Neulich hat einer Ausschnitte aus Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971 ins Netz gestellt. Ich habe den Film nur einmal gesehen – 1972 – und bin jetzt neugierig, ob ich auf bekannte Gesichter stoße. Ich mache zwei Entdeckungen …
Da ist Henny, der Wirt der „S-Bahn-Quelle“ - ich weiß nicht, ob er es damals schon war; ich bin ihm erst in den folgenden Jahren begegnet. Die „Quelle“ lag in Charlottenburg, an einem stark verkommenen Durchgang zwischen dem Stadtbahnviadukt und hohen alten Häusern. Noch immer ist dort der Zugang zum S-Bahnhof Savignyplatz – doch die Ecke ist sehr verwandelt. Wo seinerzeit eine stimmungsvolle Szene für „Cabaret“ gedreht werden konnte, findet man jetzt nur eine langweilige Gasse zum Shoppen vor. Und ausgehen? Ja, wenn man braver Mittelschichtler und am besten auch noch Tourist ist.
Henny spielt sich selbst, d.h. er „tölt“, er macht sich schlangenhaft an diesen oder jenen ran, um im letzten Moment neckisch zurückzuweichen. Man weiß nie, über wen er sich mehr amüsiert, über sich selbst oder sein jeweiliges Gegenüber. Genauso wie im Film trat er als Kneipenwirt auf. Mit Parodie und Selbstpersiflage machte er sich weniger zum Affen als zu einer Art Mutter Courage der Ledermänner. Sein Lokal florierte einige Jahre lang auch dank emsigen Besuchs von Strichjungen wie von linken Studenten. Das Interieur: schmutzstarrend, die Angestellten: erbarmungswürdig. Barry Graves war dort Stammgast, Praunheim sah man manchmal, Fassbinder, wenn er in der Stadt war. 1975 wurde eine Konkurrenz eröffnet und die „Quelle“ verödete rasch. Brachte sich Henny deshalb nach einiger Zeit um? Möglich, ich weiß es nicht. Ich habe seine weitere Geschichte im Kopf, wenn ich mir seinen Auftritt bei Praunheim jetzt ansehe. Er übt gewissermaßen noch. Es ist derselbe Mensch, nur jünger. So kenne ich ihn und habe ihn so jung doch real nie gesehen.
Noch irritierender erlebe ich den gleichen Effekt bei Manfred Salzgeber. Er gibt im Film von 1971 einen speziellen jugendlichen Liebhaber, halb junger Groucho Marx, halb Alain Delon. Noch ist er hübscher, als ich später für möglich gehalten hätte, dabei eloquent, diskutierfreudig und von behänder Beweglichkeit. Dass der professionelle Cineast Salzgeber selbst schauspielerisches Talent besaß, ist neu für mich. Nicht vor der Mitte der Siebziger lernte ich ihn bei Gesprächen flüchtig kennen, und wir unterhielten uns länger erst nach meinem Weggang von Berlin. Ich traf ihn einmal in Amsterdam, wo er für Zeitungen schrieb, und er erklärte mir die soziale Unruhe, die gerade im Tulpenstaat herrschte. Später kam er ab und zu nach Hamburg, um neue Filme anzusehen – er war jetzt auch Filmverleiher -, und lief mir dann nachts über den Weg.
Ein letztes Mal sah ich ihn in den späten Achtzigern. Wir redeten kurz über den Film eines gemeinsamen Bekannten, dann erzählte er mehr als sonst von sich selbst. Ich habe mir immer gesagt, erklärte er mir, wenn du erst mal vierzig bist, fickst du weniger und schreibst mehr … Er sprach von Verträgen für Drehbücher und skizzierte mir den großen Roman, den er zu schreiben begonnen hatte. Er kam ohne falsche Bescheidenheit aus: Man wird vielleicht einmal an Dostojewski denken … Ich finde insoweit keine Spur einer Veröffentlichung. Er sagte auch schon einschränkend: Falls ich nicht zuvor von einer Seuche hinweggerafft werden sollte … Im August 1994 ist er an AIDS gestorben, vier Wochen vor Barry Graves.
Damals lud er mich am Schluss auf ein Bier ein – es war das Bier, das gewöhnlich mehr bedeutet. Ich sagte nein, und er empfahl sich rasch. Wenn ich ihn von nun an für immer fortgehen sehe, dann tut er es nicht länger auf die bisher von mir erinnerte Weise: skeptisch, gedankenvoll und durchaus nicht mehr jung, sondern mit dem Elan, dem Optimismus und der Jugendlichkeit aus Praunheims Film. Meine Toten werden jünger. Ich erlebe sie posthum auf eine Weise, wie sie mir zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind. Es sind noch entwicklungsfähige Wesen. Wahrlich, das sind jetzt Zeiten, in denen die Zeit rückwärts zu laufen beginnt.
Da ist Henny, der Wirt der „S-Bahn-Quelle“ - ich weiß nicht, ob er es damals schon war; ich bin ihm erst in den folgenden Jahren begegnet. Die „Quelle“ lag in Charlottenburg, an einem stark verkommenen Durchgang zwischen dem Stadtbahnviadukt und hohen alten Häusern. Noch immer ist dort der Zugang zum S-Bahnhof Savignyplatz – doch die Ecke ist sehr verwandelt. Wo seinerzeit eine stimmungsvolle Szene für „Cabaret“ gedreht werden konnte, findet man jetzt nur eine langweilige Gasse zum Shoppen vor. Und ausgehen? Ja, wenn man braver Mittelschichtler und am besten auch noch Tourist ist.
Henny spielt sich selbst, d.h. er „tölt“, er macht sich schlangenhaft an diesen oder jenen ran, um im letzten Moment neckisch zurückzuweichen. Man weiß nie, über wen er sich mehr amüsiert, über sich selbst oder sein jeweiliges Gegenüber. Genauso wie im Film trat er als Kneipenwirt auf. Mit Parodie und Selbstpersiflage machte er sich weniger zum Affen als zu einer Art Mutter Courage der Ledermänner. Sein Lokal florierte einige Jahre lang auch dank emsigen Besuchs von Strichjungen wie von linken Studenten. Das Interieur: schmutzstarrend, die Angestellten: erbarmungswürdig. Barry Graves war dort Stammgast, Praunheim sah man manchmal, Fassbinder, wenn er in der Stadt war. 1975 wurde eine Konkurrenz eröffnet und die „Quelle“ verödete rasch. Brachte sich Henny deshalb nach einiger Zeit um? Möglich, ich weiß es nicht. Ich habe seine weitere Geschichte im Kopf, wenn ich mir seinen Auftritt bei Praunheim jetzt ansehe. Er übt gewissermaßen noch. Es ist derselbe Mensch, nur jünger. So kenne ich ihn und habe ihn so jung doch real nie gesehen.
Noch irritierender erlebe ich den gleichen Effekt bei Manfred Salzgeber. Er gibt im Film von 1971 einen speziellen jugendlichen Liebhaber, halb junger Groucho Marx, halb Alain Delon. Noch ist er hübscher, als ich später für möglich gehalten hätte, dabei eloquent, diskutierfreudig und von behänder Beweglichkeit. Dass der professionelle Cineast Salzgeber selbst schauspielerisches Talent besaß, ist neu für mich. Nicht vor der Mitte der Siebziger lernte ich ihn bei Gesprächen flüchtig kennen, und wir unterhielten uns länger erst nach meinem Weggang von Berlin. Ich traf ihn einmal in Amsterdam, wo er für Zeitungen schrieb, und er erklärte mir die soziale Unruhe, die gerade im Tulpenstaat herrschte. Später kam er ab und zu nach Hamburg, um neue Filme anzusehen – er war jetzt auch Filmverleiher -, und lief mir dann nachts über den Weg.
Ein letztes Mal sah ich ihn in den späten Achtzigern. Wir redeten kurz über den Film eines gemeinsamen Bekannten, dann erzählte er mehr als sonst von sich selbst. Ich habe mir immer gesagt, erklärte er mir, wenn du erst mal vierzig bist, fickst du weniger und schreibst mehr … Er sprach von Verträgen für Drehbücher und skizzierte mir den großen Roman, den er zu schreiben begonnen hatte. Er kam ohne falsche Bescheidenheit aus: Man wird vielleicht einmal an Dostojewski denken … Ich finde insoweit keine Spur einer Veröffentlichung. Er sagte auch schon einschränkend: Falls ich nicht zuvor von einer Seuche hinweggerafft werden sollte … Im August 1994 ist er an AIDS gestorben, vier Wochen vor Barry Graves.
Damals lud er mich am Schluss auf ein Bier ein – es war das Bier, das gewöhnlich mehr bedeutet. Ich sagte nein, und er empfahl sich rasch. Wenn ich ihn von nun an für immer fortgehen sehe, dann tut er es nicht länger auf die bisher von mir erinnerte Weise: skeptisch, gedankenvoll und durchaus nicht mehr jung, sondern mit dem Elan, dem Optimismus und der Jugendlichkeit aus Praunheims Film. Meine Toten werden jünger. Ich erlebe sie posthum auf eine Weise, wie sie mir zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind. Es sind noch entwicklungsfähige Wesen. Wahrlich, das sind jetzt Zeiten, in denen die Zeit rückwärts zu laufen beginnt.