Ein Sonntagnachmittag Anfang der sechziger Jahre. Wir sitzen am Kaffeetisch unter dem Kirschbaum, meine Eltern, meine Großeltern mütterlicherseits, Verwandte, die zu Besuch gekommen sind, und ich. Auf einmal fragt meine Patentante meine Mutter: "Und Oma Erna, was ist mit ihr, warum sitzt sie nicht hier bei uns?" - Darauf meine Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung: "Ach ... Ich hab ihr ein Stück Kuchen hingestellt."
Hinter einer Bodenwelle unseres Gartens ist die grün gestrichene Holzbaracke sichtbar, in der ich noch mit meinen Eltern wohne. Oma Erna bewohnt zwei der fünf Räume, sie wird hier allein zurückbleiben, wenn unser neues Haus fertig ist.
Oma Erna ragte fremd in die Wirtschaftswunderzeit, wie die Ruine einer Raubritterburg ins Eisenbahnzeitalter. Wir sprachen wenig mit ihr. Meine Mutter behandelte ihre Schwiegermutter scheinbar mit Ehrerbietung, doch verbargen sich dahinter nur Unverständnis und Vorsicht. Mein Vater legte ihr gegenüber Herablassung, vermischt mit leichter Verachtung, an den Tag. Für Oma Erna war ich, der Enkel, auch nur einer von den anderen, die jetzt den Gang der Dinge allein bestimmten.
Vieles an ihr wirkte wie aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Gesellschaftsschicht, etwa ihre Tischmanieren oder ihre Umgangsformen überhaupt. Sie drehte sich Locken mit der Brennschere und wollte in den Geschäften mit "Gnädige Frau" angesprochen werden. Sie trug jahrzehntealte, schon ewig aus der Mode gekommene Röcke auf. Allmählich bekam sie einen Buckel. Auf der Straße riefen ihr die Schuljungen "Hexe" nach.
Geboren war sie 1891. Ihr Mädchenname verriet ihre hugenottische Herkunft. Tatsächlich blieb ihr bis zuletzt etwas von der Unbeugsamkeit jener Vorfahren. 1912 heiratete sie meinen Großvater, einen kgl.-bayrischen Berufssoldaten. Er war von ländlich-bürgerlicher Herkunft und, wie es damals hieß, gut situiert. Sie wirtschafteten beide schlecht, bald war das meiste verwirtschaftet. Der Versailler Vertrag bedeutete für ihn die Entlassung aus der Armee. Um ihn zu versorgen, stellte der neue Staat ihn vor die Alternative: ein Pöstchen auf dem Rathaus oder ein Gütchen auf dem Land. Er wählte das Letztere. Ohne rechte Freude an der Sache schlugen sie sich eben so durch. Das älteste von drei Kindern starb früh. 1937 erlag mein Großvater einem Kehlkopfkrebs. Mein Vater vergeudete zwölf seiner besten Jahre mit Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft. Seine Schwester heiratete einen Soldaten und wurde noch im gleichen Jahr Kriegerwitwe. Oma Erna führte als Witwe die kleine Landwirtschaft weiter und versuchte, dem Leben noch einige schöne Seiten abzugewinnen. Sie liebte es noch immer, kleine Exkursionen in die Konditoreien zu unternehmen. Ihr nach wie vor bestehendes Interesse am anderen Geschlecht äußerte sich ziemlich unverhüllt. War es das, was mein Vater ihr übelnahm?
Meine Eltern hatten im Krieg geheiratet, mein Vater übernahm nun den Hof, vergrößerte ihn. Oma Erna blieben ein Wohnrecht und eine kleine Witwenrente, die nie zum Leben reichte. So rüstig sie noch war, für sie war das Leben so gut wie vorbei. Und ringsum erholte sich jetzt das Land von zwei Kriegen und zwei Inflationen. Arbeiten, sparen, Vermögen bilden, ein Haus bauen, noch ein Haus bauen - alle waren sehr beschäftigt. Oma Erna las ihre Illustrierten, hörte ihr Transistorradio und führte laute Selbstgespräche. Wir zogen in unser neues Haus, und sie blieb noch fünfzehn Jahre in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser, mit Außentoilette. Ich glaube, sie ist nur zweimal bei uns gewesen. Dabei lebten wir auf dem gleichen Grund, nur zweihundert Meter voneinander entfernt. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, doch zu meiner Konfirmation musste sie eingeladen werden.
Mein Vater sah täglich nach ihr, brachte ihr am Schluss auch das Essen. Eines Morgens fand er sie schwer verletzt vor, sie war mit dem Kopf auf die Herdplatte gefallen. In der Nacht darauf starb sie allein in der Klinik.
Ich habe kein einziges Foto von ihr. In meinem Tagebuch wird sie nur einmal erwähnt: als sie starb. Die Baracke blieb leer. Ich stöberte in ihren Sachen und entdeckte die Bücher, die sie nach dem Krieg gelesen hatte: Romane von Alberto Moravia oder John Steinbeck zum Beispiel, Autoren, die ich ihr nie zugetraut hätte.
Allmählich, im Lauf der Jahre, bekam ich einen Blick für das Drama ihres Lebens. Ich sagte mir, jede Generation bleibe allein mit ihren Erfahrungen. Jede verbringt ihre Lebenszeit abgeschottet von den früheren wie den späteren in ihrem eigenen Zeitdorf. Die Vorstellung, es könnte zwischen ihnen Austausch und Verständigung geben, erschien mir nur noch als schöne Illusion.
Hinter einer Bodenwelle unseres Gartens ist die grün gestrichene Holzbaracke sichtbar, in der ich noch mit meinen Eltern wohne. Oma Erna bewohnt zwei der fünf Räume, sie wird hier allein zurückbleiben, wenn unser neues Haus fertig ist.
Oma Erna ragte fremd in die Wirtschaftswunderzeit, wie die Ruine einer Raubritterburg ins Eisenbahnzeitalter. Wir sprachen wenig mit ihr. Meine Mutter behandelte ihre Schwiegermutter scheinbar mit Ehrerbietung, doch verbargen sich dahinter nur Unverständnis und Vorsicht. Mein Vater legte ihr gegenüber Herablassung, vermischt mit leichter Verachtung, an den Tag. Für Oma Erna war ich, der Enkel, auch nur einer von den anderen, die jetzt den Gang der Dinge allein bestimmten.
Vieles an ihr wirkte wie aus einer anderen Zeit und aus einer anderen Gesellschaftsschicht, etwa ihre Tischmanieren oder ihre Umgangsformen überhaupt. Sie drehte sich Locken mit der Brennschere und wollte in den Geschäften mit "Gnädige Frau" angesprochen werden. Sie trug jahrzehntealte, schon ewig aus der Mode gekommene Röcke auf. Allmählich bekam sie einen Buckel. Auf der Straße riefen ihr die Schuljungen "Hexe" nach.
Geboren war sie 1891. Ihr Mädchenname verriet ihre hugenottische Herkunft. Tatsächlich blieb ihr bis zuletzt etwas von der Unbeugsamkeit jener Vorfahren. 1912 heiratete sie meinen Großvater, einen kgl.-bayrischen Berufssoldaten. Er war von ländlich-bürgerlicher Herkunft und, wie es damals hieß, gut situiert. Sie wirtschafteten beide schlecht, bald war das meiste verwirtschaftet. Der Versailler Vertrag bedeutete für ihn die Entlassung aus der Armee. Um ihn zu versorgen, stellte der neue Staat ihn vor die Alternative: ein Pöstchen auf dem Rathaus oder ein Gütchen auf dem Land. Er wählte das Letztere. Ohne rechte Freude an der Sache schlugen sie sich eben so durch. Das älteste von drei Kindern starb früh. 1937 erlag mein Großvater einem Kehlkopfkrebs. Mein Vater vergeudete zwölf seiner besten Jahre mit Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft. Seine Schwester heiratete einen Soldaten und wurde noch im gleichen Jahr Kriegerwitwe. Oma Erna führte als Witwe die kleine Landwirtschaft weiter und versuchte, dem Leben noch einige schöne Seiten abzugewinnen. Sie liebte es noch immer, kleine Exkursionen in die Konditoreien zu unternehmen. Ihr nach wie vor bestehendes Interesse am anderen Geschlecht äußerte sich ziemlich unverhüllt. War es das, was mein Vater ihr übelnahm?
Meine Eltern hatten im Krieg geheiratet, mein Vater übernahm nun den Hof, vergrößerte ihn. Oma Erna blieben ein Wohnrecht und eine kleine Witwenrente, die nie zum Leben reichte. So rüstig sie noch war, für sie war das Leben so gut wie vorbei. Und ringsum erholte sich jetzt das Land von zwei Kriegen und zwei Inflationen. Arbeiten, sparen, Vermögen bilden, ein Haus bauen, noch ein Haus bauen - alle waren sehr beschäftigt. Oma Erna las ihre Illustrierten, hörte ihr Transistorradio und führte laute Selbstgespräche. Wir zogen in unser neues Haus, und sie blieb noch fünfzehn Jahre in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser, mit Außentoilette. Ich glaube, sie ist nur zweimal bei uns gewesen. Dabei lebten wir auf dem gleichen Grund, nur zweihundert Meter voneinander entfernt. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, doch zu meiner Konfirmation musste sie eingeladen werden.
Mein Vater sah täglich nach ihr, brachte ihr am Schluss auch das Essen. Eines Morgens fand er sie schwer verletzt vor, sie war mit dem Kopf auf die Herdplatte gefallen. In der Nacht darauf starb sie allein in der Klinik.
Ich habe kein einziges Foto von ihr. In meinem Tagebuch wird sie nur einmal erwähnt: als sie starb. Die Baracke blieb leer. Ich stöberte in ihren Sachen und entdeckte die Bücher, die sie nach dem Krieg gelesen hatte: Romane von Alberto Moravia oder John Steinbeck zum Beispiel, Autoren, die ich ihr nie zugetraut hätte.
Allmählich, im Lauf der Jahre, bekam ich einen Blick für das Drama ihres Lebens. Ich sagte mir, jede Generation bleibe allein mit ihren Erfahrungen. Jede verbringt ihre Lebenszeit abgeschottet von den früheren wie den späteren in ihrem eigenen Zeitdorf. Die Vorstellung, es könnte zwischen ihnen Austausch und Verständigung geben, erschien mir nur noch als schöne Illusion.