Als ich an jenem Novemberabend in meine Stammkneipe einkehrte, war ich trotz des miesen Wetters bester Stimmung. Die Arbeit an meinem Ro-man ging flott voran, auch sonst machte das Leben wieder Sinn, denn inzwischen konnte ich an den vergangenen Sommer in Griechenland zu-rückdenken, ohne sofort in einem Jammertal zu versinken, das sich schon morgens mit Rotwein aufzufüllen begann. Ein Freund, der mein Elend nicht länger mit ansehen konnte, hatte mich dann auf die Idee mit dem Roman gebracht. Und tatsächlich war das Schreiben zu einem Ventil für meinen Liebeskummer geworden, ja mehr noch: Zu einer subtilen Art der Sublimierung, die man auch Abrechnung nennen konnte.
An diesem besagten Abend befand ich mich bereits in der zweiten Hälfte des Romans. Die Kapitel, die nun folgten, würden die subtilsten überhaupt werden und wollten wohl überlegt sein. Dazu war diese Kneipe bestens geeignet. Anders als die Abgeschiedenheit meines Schreibtischs wirkte sich das verlebte Ambiente ebenso inspirierend aus wie manche der Gäste, die schon zum Inventar gehörten, als die Kneipe noch zum konspirativen Treffpunkt der studentischen Weltrevolution in diesem e-hemaligen Arbeiterquartier zählte. Außerdem konnte man hier stunden-lang seinen Gedanken nachhängen, ohne von der Bedienung mitleidige Blicke zu ernten. Ich rutschte also an das Ende des geschwungenen Tre-sens, bestellte einen doppelten Espresso und starrte auf die sich unter dem Halogenspot verzwirbelnden Rauchschwaden meiner Zigarette.
Oh ja, es würde ein großer Roman werden, das war klar, mit ei-nem furiosen Finale, ganz im Stil klassischer griechischer Tragödien. Am Ende stände mein Protagonist als strahlender Odysseus da, seiner Gegen-spielerin dagegen war das Schicksal eines weiblichen Sisyphos beschieden, die auf ewig ihrer verschmähten Liebe nachtrauern würde. Und natürlich wäre dieser Roman weitaus mehr als nur die Geschichte einer Urlaubsaf-färe. Gesellschaftlich gesehen demonstrierte er den Triumph des klaren, man könnte auch sagen, männlichen Verstandes über die weibliche Intui-tion, jene unter Feministinnen viel gepriesene Eigenschaft, die ich zwi-schen den Zeilen gnadenlos als esoterischer Hokuspokus entlarven würde.
Während ich in kreativem Hochgefühl in die Rauchschwaden starr-te, rief ich mir als kreative Einstimmung auf die folgenden Kapitel einige Details bereits geschriebener Szenen ins Gedächtnis zurück. Da war zum Beispiel die kleine Buddhafigur auf dem Nachttisch, vor dem man erst stundenlang meditieren musste, bevor man sich in tantrischen Verrenkun-gen auf die Suche nach göttlicher Ekstase machte. Oder das Epigraph auf dieser alten Tempelruine, das angeblich von Aphrodite höchstpersönlich hineingemeißelt worden war, und für dessen Anblick man zuvor stunden-lang in glühender Mittagssonne über Geröllhänge klettern musste. Zwi-schendurch fielen mir noch einige Dialoge ein, in denen vehement um die Bedeutung von Horoskopen und Sternzeichen gestritten wurde. Und fast schauderte es mir ein wenig, was mein Held wegen dieser Frau alles durchleiden musste, als mir plötzlich völlig aus dem Nichts heraus der Titel eines Romans von Milan Kundera durch den Kopf schoss: Die uner-trägliche Leichtigkeit des Seins.
Dieser Titel kreiste daraufhin wie ein verirrtes Mantra durch meine Gedanken, und je mehr ich ihn abzuschütteln versuchte, umso penetran-ter drängte er sich mir auf. Dabei konnte ich kaum noch den Inhalt erin-nern, so viele Jahre war es her, dass ich ihn gelesen hatte. Verstohlen blickte ich mich um, ob nicht zufällig gerade jemand in diesem Buch blät-terte, was ich unbewusst vielleicht registriert haben könnte. Doch die Kneipe war noch genau so spärlich besucht wie bei meinem Eintreten, außer dass sich unweit von meinem Platz inzwischen ein älteres Pärchen an den Tresen gesetzt hatte. Ich kannte die beiden vom Sehen her, Ot-tensener Akademikerbohéme, wie viele der Stammgäste, und auch dies-mal beschränkte sich unsere Begrüßung auf ein stummes Zunicken. Von Kundera aber fehlte weit und breit jede Spur.
Ich versuchte also weiter, mich wieder auf meinen eigenen Roman zu konzentrieren, doch immer neue Fragmente aus Kunderas Geschichte tauchten in meinen Gedanken auf, so dass ich meinen Widerstand endlich aufgab und anstatt ins sonnige Griechenland tief in den wolkenverhange-nen Prager Frühling eintauchte. Und allmählich dämmerte mir, dass da eine gewisse Analogie zwischen unseren beiden Romanen bestehen muss-te, etwas, das für meine Schlusskapitel vielleicht von elementarer Bedeu-tung sein könnte. Außerdem galt Kundera als Meister der geschliffenen Satire, auch das mochte ein möglicher Grund für mein Unterbewusstsein sein, mir diesen Streich zu spielen. Ich setzte also aus den Fragmenten nach und nach weitere Szenen des Romans zusammen, was mir sogar er-staunlich gut gelang, obwohl mir die tiefere Bedeutung für mein eigenes Werk immer noch nicht recht aufgehen wollte.
Mitten in meine Versenkung hinein drang ein entschuldigendes Räuspern. Die Frau, die sich vor etwa einer viertel Stunde mit ihrem Freund an den Tresen gesetzt hatte, bat mich um mein Feuerzeug. Als ich es ihr reichte, fiel mir auf, dass sie mich trotz ihres fortgeschrittenen Alters irgendwie an meine Romanheldin erinnerte, der in Kürze ein so trauriges Ende beschieden sein würde. Jedenfalls war meine Konzentrati-on dahin, und ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich die Frau ihre Zigarette ansteckte und sich anschließend ihrem Freund zuwandte.
»Sag mal, kennst du die Unerklärliche Leichtigkeit des Seins?«, fragte sie.
»Den Film? Na klar.«
Die Frau kniff fragend ihre Augenbrauen zusammen. »Einen Film? Nicht ein Buch?«
»Auch möglich. Wie kommst du eigentlich darauf?«
»Du, ich weiß nicht, aber ...« Sie wedelte mit den Händen über den Tresen. »Das schwirrt hier irgendwo herum.«
Ich fing den leicht genervten Blick ihres Freundes auf. Es schien ihm peinlich zu sein, dass ich das Gespräch mitverfolgen konnte.
»Was schwirrt herum?«, fragte er.
»Na, die Unerklärliche Leichtigkeit des Seins.«
»Du und deine Wahrnehmungen mal wieder. Überhaupt: Heißt es nicht eigentlich die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins? Die Unerträgli-che, nicht die Unerklärliche. Ja sicher.«
Die Frau starrte einen Moment ins Leere und drehte sich zu mir, und das mit einem Blick, als wären wir schon lange vertraut.
»Heißt es nun die unerträgliche oder die unerklärliche Leichtigkeit des Seins?«
»Die Unerklärliche«, entgegnete ich todernst.
»Siehst du?«, sagte sie und wandte sich mit einem triumphieren-den Nicken wieder ihrem Freund zu, der sich seufzend zurücklehnte und einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas nahm.
Was anschließend folgte, war Schweigen. Das Thema schien ihnen irgendwie den Abend verhagelt zu haben. Kurz darauf gingen sie.
Ich aber bestellte mir ein Glas Rotwein, das erste, seit ich vor über zwei Monaten mit dem Schreiben begonnen hatte. Und es sollte an die-sem Abend nicht mein letztes bleiben. Klar, dass aus dem Roman nichts wurde.
An diesem besagten Abend befand ich mich bereits in der zweiten Hälfte des Romans. Die Kapitel, die nun folgten, würden die subtilsten überhaupt werden und wollten wohl überlegt sein. Dazu war diese Kneipe bestens geeignet. Anders als die Abgeschiedenheit meines Schreibtischs wirkte sich das verlebte Ambiente ebenso inspirierend aus wie manche der Gäste, die schon zum Inventar gehörten, als die Kneipe noch zum konspirativen Treffpunkt der studentischen Weltrevolution in diesem e-hemaligen Arbeiterquartier zählte. Außerdem konnte man hier stunden-lang seinen Gedanken nachhängen, ohne von der Bedienung mitleidige Blicke zu ernten. Ich rutschte also an das Ende des geschwungenen Tre-sens, bestellte einen doppelten Espresso und starrte auf die sich unter dem Halogenspot verzwirbelnden Rauchschwaden meiner Zigarette.
Oh ja, es würde ein großer Roman werden, das war klar, mit ei-nem furiosen Finale, ganz im Stil klassischer griechischer Tragödien. Am Ende stände mein Protagonist als strahlender Odysseus da, seiner Gegen-spielerin dagegen war das Schicksal eines weiblichen Sisyphos beschieden, die auf ewig ihrer verschmähten Liebe nachtrauern würde. Und natürlich wäre dieser Roman weitaus mehr als nur die Geschichte einer Urlaubsaf-färe. Gesellschaftlich gesehen demonstrierte er den Triumph des klaren, man könnte auch sagen, männlichen Verstandes über die weibliche Intui-tion, jene unter Feministinnen viel gepriesene Eigenschaft, die ich zwi-schen den Zeilen gnadenlos als esoterischer Hokuspokus entlarven würde.
Während ich in kreativem Hochgefühl in die Rauchschwaden starr-te, rief ich mir als kreative Einstimmung auf die folgenden Kapitel einige Details bereits geschriebener Szenen ins Gedächtnis zurück. Da war zum Beispiel die kleine Buddhafigur auf dem Nachttisch, vor dem man erst stundenlang meditieren musste, bevor man sich in tantrischen Verrenkun-gen auf die Suche nach göttlicher Ekstase machte. Oder das Epigraph auf dieser alten Tempelruine, das angeblich von Aphrodite höchstpersönlich hineingemeißelt worden war, und für dessen Anblick man zuvor stunden-lang in glühender Mittagssonne über Geröllhänge klettern musste. Zwi-schendurch fielen mir noch einige Dialoge ein, in denen vehement um die Bedeutung von Horoskopen und Sternzeichen gestritten wurde. Und fast schauderte es mir ein wenig, was mein Held wegen dieser Frau alles durchleiden musste, als mir plötzlich völlig aus dem Nichts heraus der Titel eines Romans von Milan Kundera durch den Kopf schoss: Die uner-trägliche Leichtigkeit des Seins.
Dieser Titel kreiste daraufhin wie ein verirrtes Mantra durch meine Gedanken, und je mehr ich ihn abzuschütteln versuchte, umso penetran-ter drängte er sich mir auf. Dabei konnte ich kaum noch den Inhalt erin-nern, so viele Jahre war es her, dass ich ihn gelesen hatte. Verstohlen blickte ich mich um, ob nicht zufällig gerade jemand in diesem Buch blät-terte, was ich unbewusst vielleicht registriert haben könnte. Doch die Kneipe war noch genau so spärlich besucht wie bei meinem Eintreten, außer dass sich unweit von meinem Platz inzwischen ein älteres Pärchen an den Tresen gesetzt hatte. Ich kannte die beiden vom Sehen her, Ot-tensener Akademikerbohéme, wie viele der Stammgäste, und auch dies-mal beschränkte sich unsere Begrüßung auf ein stummes Zunicken. Von Kundera aber fehlte weit und breit jede Spur.
Ich versuchte also weiter, mich wieder auf meinen eigenen Roman zu konzentrieren, doch immer neue Fragmente aus Kunderas Geschichte tauchten in meinen Gedanken auf, so dass ich meinen Widerstand endlich aufgab und anstatt ins sonnige Griechenland tief in den wolkenverhange-nen Prager Frühling eintauchte. Und allmählich dämmerte mir, dass da eine gewisse Analogie zwischen unseren beiden Romanen bestehen muss-te, etwas, das für meine Schlusskapitel vielleicht von elementarer Bedeu-tung sein könnte. Außerdem galt Kundera als Meister der geschliffenen Satire, auch das mochte ein möglicher Grund für mein Unterbewusstsein sein, mir diesen Streich zu spielen. Ich setzte also aus den Fragmenten nach und nach weitere Szenen des Romans zusammen, was mir sogar er-staunlich gut gelang, obwohl mir die tiefere Bedeutung für mein eigenes Werk immer noch nicht recht aufgehen wollte.
Mitten in meine Versenkung hinein drang ein entschuldigendes Räuspern. Die Frau, die sich vor etwa einer viertel Stunde mit ihrem Freund an den Tresen gesetzt hatte, bat mich um mein Feuerzeug. Als ich es ihr reichte, fiel mir auf, dass sie mich trotz ihres fortgeschrittenen Alters irgendwie an meine Romanheldin erinnerte, der in Kürze ein so trauriges Ende beschieden sein würde. Jedenfalls war meine Konzentrati-on dahin, und ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich die Frau ihre Zigarette ansteckte und sich anschließend ihrem Freund zuwandte.
»Sag mal, kennst du die Unerklärliche Leichtigkeit des Seins?«, fragte sie.
»Den Film? Na klar.«
Die Frau kniff fragend ihre Augenbrauen zusammen. »Einen Film? Nicht ein Buch?«
»Auch möglich. Wie kommst du eigentlich darauf?«
»Du, ich weiß nicht, aber ...« Sie wedelte mit den Händen über den Tresen. »Das schwirrt hier irgendwo herum.«
Ich fing den leicht genervten Blick ihres Freundes auf. Es schien ihm peinlich zu sein, dass ich das Gespräch mitverfolgen konnte.
»Was schwirrt herum?«, fragte er.
»Na, die Unerklärliche Leichtigkeit des Seins.«
»Du und deine Wahrnehmungen mal wieder. Überhaupt: Heißt es nicht eigentlich die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins? Die Unerträgli-che, nicht die Unerklärliche. Ja sicher.«
Die Frau starrte einen Moment ins Leere und drehte sich zu mir, und das mit einem Blick, als wären wir schon lange vertraut.
»Heißt es nun die unerträgliche oder die unerklärliche Leichtigkeit des Seins?«
»Die Unerklärliche«, entgegnete ich todernst.
»Siehst du?«, sagte sie und wandte sich mit einem triumphieren-den Nicken wieder ihrem Freund zu, der sich seufzend zurücklehnte und einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas nahm.
Was anschließend folgte, war Schweigen. Das Thema schien ihnen irgendwie den Abend verhagelt zu haben. Kurz darauf gingen sie.
Ich aber bestellte mir ein Glas Rotwein, das erste, seit ich vor über zwei Monaten mit dem Schreiben begonnen hatte. Und es sollte an die-sem Abend nicht mein letztes bleiben. Klar, dass aus dem Roman nichts wurde.