„Ist der Mensch ein böses Wesen“ fragten die großen roten Buchstaben auf der Titelseite. Josh schlug die Zeitung um und flüsterte die Worte, die noch größer als Aufhänger ganz oben prangten: „Weltuntergang!“ Umrahmt wurde die Meldung des Tages von einem Bild, das schon am Abend zuvor durch die Medien ging. „Meldung des Tages ist gut“, dachte sich Josh, „gab wohl seit Anbeginn der Zeit keine Schlimmere“. Das Bild zeigte einen dunkelroten Himmel und einen Atompilz. Im Hintergrund konnte man noch mehrere Wolken erkennen, die unnatürlich aus dem Boden wuchsen. Das Land unter den Bomben war bis zum gestrigen Tage die USA.
Josh blätterte auf Seite Zwei. Der Bericht startete mit den Worten: „Die Neue Welt ist Geschichte. Am Dienstag, den 18. Mai 2006, wurde die USA von einer Reihe flächendeckender Atomexplosionen heimgesucht. Die genaue Zahl der Bomben ist nicht bekannt, genauso deren Herkunft. Sie wurden offenbar am Boden gezündet. Seitdem fehlt jeglicher Kontakt zu den Vereinigten Staaten. Sämtliche Flüge sowie Schiffe wurden gestoppt. Es gibt keinerlei Anzeichen für überlebende Personen. Spekulationen über vereinzelte Mittelwellen-Funksprüche haben sich noch nicht bestätigt. Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der am frühen Montagmorgen von der neu gegründeten GP verhaftet wurde, ist jegliche öffentliche Aussage verweigert worden, teilte das GP mit.“
Josh legte die Zeitung zurück auf den Tisch in der Wartehalle des Gerichtsgebäudes, rückte sich den Waffengurt und die Mütze, die ihn als Sicherheitspersonal der GP kennzeichnete, zurecht und machte sich auf den Weg nach draußen. Vor dem imposanten Bau mit dem überdimensionalen Auge auf der Front wartete Frank Stewart auf ihn.
„Guten Morgen, Josh.“
„Was soll an diesen Morgen gut sein?“ Er schaute an seinem Kollegen vorbei und suchte den Horizont ab. Keine Bombe.
„Ich glaube nicht, das hier irgendwelche Atomsprengköpfe hochgehen.“ Frank verzog den Mund zu einem angestrengten Lächeln, konnte es aber nicht verhindern, auch die weitläufige Landschaft um das Gebäude unruhig zu betrachten.
„Seit gestern ist nichts mehr unmöglich.“
„Ja, da hast du wohl Recht.“ Frank löste sich aus seiner Starre und ging auf Josh zu. „Zeit für den Kontrollgang. Danach müssen wir für den Transport und das Urteil auf unseren Posten sein. Also los?“
„Ob das noch Sinn macht?“
„Ich denke schon.“ Franks Augen waren wieder auf den Horizont gerichtet. „Es ist die Pflicht der GP, den Willen der Völker auszuführen. Und die Menschen haben nun mal so entschieden.“
Die Männer machten sich auf den Weg. Es war zwar unwahrscheinlich, das sich Personen, insbesondere Reporter, dem Gebäude nähern konnten, aber nicht unmöglich. Es gab vor zwei Monaten einen, der es durch die äußeren Sperrringe mit einer Beißzange geschafft hatte. Als bekannt wurde, das mithilfe eines fast schon antiken Werkzeuges das modernste und sicherste Gebäude der Welt beinahe überlistet worden wäre, ist das Sicherheitspersonal verdoppelt und die Sperrringe um mehrere Zusätzliche erweitert worden. Der Journalist kam allerdings nicht mal in Sichtweise des Baus. Er wurde von den Sicherheitsrobotern erfasst und weggebracht. Wohin, wussten auch Josh und Frank nicht, da die Roboter dem zweiten Sicherheitspersonal angehörten. Beide Sicherheits-Strukturen agieren völlig unabhängig voneinander und werden nur durch ein System aus Entscheidungsträgern, deren Aufenthaltsort unbekannt ist, koordiniert. Genauso verhält es sich auch mit dem kompletten Personal auf dem Gelände. Es gibt jeweils zwei unabhängige Strukturen bei den Wärtern, den Versorgungsleuten, den Mechanikern bis hin zu den Richtern und Geschworenen. Das Gebäude der GP ist unabhängig von einer Staatsform oder Regierung und ein neues selbsternanntes, ausführendes Rechtsorgan der Menschen der Welt. Der Bau wurde über Jahre geheim gehalten und als die neue Gerichtsbarkeit ans Netz ging, da wurde nur bekannt gegeben, das eine Menschenrechtsorganisation namens GP den Bau aus Spendengeldern finanziert hatte und sich daraufhin sofort auflöste. Sämtliche Personen, die der Organisation angehörten, haben sich auf einer Farm in Massachusetts das Leben genommen. Man fand die Leichen einen Tag nach Inbetriebnahme des Gebäudes. Alle Aufzeichnungen, Baupläne oder Dokumente waren verschwunden. Die Menschen, die für das GP arbeiten, sind allesamt durch verborgene Internetaufrufe zu der Organisation gestoßen. Auch sie hatten niemals Kontakt zu den „Gründern“. Es gab keinen greifbaren Verantwortlichen und die Entscheidungsträger kannten sich untereinander auch nicht. Damit wurden sämtliche Möglichkeiten der Korruption von vornherein ausgeschlossen. Wer auch nur daran dachte, sich einen Eigennutzen aus dem GP zu machen, wurde sofort eliminiert. Und das mit dem Denken war tatsächlich so, den der eigentliche Knüller wartete im Inneren des Gebäudes auf: der Gerichtssaal. Durch eine unbekannte Technik war es möglich, innerhalb des Raumes alle Gedanken der anwesenden Personen zu lesen. Die Geschworenen wussten, was der Richter dachte, der Richter wusste, was der Angeklagte verbarg, der Angeklagte wusste, was das Personal von ihm dachte und so weiter. Innerhalb des Raumes war es unmöglich, irgendetwas zu verbergen.
Am 15. Mai 2006 ging ein Aufruf über das Internet um die Welt. Es war die Sensationsmeldung und alle Medien stoppten das laufende Programm, um mitzuteilen, das ab nun alle Menschen der Welt sich mit ihrer Stimme Gehör verschaffen können. Es war nun möglich, bestimmte Menschen verhaften zu lassen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder egal welcher Art ausübten. Dazu wurde von der GP veröffentlicht, das es einer bestimmten Mindestanzahl an Stimmen bedarf, damit sie tätig werden können. Sie legten fest, das sich die Höhe der benötigten Stimmen an der momentanen Weltbevölkerung anlehnt. Fünfzig Prozent, also momentan 3,25 Milliarden sind notwendig, um eine Person verhaften zu lassen. Dazu sei es nur notwendig, auf der Internetseite auf das entsprechende Konterfei zu klicken. Die Bilder konnten von den Usern selbst hochgeladen werden. Es dauerte nicht mal eine halbe Minute, da war das Bild des amerikanischen Präsidenten online. Nachdem einige wenige dazu kamen, zog der Präsident mit seinen Stimmen weit davon. Nach zwei Stunden waren es schon 500 Millionen, weitere drei Stunden und die 1,5 Milliarden waren erreicht. Der Präsident gab am 16. Mai um zwölf Uhr mittags eine Pressekonferenz, in der er ausdrücklich darauf hinwies, das er sich unter keinen Umständen der Gerichtsbarkeit diesen, wortwörtlich „menschlichen Irrsinns“ unterwerfen werde. Daraufhin wurde innerhalb kürzester Zeit die drei Milliarden-Grenze geknackt.
Es kam in der Nacht vom Sonntag auf den Montag zum Showdown in Washington. Der Präsident hatte, als nur noch 200 Millionen Stimmen fehlten, mit einem Atomkrieg gedroht. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen, um den Präsidenten vor „Gefahren“ zu schützen. Aber sie rechneten nicht mit der Erfindungsgabe der Gründer der GP. Das weiße Haus war besser gesichert als Fort Knox und gerade als freudestrahlend der Präsident nach Überschreitung der 3,5 Milliarden Stimmen aus dem Oval Office verkündete, es sei offenbar nur ein Scherz irgendwelcher Internethacker gewesen, materialisierten sich zwei schwarzgekleidete Männer in dem Büro, legten die Wachleute mit Elektroschocks lahm und verschwanden zusammen mit dem Präsidenten auf die gleiche Art und Weise.
Josh und Frank beendeten ihre Runde nach zwei Stunden. Sie machten sich auf den Weg zum „inneren Zirkel“, dem Gefängnisbereich.
„Warst du schon mal im Gerichtssaal“ fragte Josh.
„Ja, es ist unheimlich.“
„Ich stelle mir das als großes Chaos vor, wenn gleichzeitig alle Gedanken zu hören sind.“
„Nun, deshalb sind auch nur wenige, für den Prozess wichtige Leute im Raum. Der Angeklagte wird vom Personal in den Saal gebracht. Sobald sie den Raum betreten, ist es möglich, alle Gedanken zu hören. Das ist irgendwie seltsam, denn plötzlich offenbaren sich die tiefsten Geheimnisse.“ Sie kamen an die erste von unzähligen Sicherheitsschleusen. Die Prozedur der Ausweisung mithilfe von biometrischen Daten war nicht sehr zeitaufwendig und lief beinahe schon automatisiert ab.
„Woher willst du das wissen“ sagte Josh, als er den Ausweis wieder in die Brusttasche schob. „Der Präsident ist doch der erste Fall hier.“
„Es gab Testläufe. Ich habe dabei den Angeklagten gespielt. Und damit du das gleich weißt und dich später nicht wunderst: Ich trage ab und zu Damenunterwäsche.“
Josh musste loslachen. „Was, warum sagst du mir das?“
„Das wirst du bald selber feststellen.“ Das Grinsen auf Franks Gesicht, als er seinen verdutzten Partner stehen ließ, sprach Bände. Und als Frank klar wurde, warum, versteinerte sich sein Lachen.
Schweigsam betraten sie den Zellentrakt. Der Präsident war in einem geräumigen Zimmer untergebracht. Als Frank und Josh um die Ecke bogen, sahen sie ihn in der Bibel lesend auf der Pritsche sitzen. Die Zeit einer Untersuchungshaft war nicht mehr notwendig, da der Angeklagte sich selbst entweder belastete oder freisprach.
Als der Präsident bemerkte, wie sich die zwei näherten, sprang er sofort auf und begann, wüste Beschimpfungen über sie hereinbrechen zu lassen. Er werde sich das nicht bieten lassen, er werde kein Gericht außerhalb der USA akzeptieren und es würde noch ernsthafte Konsequenzen für alle, er betonte „ALLE“ Beteiligten haben. Frank und Josh waren angewiesen, keinerlei Worte mit dem Gefangenen zu wechseln. So gerne sie auch mit dem „Präsidenten der freien Völker“ gesprochen hätten, es gab eindeutige Anweisungen, die bei der geringsten Missachtung aufs Schärfste bestraft wurden.
Einige Minuten später war das Trio unterwegs zum Gerichtssaal. Weitere Schleusen, diesmal von Robotern bewacht, mussten passiert
werden. Und je näher sie dem „Saal“ kamen, desto schweigsamer wurde der Präsident. Josh bemerkte einen unangenehmen Schweißgeruch. „So muss Angst riechen“, dachte er sich. Da tauchte vor ihnen die Tür zum „Saal“ auf. Eine Panikattacke überkam alle drei. Josh hielt eine Hand auf der Schulter des Präsidenten, als Frank die Tür öffnete. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bevor sie die Schwelle übertraten.
Der erste Eindruck war überwältigend. In völliger Schlichtheit präsentierte sich der Gerichtssaal. Der Richter, ein etwas dicklicher, farbiger Mann schaute nicht von seinen Unterlagen hoch, als sie herein kamen. Das Schild vor ihm weißte ihn als „Richter Morgan Crowd“ aus. Der Mann saß auf einem mintgrünen Sessel, vor sich ein einfacher Schreibtisch mit einem Monitor darauf. Davor war ein billiger Holzstuhl aufgestellt, zu dem der Angeklagte geführt wurde. Das war alles: Keine Bilder, kein Kreuz, schlichter Parkettboden, drei weiße Wände, eine Glaswand zur Linken des Richters und ein dunkler Raum dahinter.
Wesentlich beeindruckender waren die Stimmen. Joshs Augen warfen wirre Blicke und beinahe hätte er den Präsidenten vergessen. Frank stieß ihn an und lächelte. „Na, wie geht’s?“
Wie es geht? Wie geht’s? Das war Frank. In seinen Gedanken. Er sah ihn reden, hörte aber auch die Gedanken. Ich reiß dir die Eier bei der ersten bietenden Gelegenheit ab. Der Präsident. Aber er meinte nicht ihn, er schaute zu dem Richter. Mal sehen, wer hier wem was abreist. Der Richter. Es war totenstill im „Saal“, aber gleichzeitig mörderisch laut. „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten.“ Ein Lied. Das kam wieder von Frank. Oh, offenbar die beste Idee hier drin. Ein Lied. Das lenkt von den Gedanken ab. Jetzt bringt ihn schon zum Stuhl. Der Richter schaute ungeduldig zum Trio.
Sie brachten den Präsidenten zum Stuhl, wurden von zwei Robotern abgelöst und verließen den Saal wieder. Wütend blickte der Präsident hinter ihnen her. Josh fing noch Gedankenfetzen wie „..Ihr Wichser..“, „..Die kriegen mich niemals..“, „..Ich bin unschuldig, unschuldig, UNSCHULDIG..“ auf. Als sie durch die Tür kamen, war der Spuk vorbei. Josh musste sich setzen und tief durchatmen. „Das ist unglaublich.“
„Ja,“ Frank setzte sich zu ihm, „er wird seinen Spaß haben.“
„Du meinst den Richter?“
„Nein.“
„Wieso?“ Josh schaute fragend zu ihm.
„Nun. Es wird ein kurzer Prozess. Der Richter wird ihm ein paar Fragen stellen und er wird sich dazu äußern. Aber das ist unwichtig. Es zählen seine Gedanken. Die sprechen die Wahrheit.“
„Und was wird ihm vorgeworfen?“
„Och, so einiges. Auf der Website von GP stehen die Wichtigsten. Auch von den Usern abgestimmt. Zum Beispiel wird er zu Irak, Afghanistan, Syrien und den Iran befragt. Nordkorea wird auch ein Thema. Sie werden die wahren Hintergründe aufdecken. Und natürlich den Atomvorfall. Man wird sich brennend dafür interessieren, woher die Dinger kamen.“
„Denkst du, er hat sie selbst zünden lassen?“
„Ich weiß es nicht.“ Frank zog ein angestrengt nachdenklich wirkendes Gesicht. Josh hatte das Gefühl, das er nicht die Wahrheit sagte. Er wechselte das Thema.
„Was passiert dann?“
„Je nachdem.“ Frank atmete auf. „Wenn er unschuldig ist, dann bringen ihn die „Schwarzen“ wieder zurück. Und wenn er schuldig ist.“ Er ging zum Fenster und deutete Josh, nachzukommen.
Als er aufstand, sah er, weshalb Frank so grinste. „Die Internet-User haben auch die Strafe festgelegt. Ich finde sie originell. Dort müssen wir ihn dann hinbringen.“
Vor dem Gebäude stand eine Startrampe mit einer kleinen Rakete. Der Rauch, der aus den Düsen kam, zeugte von intensiven Startvorbereitungen. Josh sah nach oben zum Himmel und fragte „wo geht die hin?“
„Zum Mond. One-Way-Ticket.“
Josh blätterte auf Seite Zwei. Der Bericht startete mit den Worten: „Die Neue Welt ist Geschichte. Am Dienstag, den 18. Mai 2006, wurde die USA von einer Reihe flächendeckender Atomexplosionen heimgesucht. Die genaue Zahl der Bomben ist nicht bekannt, genauso deren Herkunft. Sie wurden offenbar am Boden gezündet. Seitdem fehlt jeglicher Kontakt zu den Vereinigten Staaten. Sämtliche Flüge sowie Schiffe wurden gestoppt. Es gibt keinerlei Anzeichen für überlebende Personen. Spekulationen über vereinzelte Mittelwellen-Funksprüche haben sich noch nicht bestätigt. Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der am frühen Montagmorgen von der neu gegründeten GP verhaftet wurde, ist jegliche öffentliche Aussage verweigert worden, teilte das GP mit.“
Josh legte die Zeitung zurück auf den Tisch in der Wartehalle des Gerichtsgebäudes, rückte sich den Waffengurt und die Mütze, die ihn als Sicherheitspersonal der GP kennzeichnete, zurecht und machte sich auf den Weg nach draußen. Vor dem imposanten Bau mit dem überdimensionalen Auge auf der Front wartete Frank Stewart auf ihn.
„Guten Morgen, Josh.“
„Was soll an diesen Morgen gut sein?“ Er schaute an seinem Kollegen vorbei und suchte den Horizont ab. Keine Bombe.
„Ich glaube nicht, das hier irgendwelche Atomsprengköpfe hochgehen.“ Frank verzog den Mund zu einem angestrengten Lächeln, konnte es aber nicht verhindern, auch die weitläufige Landschaft um das Gebäude unruhig zu betrachten.
„Seit gestern ist nichts mehr unmöglich.“
„Ja, da hast du wohl Recht.“ Frank löste sich aus seiner Starre und ging auf Josh zu. „Zeit für den Kontrollgang. Danach müssen wir für den Transport und das Urteil auf unseren Posten sein. Also los?“
„Ob das noch Sinn macht?“
„Ich denke schon.“ Franks Augen waren wieder auf den Horizont gerichtet. „Es ist die Pflicht der GP, den Willen der Völker auszuführen. Und die Menschen haben nun mal so entschieden.“
Die Männer machten sich auf den Weg. Es war zwar unwahrscheinlich, das sich Personen, insbesondere Reporter, dem Gebäude nähern konnten, aber nicht unmöglich. Es gab vor zwei Monaten einen, der es durch die äußeren Sperrringe mit einer Beißzange geschafft hatte. Als bekannt wurde, das mithilfe eines fast schon antiken Werkzeuges das modernste und sicherste Gebäude der Welt beinahe überlistet worden wäre, ist das Sicherheitspersonal verdoppelt und die Sperrringe um mehrere Zusätzliche erweitert worden. Der Journalist kam allerdings nicht mal in Sichtweise des Baus. Er wurde von den Sicherheitsrobotern erfasst und weggebracht. Wohin, wussten auch Josh und Frank nicht, da die Roboter dem zweiten Sicherheitspersonal angehörten. Beide Sicherheits-Strukturen agieren völlig unabhängig voneinander und werden nur durch ein System aus Entscheidungsträgern, deren Aufenthaltsort unbekannt ist, koordiniert. Genauso verhält es sich auch mit dem kompletten Personal auf dem Gelände. Es gibt jeweils zwei unabhängige Strukturen bei den Wärtern, den Versorgungsleuten, den Mechanikern bis hin zu den Richtern und Geschworenen. Das Gebäude der GP ist unabhängig von einer Staatsform oder Regierung und ein neues selbsternanntes, ausführendes Rechtsorgan der Menschen der Welt. Der Bau wurde über Jahre geheim gehalten und als die neue Gerichtsbarkeit ans Netz ging, da wurde nur bekannt gegeben, das eine Menschenrechtsorganisation namens GP den Bau aus Spendengeldern finanziert hatte und sich daraufhin sofort auflöste. Sämtliche Personen, die der Organisation angehörten, haben sich auf einer Farm in Massachusetts das Leben genommen. Man fand die Leichen einen Tag nach Inbetriebnahme des Gebäudes. Alle Aufzeichnungen, Baupläne oder Dokumente waren verschwunden. Die Menschen, die für das GP arbeiten, sind allesamt durch verborgene Internetaufrufe zu der Organisation gestoßen. Auch sie hatten niemals Kontakt zu den „Gründern“. Es gab keinen greifbaren Verantwortlichen und die Entscheidungsträger kannten sich untereinander auch nicht. Damit wurden sämtliche Möglichkeiten der Korruption von vornherein ausgeschlossen. Wer auch nur daran dachte, sich einen Eigennutzen aus dem GP zu machen, wurde sofort eliminiert. Und das mit dem Denken war tatsächlich so, den der eigentliche Knüller wartete im Inneren des Gebäudes auf: der Gerichtssaal. Durch eine unbekannte Technik war es möglich, innerhalb des Raumes alle Gedanken der anwesenden Personen zu lesen. Die Geschworenen wussten, was der Richter dachte, der Richter wusste, was der Angeklagte verbarg, der Angeklagte wusste, was das Personal von ihm dachte und so weiter. Innerhalb des Raumes war es unmöglich, irgendetwas zu verbergen.
Am 15. Mai 2006 ging ein Aufruf über das Internet um die Welt. Es war die Sensationsmeldung und alle Medien stoppten das laufende Programm, um mitzuteilen, das ab nun alle Menschen der Welt sich mit ihrer Stimme Gehör verschaffen können. Es war nun möglich, bestimmte Menschen verhaften zu lassen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder egal welcher Art ausübten. Dazu wurde von der GP veröffentlicht, das es einer bestimmten Mindestanzahl an Stimmen bedarf, damit sie tätig werden können. Sie legten fest, das sich die Höhe der benötigten Stimmen an der momentanen Weltbevölkerung anlehnt. Fünfzig Prozent, also momentan 3,25 Milliarden sind notwendig, um eine Person verhaften zu lassen. Dazu sei es nur notwendig, auf der Internetseite auf das entsprechende Konterfei zu klicken. Die Bilder konnten von den Usern selbst hochgeladen werden. Es dauerte nicht mal eine halbe Minute, da war das Bild des amerikanischen Präsidenten online. Nachdem einige wenige dazu kamen, zog der Präsident mit seinen Stimmen weit davon. Nach zwei Stunden waren es schon 500 Millionen, weitere drei Stunden und die 1,5 Milliarden waren erreicht. Der Präsident gab am 16. Mai um zwölf Uhr mittags eine Pressekonferenz, in der er ausdrücklich darauf hinwies, das er sich unter keinen Umständen der Gerichtsbarkeit diesen, wortwörtlich „menschlichen Irrsinns“ unterwerfen werde. Daraufhin wurde innerhalb kürzester Zeit die drei Milliarden-Grenze geknackt.
Es kam in der Nacht vom Sonntag auf den Montag zum Showdown in Washington. Der Präsident hatte, als nur noch 200 Millionen Stimmen fehlten, mit einem Atomkrieg gedroht. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen, um den Präsidenten vor „Gefahren“ zu schützen. Aber sie rechneten nicht mit der Erfindungsgabe der Gründer der GP. Das weiße Haus war besser gesichert als Fort Knox und gerade als freudestrahlend der Präsident nach Überschreitung der 3,5 Milliarden Stimmen aus dem Oval Office verkündete, es sei offenbar nur ein Scherz irgendwelcher Internethacker gewesen, materialisierten sich zwei schwarzgekleidete Männer in dem Büro, legten die Wachleute mit Elektroschocks lahm und verschwanden zusammen mit dem Präsidenten auf die gleiche Art und Weise.
Josh und Frank beendeten ihre Runde nach zwei Stunden. Sie machten sich auf den Weg zum „inneren Zirkel“, dem Gefängnisbereich.
„Warst du schon mal im Gerichtssaal“ fragte Josh.
„Ja, es ist unheimlich.“
„Ich stelle mir das als großes Chaos vor, wenn gleichzeitig alle Gedanken zu hören sind.“
„Nun, deshalb sind auch nur wenige, für den Prozess wichtige Leute im Raum. Der Angeklagte wird vom Personal in den Saal gebracht. Sobald sie den Raum betreten, ist es möglich, alle Gedanken zu hören. Das ist irgendwie seltsam, denn plötzlich offenbaren sich die tiefsten Geheimnisse.“ Sie kamen an die erste von unzähligen Sicherheitsschleusen. Die Prozedur der Ausweisung mithilfe von biometrischen Daten war nicht sehr zeitaufwendig und lief beinahe schon automatisiert ab.
„Woher willst du das wissen“ sagte Josh, als er den Ausweis wieder in die Brusttasche schob. „Der Präsident ist doch der erste Fall hier.“
„Es gab Testläufe. Ich habe dabei den Angeklagten gespielt. Und damit du das gleich weißt und dich später nicht wunderst: Ich trage ab und zu Damenunterwäsche.“
Josh musste loslachen. „Was, warum sagst du mir das?“
„Das wirst du bald selber feststellen.“ Das Grinsen auf Franks Gesicht, als er seinen verdutzten Partner stehen ließ, sprach Bände. Und als Frank klar wurde, warum, versteinerte sich sein Lachen.
Schweigsam betraten sie den Zellentrakt. Der Präsident war in einem geräumigen Zimmer untergebracht. Als Frank und Josh um die Ecke bogen, sahen sie ihn in der Bibel lesend auf der Pritsche sitzen. Die Zeit einer Untersuchungshaft war nicht mehr notwendig, da der Angeklagte sich selbst entweder belastete oder freisprach.
Als der Präsident bemerkte, wie sich die zwei näherten, sprang er sofort auf und begann, wüste Beschimpfungen über sie hereinbrechen zu lassen. Er werde sich das nicht bieten lassen, er werde kein Gericht außerhalb der USA akzeptieren und es würde noch ernsthafte Konsequenzen für alle, er betonte „ALLE“ Beteiligten haben. Frank und Josh waren angewiesen, keinerlei Worte mit dem Gefangenen zu wechseln. So gerne sie auch mit dem „Präsidenten der freien Völker“ gesprochen hätten, es gab eindeutige Anweisungen, die bei der geringsten Missachtung aufs Schärfste bestraft wurden.
Einige Minuten später war das Trio unterwegs zum Gerichtssaal. Weitere Schleusen, diesmal von Robotern bewacht, mussten passiert
werden. Und je näher sie dem „Saal“ kamen, desto schweigsamer wurde der Präsident. Josh bemerkte einen unangenehmen Schweißgeruch. „So muss Angst riechen“, dachte er sich. Da tauchte vor ihnen die Tür zum „Saal“ auf. Eine Panikattacke überkam alle drei. Josh hielt eine Hand auf der Schulter des Präsidenten, als Frank die Tür öffnete. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bevor sie die Schwelle übertraten.
Der erste Eindruck war überwältigend. In völliger Schlichtheit präsentierte sich der Gerichtssaal. Der Richter, ein etwas dicklicher, farbiger Mann schaute nicht von seinen Unterlagen hoch, als sie herein kamen. Das Schild vor ihm weißte ihn als „Richter Morgan Crowd“ aus. Der Mann saß auf einem mintgrünen Sessel, vor sich ein einfacher Schreibtisch mit einem Monitor darauf. Davor war ein billiger Holzstuhl aufgestellt, zu dem der Angeklagte geführt wurde. Das war alles: Keine Bilder, kein Kreuz, schlichter Parkettboden, drei weiße Wände, eine Glaswand zur Linken des Richters und ein dunkler Raum dahinter.
Wesentlich beeindruckender waren die Stimmen. Joshs Augen warfen wirre Blicke und beinahe hätte er den Präsidenten vergessen. Frank stieß ihn an und lächelte. „Na, wie geht’s?“
Wie es geht? Wie geht’s? Das war Frank. In seinen Gedanken. Er sah ihn reden, hörte aber auch die Gedanken. Ich reiß dir die Eier bei der ersten bietenden Gelegenheit ab. Der Präsident. Aber er meinte nicht ihn, er schaute zu dem Richter. Mal sehen, wer hier wem was abreist. Der Richter. Es war totenstill im „Saal“, aber gleichzeitig mörderisch laut. „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten.“ Ein Lied. Das kam wieder von Frank. Oh, offenbar die beste Idee hier drin. Ein Lied. Das lenkt von den Gedanken ab. Jetzt bringt ihn schon zum Stuhl. Der Richter schaute ungeduldig zum Trio.
Sie brachten den Präsidenten zum Stuhl, wurden von zwei Robotern abgelöst und verließen den Saal wieder. Wütend blickte der Präsident hinter ihnen her. Josh fing noch Gedankenfetzen wie „..Ihr Wichser..“, „..Die kriegen mich niemals..“, „..Ich bin unschuldig, unschuldig, UNSCHULDIG..“ auf. Als sie durch die Tür kamen, war der Spuk vorbei. Josh musste sich setzen und tief durchatmen. „Das ist unglaublich.“
„Ja,“ Frank setzte sich zu ihm, „er wird seinen Spaß haben.“
„Du meinst den Richter?“
„Nein.“
„Wieso?“ Josh schaute fragend zu ihm.
„Nun. Es wird ein kurzer Prozess. Der Richter wird ihm ein paar Fragen stellen und er wird sich dazu äußern. Aber das ist unwichtig. Es zählen seine Gedanken. Die sprechen die Wahrheit.“
„Und was wird ihm vorgeworfen?“
„Och, so einiges. Auf der Website von GP stehen die Wichtigsten. Auch von den Usern abgestimmt. Zum Beispiel wird er zu Irak, Afghanistan, Syrien und den Iran befragt. Nordkorea wird auch ein Thema. Sie werden die wahren Hintergründe aufdecken. Und natürlich den Atomvorfall. Man wird sich brennend dafür interessieren, woher die Dinger kamen.“
„Denkst du, er hat sie selbst zünden lassen?“
„Ich weiß es nicht.“ Frank zog ein angestrengt nachdenklich wirkendes Gesicht. Josh hatte das Gefühl, das er nicht die Wahrheit sagte. Er wechselte das Thema.
„Was passiert dann?“
„Je nachdem.“ Frank atmete auf. „Wenn er unschuldig ist, dann bringen ihn die „Schwarzen“ wieder zurück. Und wenn er schuldig ist.“ Er ging zum Fenster und deutete Josh, nachzukommen.
Als er aufstand, sah er, weshalb Frank so grinste. „Die Internet-User haben auch die Strafe festgelegt. Ich finde sie originell. Dort müssen wir ihn dann hinbringen.“
Vor dem Gebäude stand eine Startrampe mit einer kleinen Rakete. Der Rauch, der aus den Düsen kam, zeugte von intensiven Startvorbereitungen. Josh sah nach oben zum Himmel und fragte „wo geht die hin?“
„Zum Mond. One-Way-Ticket.“