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Der Würger von Green Day
Autor: Christian Ertl · Rubrik:
Kurzgeschichten

„Ah, ja, es ist endlich warm draußen, Leute, und wer heute nicht endlich seine Pullover und Jacken in Kisten oder gaaanz hinten im Schrank verstaut, ist OUT. Gary?“
„Oooooooooooout, out, out, out.“
„Danke, Gary. Ich möchte wissen, wer mir einen Affen als Co-Moderator hier hingesetzt hat. Oh Gott, Gary, das macht man nicht mit einem Mikrofon.“
Mike Marill musste loslachen und drehte den Regler des Autoradios etwas lauter. Die Abendshow von David und Gary war immer zum Brüllen. Der arme David wurde diesen Affen einfach nicht mehr los.
„Ich beantrage eine einstweilige Aussetzung des Artenschutzabkommens. Diesem Orang-Utan gehört mal richtig...au...Gary...nein...nicht das Bein...das kitzelt. Ich muss mir was einfallen lassen. Währenddessen hier für die Jungen und Junggebliebenen: Pink Floyd.“
Oh ja, das war gut. Mike drehte noch etwas lauter und verschränkte zufrieden die Arme hinterm Kopf. Wenigstens langweilte er sich nicht, während er auf Lisa warten musste. Sie war sicher wieder beim Flirten mit einem ihrer Trainingspartner, aber das störte Mike nicht. Seine Tochter kam jetzt in ein Alter, da es ganz normal war, Interesse am anderen Geschlecht zu äußern.
„Hey, you“ sang David Gilmour und versetzte mit ein paar einfachen Worten eine ganze Generation in melancholische Stimmung. Es war der erste richtige Sommerabend dieses Jahr. Die Temperaturen hielten sich auch jetzt um 18.30 Uhr noch um die 20 Grad und Mike überlegte, sich in der Eisdiele „Gilmoni“ gegenüber der Sporthalle noch ein oder zwei Kugeln zu holen. Schoko und Vanille, nichts besonderes, Mike war ein einfacher Mensch, konnte mit dem neumodischen Kram selten etwas anfangen. Er rückte sich auf dem Ledersitz des Volvos zurecht, öffnete den obersten Knopf des Hemdkragens, der Schweiß stand ihm im Genick. Die Brieftasche zeigte ihm einen Hundert-Dollar-Schein, mehrere Kreditkarten, ein Foto seiner Familie, aber sonst nichts. Kein Kleingeld, und ein großer Schein war zu überheblich für zwei Kugeln Eis. Er würde darauf verzichten müssen, schade. Also, musste die Klimaanlage für Abkühlung sorgen. Kaum hatte er den Knopf gedreht, riss jemand die Beifahrertür auf und schrie: „Buh.“ Beinahe hätte er sich in die Hosen gemacht und sah das fröhliche Gesicht Lisas mit gemischten Gefühlen, musste aber dann selbst loslachen.
„Komm rein.“ Sie huschte auf den Beifahrersitz.
„Hier vorn darfst du eigentlich noch nicht sitzen.“ Er legte eine ernste Mine auf, um ihrem flehenden Blick Gegenwehr bieten zu können.
„Dad, heute habe ich Geburtstag.“ Sie fing zu schmollen an.
„Heute?“ Er riss die Augen auf, starrte ganz entsetzt und verlegen, bis sie seinen Bluff beinahe glaubte. „Hast du nicht erst morgen..“
„Dad, ich bin jetzt zwölf. Verarschen kannst du Tina, aber mich nicht.“ Tina war die kleine Schwester, gerade mal den Windeln entwachsen. Sie knuffte ihn am Oberarm. „Au“, spielte er „ok, ok. Wusste ja nicht, das die Geschenke heutzutage rausgeprügelt werden. Hier,“ er hielt ihr einen kleinen Umschlag hin, „alles Gute zum Geburtstag.“ Sie griff danach, er zog ihn weg. „Na?“ Er deutete mit dem Finger auf seine Wange. „Haben wir nicht etwas vergessen?“ Sie gab ihm einen fröhlichen Schmatz auf die Backe. „Danke, Dad.“ „So ist es gut, Kleine.“ Er gab ihr das Geschenk und setzte den Volvo in Bewegung.
Lisas braune Augen wurden so groß wie Kekse, als sie den Fünfzig-Dollar-Schein und die kleine Silberkette rausfischte. Sie wollte gerade zu jubeln anfangen, als Mike den Radio lauter drehte.
„Pst, Kleine.“
„Die Kurznachrichten auf CF108. Der Ausbau der Flughafenanbindung wurde nach dem Leichenfund einer 24-jährigen Prostituierten heute morgen fortgesetzt. Die Anzahl der ungeklärten Mordfälle in den letzten vier Monaten stieg somit auf sieben. Einen Zusammenhang, so Chief Clark, könnte gegeben sein, aber noch nicht eindeutig bewiesen. Sicher sei nur, das alle Opfer erwürgt worden sind und sich sonst keine Spuren bisher fanden. Chief Clark weist Vorwürfe zurück, die Polizei würde im Dunkeln tappen. Es gäbe eindeutige Hinweise. Die Ermittlungen dauern an.“
„Wenn die Hinweise so eindeutig sind, wieso läuft der Irre dann noch frei rum?“ Mike sprach mehr mit sich selbst und bemerkte erst jetzt das besorgte Gesicht Lisas. Sofort schaltete er das Radio aus und setzte eine sorglose Mine auf.
„Na, Kleine, mach dir keine Sorgen. Die kriegen ihn und dann ist der Spuk vorbei.“
„Die Leute in der Nachbarschaft machen sich Sorgen. Die Toten sind alle aus unserem Viertel.“ Lisa ließ sich nicht so schnell beruhigen. Er bog in die Auffahrt zu seinem kleinen Häuschen, stellte den Motor ab. Seine Stirn zeugte von ernsten Sorgenfalten.
„Dad.“
Es war unglaublich, aber wahr. Niemand machte sich ernsthaft jemals Gedanken, dass solche Horrormeldungen, wie sie jedes Mal aus dem Radio oder dem Fernseher kamen, in ihr Leben eindringen würden. Man fühlte sich immer irgendwie unangreifbar. Hier bei uns gibt es so etwas nicht, war ein beliebter Spruch. Nun, die Realität kommt manchmal mit einem erbarmungslosen Knall und dann reißen alle die Augen auf und sind völlig verwirrt, das sie selber plötzlich Mittelpunkt einer Mord- oder Vergewaltigungs-, Betrugs- oder Katastrophenserie sind. Hier draußen im Vorort „Green Day“, ein Viertel für die etwas besser Verdienenden, war so etwas undenkbar. Bis vor vier Monaten Milchmann Prims an einem frühen Januarmorgen, es war so gegen fünf, unter einem Schneehaufen die Leiche der Branning-Tochter fand. Die Brannings wohnten nur drei Häuser weiter als die Marills und der Schock saß tief, nachdem klar wurde, das es kein Unfall war.
„DAD!“
Mike schreckte hoch.
„Du sagst doch die Wahrheit, oder? Ich meine, sie müssen ihn doch irgendwann mal kriegen.“
Lisa hatte ihre beste Freundin vor zwei Monaten verloren. Es war wieder der „Würger“, der die Leiche der kleinen Mia wie Abfall in einen Container vier Straßen weiter stopfte.
Mike schaute ihr tief in die Augen und musste sich selbst belügen, als er sagte „natürlich, Kleine, das dauert nicht mehr lange.“
Als Lisa aus dem Wagen hüpfte und in den Garten hinter das Haus zu ihrer Geburtstagsparty lief, schaute Mike die Straße entlang. Es war mehr ein misstrauischer Kontrollblick, während er seine eigene Sporttasche aus dem Kofferraum holte. Die meisten Nachbarn hatten sich zurückgezogen. Nicht nur von den Marills. Keiner traute mehr den anderen so richtig, denn solange der Mörder nicht gefasst wurde, war jeder verdächtig. Gerade hier in „Green Day“, wo jeder jeden kannte, war die Tatsache, das der Mörder offensichtlich unter ihnen wohnte, ein psychologischer Albtraum. Einige sind, wo es möglich war, vorübergehend weg gezogen, haben ihre Familie in Sicherheit gebracht. Das konnte Mike sich nicht erlauben. Gerade erst war er in die neue Kanzlei gewechselt und hatte die ersten Steuerrechtsfälle zu bearbeiten. Seine Frau konnte nicht weg, da sie vormittags eine alte Dame am anderen Ende der Hillside-Road zu betreuen hatte. Diese Aufgabe konnte und wollte sie nicht abgeben, sehr zu seinem Unverständnis. Was hätte er davon, wenn seine Mary oder Lisa (Tina passte nicht in das Opferprofil, sagte die Polizei) tot wären, die alte Schrulle aber noch weiter sabbernd in ihrem Rollstuhl auf der Veranda das Leben lebte, das sie eigentlich schon längst auf natürliche Weise hätte beenden sollen. Entsetzt ertappte er sich dabei, als er ins Haus kam, das er der Alten den „Würger“ an den Hals wünschte. Verdammt, fröstelnd lief ihm ein Schauer über den Rücken, hoffentlich haben sie ihn bald.
„Mary, wir sind da.“
Vom hinteren Teil des Hauses mit dem Wohnzimmer und der Veranda konnte er Gemurmel vernehmen. Aha, die Party war schon im Gange. Es tat ihm irgendwie leid, dass Lisa nicht eine größere Feier bekam, aber beinahe alle Einladungen wurden ignoriert. Es kamen nur die Borders mit ihrem Sohn Frank, der sich leidenschaftlich in seine Kleine verliebt hatte (noch war es nicht so Ernst, so das Mike darüber noch schmunzeln konnte). Und so weit ihn nicht sein Gehör täuschte, waren auch die Carsons mit den Zwillingsmädchen da. Die beiden verstanden sich blendend mit Lisa. Das reichte zwar für keine große Feier, aber immerhin war damit Lisas Abend gerettet.
„Ich weiß,“ Mary kam ihm entgegen mit einem Drink in der Hand. Er nahm sich das Glas Gin Tonic, setzte an, leerte es und reichte es ihr wieder zurück. Dann gab er ihr einen dicken Schmatz, griff ihr mit der freien Hand an den Po und sagte frech: "Hey, du scharfes Ding, du.“
„Heeeh,“ sie schob die Hand weg, „nicht jetzt, dafür ist vielleicht später noch Zeit, du ebenso scharfes Teil. Wie war das Training?“ „Oh, gut, die Jungs vom Team sind echt in Ordnung..“ Sie kniff ihm in den Schritt, zwinkerte ihm zu und verschwand hüftschwingend wieder in den Garten.
Er blieb erst verdutzt stehen, sie hatte offensichtlich schon etwas mehr getrunken, sah sich schon im Schlafzimmer mit ihr bei leidenschaftlichen Spielchen heute Nacht, brachte vergnügt die Sporttasche nach oben ins Bad und leerte die verschwitzte Wäsche in den Wäschekorb, wobei er das Shirt mit dem Aufdruck des Softball-Teams, bei dem er neuerdings einmal die Woche trainierte, sofort in die Trommel zu der anderen Buntwäsche stopfte.
Im Garten roch es nach einem leckeren Barbecue. Die Spareribs brutzelten auf dem Grill, das Flaschenbier war in einem kleinen Eisfass kühl gestellt, Salate aus Kartoffeln, Gurken, Mais und Bohnen sammelten sich auf einen Beistelltisch und die Freunde der Familie standen fröhlich plaudernd mit Cocktails und Softdrinks in der Hand zwischen sich tummelnden Kindern. Für einen Moment sah Mike eine kleine, perfekte Welt vor sich. Die roten und blauen Gartenlampen, die er am Vortag zwischen die Bäume aufhing, zeichneten in der untergehenden Sonne einige bunte Punkte auf den Rasen. Er
nahm sich ein Bud aus dem Fass, öffnete es und begrüßte Samuel und Elvira Border. Sie war wie immer etwas überschminkt, was durch das Farbenspiel seiner Krawatte aber wieder wettgemacht wurde. Es gesellten sich alle um den großen Gartentisch und ließen sich die Spezialburger und Ribs (mit einer merkwürdig geheimen Soße) seines besten Freundes, Bill Carson, schmecken. Für ein paar Stunden war jeglicher Gedanke an den Horror, der sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft abspielte, vergessen.
So gegen neun Uhr abends, die Kinder spielten oben im Haus, war es Samuel Border, der das Gespräch wieder auf den „Würger“ brachte. Alle waren schon etwas angetrunken und amüsierten sich gut, so wirkte sein Satz wie eine kalte Dusche.
„Ich habe da so eine Theorie über den Wahnsinnigen.“ Sofort trat ihm Elvira an sein Bein, aber er hatte den Satz schon ausgesprochen. Das allgemein fröhliche Lachen verstummte, Mike sah sich als Gastgeber in der Pflicht, darauf zu antworten. Er schnaufte tief durch.
„Sag an, Sam. Was für eine Theorie hast du, die nicht schon irgend jemand geäußert hätte.“
„Ich meine..“
„Nicht so laut.“ Elvira fiel ihm ins Wort. „Die Kinder.“
„Ich meine,“ er strafte seine Frau mit einem Blitz aus geweiteten Pupillen (Mike vermutete, das er sich eine Line Koks gegönnt hat) „wir liegen schon richtig mit unserem Verdacht, das es einer aus der Nachbarschaft sein muss. Aber wieso verdächtigen wir nur, wenn die Antwort doch klar auf der Hand liegt.“
Jetzt wurden alle hellhörig. Das konnte interessant werden. Sam beugte sich nach vorne, sein Blick senkte sich theatralisch und im verschwörerischen Tonfall setzte er fort: „Es fallen meiner Meinung nach alle Familienväter aus, da der Täter sonst Spuren hinterlassen würde. Ich meine, keine Frau ist so blöd, nicht zu merken, dass ein Mörder neben ihr schläft. Meine Elvi merkt ja schon, wenn ich nur daran denke, ihr den Kopf abzureißen.“ Er brüllte lautstark los, war sichtlich stolz auf seine witzige Art. Die kleinen Spucktröpfchen, die dabei über die Schminke seiner Frau nieder gingen, machten die Situation nicht gerade angenehmer für sie.
„Sam, du altes Arschloch“ sagte Mike. „Ich wusste, das du uns verarschen wolltest.“
„Nein,“ prustete er „diesmal seid ihr mir auf den Leim gegangen.“
Mike fiel auf, dass Bill nicht lachte.
„Was ist, Bill. Bist du der Mörder oder warum lachst du nicht.“
Er ignorierte den Kommentar Mikes. „Ich glaube, Sam hat diesmal gar nicht so unrecht.“
Sofort verschluckte Sam sein Lachen und riss die Augen ungläubig auf. „Was? He, das war Spaß.“
„Vielleicht, aber ich denke, er ist wirklich ein Einzelgänger. Und davon haben wir hier nur zwei.“
Bill ließ den Blick über die Gesichter seiner Freunde gleiten. Er nahm einen weiteren Schluck Bier (sein fünftes und damit war er der Loser, was den Konsum anging) und setzte fort: „Ja, genau. Jetzt schaut ihr. Darauf hätten wir auch früher kommen können.“
„Ok,“ Mike stand auf und blickte in das Dunkel des Waldes hinter dem Garten, „du sagst, es sind zwei. Mir fällt da nur der alte Clayton ein.“
„Genau.“ Sam kam wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Aber der kommt ohne seinen Krückstock nicht allzu weit rum. Der scheidet aus.“
Bill stand nun auch auf, leerte seine Flasche. „Und wer bleibt dann noch?“
Ein Schweigen sagte ihm, das er es aussprechen sollte. „Ja, der komische Bernard, drüben am Sideway Drive.“
Mike fuhr herum. „Sag mal, denkst du nicht, das die Polizei da schon längst draufgekommen ist. Ich weiß zufällig, das der Kerl nun schon drei mal verhört worden ist. Sie haben sein Haus mehrmals auseinander genommen. Nichts. Gar nichts.“
Bill ließ sich nicht beirren. „Nun, vielleicht hat die Polizei nichts gefunden, aber ich bin mir sicher, dass er es ist.“
Sam stutzte „und warum bist du so sicher, das er es ist?“ Er konnte ein gelangweiltes Gähnen nicht unterdrücken. Mike wollte Bill schon für sturzbetrunken erklären, als dieser sagte: „Nun, er ist der Einzige, der keinen von uns jemals zu sich eingeladen hat. Mike, du warst schon in jedem Haus in diesem Viertel zu Gast und wohnst erst seit zwei Jahren hier. Ich war schon überall eingeladen. Sam?“ Sam nickte nur. „Genau, auch er war, obwohl er manchmal etwas merkwürdig ist, überall. Alle hier sind sich vertraut, nur einer meidet uns.“
Mike musste sich setzen. Irgendetwas in ihm sagte, das Bill durchaus Recht haben könnte. Abgesehen davon, das dieser Bernard keinen Kontakt wünschte, machte er jeden Tag einen Spaziergang durch das Viertel und grüßte niemanden. Vielleicht sucht er sich ja seine Opfer dabei aus? Mary ergriff das Wort: „Ich meine, es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit heraus zu finden.“ Sie würde das niemals so von sich geben, wenn sie nicht schon ein paar Drinks intus hätte. „Geht zu ihm und prügelt ihm die Wahrheit raus. Prost.“ Sie lachte los und erwartete, das die anderen ihrem nicht so ernstgemeinten Spruch zustimmten, doch die Männer sahen sich nur an und plötzlich wurden sie zu einer Gemeinschaft, die ein Geheimnis aufzudecken hatte.
„Wer kommt mit?“ Mike stellte seine Flasche ab und machte Anstalten, aufzubrechen.
„Ich. Ich komme mit.“ Bill sah zu seiner Frau, die ihm einen bewundernden Blick zuwarf. Sam brauchte seine Elvira gar nicht erst zu fragen. Sie würde am liebsten selbst mitkommen. „Na klar. Hauen wir dem ollen Bernard seine Visage in Stücke. Dieses Arschloch wird sich wünschen, niemals geboren worden zu sein. Schluss mit dem Würger.“
„Alles klar,“ Mike ging ins Haus, „ich muss noch schnell pissen, dann kann es losgehen.“
Auf der Treppe hörte er die Kinder toben. Als er fast ganz oben war, kam ihm die ganze Horde, angeführt von Lisa, entgegen gerannt. Sie wollten sich an ihm vorbei drängeln, aber Mike hielt seine Tochter am Arm fest. Sie wedelte mit den Händen vor ihrer Nase, „Puh, Dad, du stinkst nach Alkohol.“ Die Zwillinge und der Junge kicherten und liefen nach unten.
„Sag mal, du Frechdachs, wo ist eigentlich deine kleine Schwester?“
„Oh,“ sie versuchte, angestrengt nachdenkend zu wirken, „irgendwo hier oben.“
Er ließ sie los und ging ins Bad. Die Blase drückte unangenehm. Die Melodie „Hey you“ summend öffnete er die Tür und erstarrte. Das Licht war schon an. Irgendwo im Hintergrund konnte er die ungeduldigen Rufe seiner Kumpels hören.
„Hey, Mike, nimm doch ne Binde deiner Frau.“ Sam wurde wie immer, wenn er zuviel getrunken hatte, ausfallend. „Oder, ne Windel deiner Tochter. Hahaha. He, Mike. Komm schon.“
„Wir warten vor der Tür.“ Das war Bill. „Komm, schon, du Säufer.“ Mike hörte, wie Bill den singenden Sam nach draußen zog. Sie lachten.
Vor Mike stand die Waschmaschine. Vor der Waschmaschine stand seine kleine Tochter Tina. Sie hatte sich offensichtlich hier alleine umgesehen und in der Trommel gewühlt. Dabei muss sie sein Shirt vom Training rausgezogen haben. Mit großen Augen und ihm entgegen gestreckten Armen flehte sie fröhlich ihren Dad an, er solle sie hochheben. Sie hatte das Shirt angezogen und zupfte daran.
„Daddy, T-Shirt.“ Tina lachte. „Schönes Daddy T-Shirt.“
Auf dem Shirt war quer über den Aufdruck seines Teams eine riesige dunkelrote Blutspur. Über und über war der Rest des Shirts mit dicken Spritzern in Rot bedeckt. Tina hatte darin gewühlt. Auch ihre Hände waren voller Blut.
Entsetzt wich er einen Schritt zurück. Wessen Blut war das? Wie kam es auf sein Shirt? Er hatte doch Training und beim Softball gab es niemals ernste Unfälle. Tina kam ihm mit ihren roten Händen hinterher.
„Daddy, hochheben.“
„Es ist nicht dein Blut.“ Er fuhr herum. Wer war das? Aber er sah nur sein Gesicht im Badspiegel.
„Hallo?“ Panisch drehte er sich im Kreis. „Hallo?“ Ihm wurde schwindlig. Da stoppte er seine Drehbewegung vor dem Spiegel und sah, wie das Gesicht (sein Gesicht) zu einer verzerrten Fratze wurde. Das Spiegelbild sprach mit ihm. Was sollte das?
„Es ist das Blut Dorothy Myes. Du hast sie heute getötet und du hast nicht viel Zeit. Also, pass auf.“
Er wich vor der entstellten Grimasse zurück, fasste sich dabei unbewusst an die Lippen.
„Zieh ihr das T-Shirt aus“ befahl ihm das Gesicht.
Plötzlich sah er im Spiegel hinter der Fratze, wie er heute der hübschen Dorothy aufgelauert hatte, während seine Frau glaubte, er sei im Training. Er sah, wie sie sich zu wehren versuchte, als er sie erwürgen wollte. Sie kam ihm aus. Er musste sie stoppen. Er lief ihr hinterher. Ein Messer. Aus seiner Tasche. Er holte sie ein. Sie schrie um Hilfe, aber zu spät. Er stach zu. Und stach, und stach, und stach.
„Zieh ihr das T-Shirt aus.“ Das Bild erstarrte und verflog. Er sah in sein? Gesicht, es zischte „Los.“
Betäubt gehorchte er und zog Tina das Shirt vorsichtig über den Kopf.
„Ab damit in die Waschmaschine und einschalten. Wasch ihr die Hände. Los.“
Als er die Maschine einschaltete und gerade das Blut von den Händen seiner Tochter wusch, fiel ihm eine Veränderung an seinem Spiegelbild auf. Es wurde freundlicher. Es wurde wieder so, wie er es kannte.
„Du wirst, sobald du das Badezimmer verlassen hast, keine Erinnerung mehr an das hier haben.“ Das Gesicht lächelte jetzt sanft und hielt den Kopf leicht schräg. „Ich und du, wir werden noch sehr viel Spaß haben. Aber du darfst niemals dein Training vernachlässigen. Wir wollen doch nicht aus der Übung kommen.“ Mit einem Mal riss es die Augen auf und kam nach vorne. Er konnte regelrecht den Atem seines Konterfeis spüren. War er das noch selbst? „Und du willst doch nicht, das deiner Familie etwas zustößt“ zischte sein Gesicht ihn an. Mit einem Grinsen wurde es wieder zu seinem Ebenbild. Er sah sich um, alles war völlig normal.
„Daddy, Tina müde.“ Da fiel ihm auf, das seine Tochter nichts von alldem mitbekommen hatte. Er war verwirrt. War er das selbst im Spiegel. War er der Würger? Er setzte Tina ab und sagte ihr, sie solle zu seiner Mutter nach unten
gehen. Es dauerte zwei Minuten, als Bill und Sam in der Badezimmertür auftauchten.
„He, Mike, was ist los? Wollten wir nicht dem alten Bernard einen Besuch abstatten?“
Mike saß auf einem Stuhl und starrte in die sich drehende Waschmaschinentrommel. Erst ein Schlag Bills an seinen Oberarm holte ihn zurück.
„Ja?“
Bill war nun offensichtlich auch in der richtigen Stimmung. „Auf geht’s.“ Er zog Mike hoch. „Los, du großer Mann. Wir brauchen einen Anführer.“ Sie schleppten Mike gemeinsam runter und raus auf die Straße. Mary lief ihm hinterher, sie war nun doch sturzbetrunken, torkelte und rief „Los, Mike, mach den Würger alle. Du bist mein Mann. Du bist unser Mann.“
Sam und Bill flankierten ihn, klopften ihm auf die Schulter. „Los, Mike, wir zeigen dem Typen, was es heißt, unschuldige Frauen und Kinder zu ermorden. Diesen Abend wird er so schnell nicht vergessen.“
Mike Marill sah in die Augen seiner Freunde, sah, das sie ihn brauchten (er war ihr Mann) und legte ein Lächeln auf die Lippen: „Oh ja, wir schnappen uns jetzt den Würger.“


Einstell-Datum: 2005-02-25

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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