 1943), der Kopf des Trios, war Bankkaufmann, Ditz (geb. 1942) Justizbeamter im mittleren Dienst. Den dritten Mann nenne ich hier „Knabe“, diesen Decknamen hat ihm seinerzeit der SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz gegeben. Knabe (geb. 1945) war Zahntechniker.
Was die drei verband? Unzufriedenheit mit dem Brotberuf (teilweise unter familiärem Druck ergriffen) und mit der Außenseiterrolle von Homosexuellen in einer kleinen Provinzstadt. Fuchs und Ditz kannten sich schon seit ihren Schultagen. Ihr Verhältnis war auf verhängnisvolle Weise platonisch. Der intelligente, wendige Fuchs las sehr viel, von Schopenhauer, Nietzsche, Ortega y Gasset, Wittgenstein bis zu Freud, Adler, Jung und Konrad Lorenz, auch Machiavelli, Hobbes und buddhistische Schriften. Er entwickelte daraus eine radikal gesellschaftsfeindliche Weltanschauung, die er in langjährigen Diskussionen mit Ditz und später auch Knabe, seinen Schülern oder Jüngern, immer mehr vertiefte. Fuchs und Knabe hatten auch eine sexuelle Beziehung. Das Trio schloss sich nach außen hin ab. Sie verschmähten es, ein freieres Leben in einer Großstadt zu führen, sie wollten den entgegengesetzten Weg einschlagen. Es entstand der Plan, gemeinsam auf einer Hochseeyacht nur für sich zu leben – und sich die Mittel dafür durch ein Gewaltverbrechen zu beschaffen.
Die Tat von Lebach sollte nur der Anfang sein. Mit den erbeuteten Waffen wollte man anschließend reiche Mitbürger erpressen und gerade die Grausamkeit des Überfalls auf die Soldaten sollte die späteren Opfer gefügig machen. Tatsächlich war der gesamte Plan von Beginn an unrealistisch gewesen, rein phantastisch. Die Vorbereitung erstreckte sich über Jahre, die Ausführung wurde immer wieder verschoben. Die Spannungen in der Gruppe nahmen so sehr zu, dass die Tat zum Notausgang wurde und dabei alle vorhandenen Energien aufbrauchte. Danach folgten bis zur Festnahme nur inkonsequente, mutlose Versuche der Erpressung.
Der Prozess in der Saarbrücker Kongresshalle im Sommer 1970 wurde viel kritisiert als Monster-Schauprozess, der Tatmotive und Täterstrukturen nicht einmal in Ansätzen herausarbeitete. Was z.B. Gerhard Mauz im SPIEGEL dazu sehr treffend formulierte, findet der Interessierte mit wenigen Klicks im Internet. Fuchs und Ditz wurden zu Lebenslänglich verurteilt, Knabe bekam sechs Jahre.
Neven-du Monts Buch ist das Ergebnis umfangreicher Recherchen quer durchs Land und bei zahlreichen Zeugen. Es verbindet gute Einblicke in äußere Abläufe mit nicht immer überzeugenden Analysen der Täter. Die Autoren wollten die vom Gericht unterlassene Motivaufklärung in aller Gründlichkeit nachholen und sind dabei selbst gelegentlich das Opfer von Nichtwissenkönnen, Oberflächlichkeit und Kurzschlüssen geworden. Deutlich wird dies z.B. an Knabe, den sie immer wieder als hübschen, inhaltsleeren Trottel darstellen. Knabe hat es ihnen dann gezeigt: Neven-du Monts Verfilmung des Stoffs durfte nach dem von ihm erwirkten Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 nicht im Fernsehen gesendet werden. Ditz wurde 2006 aus der Haft entlassen. Fuchs sitzt jetzt mehr als vierzig Jahre ein, wohl der dienstälteste unter allen deutschen Strafgefangenen. Eine Rolle spielt möglicherweise, dass er sein früheres Geständnis im Gerichtsverfahren widerrufen hat und noch immer daran festhalten soll, nicht am Überfall beteiligt gewesen zu sein.
Ein Reiz des Buches: Man begegnet oft Personen der Zeitgeschichte, Prominenten von damals. Da sind u.a. der zehn Jahre später ermordete Siegfried Buback, der berühmt-berüchtigte Finanzmakler Rudolf Münemann oder die Wahrsagerin Buchela.
Ich habe das Buch jetzt mit großer Anteilnahme zu Ende gelesen. Warum missfiel es mir früher? Einige Sätze in Neven-du Monts Vorwort geben mir einen Fingerzeig: „Seit ich denken kann, ärgert es mich, dass Menschen ihre Scheußlichkeiten als unmenschlich verfemen – so tun, als seien sie kein Bestandteil ihrer Natur. Wir verweigern uns dem Anblick unseres wahren Gesichts. Mord ist nicht unmenschlich … Wir nennen sie Unmenschen, als hätten wir nichts mit ihnen zu tun … Der Mord als Spiegel unserer Gesellschaft …“
Tatsächlich erscheint mir vieles an der Vorgeschichte von Lebach jetzt heimlich-unheimlich vertraut. Es beginnt schon mit dem regionalen Rahmen. Dazu hieß es seinerzeit in einer Reportage für das Schweizer „Sonntags-Journal“: „Kaum ein Hauch modernen Lebens belebt jene an Lothringen grenzenden kleinen ‚vergessenen Gebiete’, denen die Täter von Lebach entsprangen. Der Provinzialismus dieser Gegend ist niederschmetternd. Das ‚Establishment’ von Landau bis Kaiserslautern und Saarbrücken ist so festgefügt, wie wenn es nie einen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Für Außenseiter und Nonkonformisten irgendwelcher Art ist da kein Platz …“ Exakt, so war es damals dort. Und dagegen die Welt der Bücher. Und die Frage, wohin geht man, wenn man nicht bleiben kann: in die Großstadt oder in die Einöde?
Alle Schuld ist plötzlich, sagt Hans-Henny Jahnn. Aber hier trifft einmal das Gegenteil zu: Ihre Schuld war wie ein in langen Jahren und von vielen Zufällen genährter Tropfen in einer Tropfsteinhöhle. Zufrieden sei, wer ihr entkommen konnte.
In der Tat sind die Morde von Lebach nicht so singulär, wie es zunächst scheint. Sie ordnen sich ein in einen größeren Zusammenhang. Nach dem 2. Weltkrieg galten noch die alten Sexualnormen, doch ihr Anspruch wurde zunehmend in Frage gestellt, eine kritische Situation, die zu mörderischer Gewalt führen konnte. Frühes Indiz für das Interesse an diesem Zusammenhang ist Hitchcocks Film „Cocktail für eine Leiche“ von 1948, in dem er den Mord von Leopold und Loeb (Chicago 1924) aufgreift. Ab Mitte der sechziger Jahre treten schwule Gewaltverbrecher für einige Jahre gehäuft paarweise auf: Brignone und Dorda (Buenos Aires 1965), die Deutschen Duft und Bassenauer (Griechenland 1969), Fuchs und Ditz (Lebach 1969), Rammelmayr und Todorov (München 1971). Untersucht man die sehr verschieden gelagerten Fälle näher, findet man zumeist Querverbindungen zu gleichzeitigen politischen Phänomenen mit emanzipatorischem Anspruch, von den argentinischen Peronisten bis zur RAF. Das private Verbrechen ist nie nur privat.