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Save Ukraine!
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Love all Animals

 
Vierspur
Autor: Dieter Hellfeuer · Rubrik:
Erzählungen

Beinahe andächtig wurden die Lichter hochgedimmt, als sollten sie die Stille nicht stören, die sich über den bis auf den letzten Platz besetzten Kinosaal gelegt hatte. Ich starrte auf die leere Leinwand vor mir, und die Stille kam mir längst wie eine Ewigkeit vor, bis plötzlich aus einer der hinteren Reihen ein einzelnes, lautes Bravo ertönte. Damit war der Damm gebrochen. Wie von einer unsichtbaren Woge getragen erhoben sich nun nach und nach sämtliche Zuschauer von ihren Sitzen, und ein mit unzähligen weiteren Bravorufen durchsetzter Applaus brandete auf, der gar nicht mehr enden wollte und sich bei Breslauers Erscheinen auf der von Scheinwerfern ausgeleuchteten Rampe fast ins Frenetische steigerte. Mit tiefen Verbeugungen nahm er die Ovationen entgegen, jede Sekunde eines Triumphs genießend, der eigentlich jemandem zustand, von dem ich mir wünschte, er wäre hier und würde dies kundtun, laut und wütend und ohne jede Verbeugung. Aber er tat es nicht.
Dennoch konnte auch ich das Gefühl einer gewissen Befriedigung verspüren, als ich mich etwas später in dem vor Menschen überquellenden Foyer zur Bar vorkämpfte. Dabei war mein Name nur kurz zu lesen gewesen, und ich war mir sicher, dass ihn niemand ernsthaft registriert hatte, zumal der Abspann von bedeutenden Namen nur so wimmelte, angefangen von der Besetzung der Hauptrollen bis hin zum Produzenten Franjo Breslauer, dessen Filme in den vergangenen Jahren ausnahmslos zu Erfolgen geworden waren. Umso überraschter war ich, als mich inmitten des Gedränges eine Frau ansprach, die sich als Mitarbeiterin einer niederländischen Zeitung vorstellte, deren Titel ich nie zuvor gehört hatte.
»Herr Breslauer sagte, ich sollte mich an Sie wenden, was die Entstehungsgeschichte zu diesem Film betrifft.«
»So, hat er das?«
Reflexartig blickte ich auf meine Armbanduhr. Breslauer würde demnächst zur Premierenparty ins Marriott aufbrechen, und er hatte mir noch vor wenigen Minuten angeboten, in seiner für diesen Anlass gemieteten Stretchlimousine mitzufahren. Das wollte ich mir eigentlich nicht entgehen lassen.
»Wenn Sie jetzt keine Zeit haben, könnten wir ja für morgen einen Termin ausmachen. Es wäre mir wirklich sehr wichtig.«
Unschlüssig musterte ich die Journalistin, die mich hinter ihrer Hornbrille offen und freundlich ansah. Ich schätzte sie auf Mitte Dreißig, vielleicht auch ein wenig darüber, ungefähr mein Alter jedenfalls. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, der gut zu ihrer schlanken Figur und dem jungenhaft wirkenden Gesicht passte. Mein Typ war sie zwar nicht, aber sie hatte was. Ich deutete auf eine gerade freigewordene Sofaecke am anderen Ende des Foyers.
»Sie sind Holländerin?«, fragte ich, nachdem wir uns gesetzt hatten.
»Nein, aber ich lebe seit fast sieben Jahren in Amsterdam.«
»Also schön, wenn es nicht zu lange dauert, stellen Sie halt Ihre Fragen. Morgen geht es übrigens nicht, weil ich wieder arbeiten muss.«
»Ach? Und ich dachte, nach so einem Film hat man sich eine kleine Atempause verdient.«
»Ich arbeite nicht in der Filmbranche«, sagte ich. »Eigentlich bin ich auf Wohnungsräumungen spezialisiert.«
Die Journalistin rückte irritiert ihre Brille zurecht.
»Wohnungsräumungen?«
»Ja. Hier in Berlin ist das ein gutes Geschäft.«
Die hellblauen Augen hinter den Brillengläsern sahen mich forschend an.
»Lassen Sie mich raten ... Dann waren also Sie es, der auf das Leben dieses Musikers gestoßen ist?«
Sie deutete auf eines der zahllosen Filmplakate an den Wänden, auf denen unter dem Titel Secret Life das schattenhafte Profil eines über seine Gitarre gebeugten jungen Mannes zu sehen war.
Ich konnte mir ein zustimmendes Grinsen nicht verkneifen.
Ehe ich mich versah, hatte die Journalistin eine der Hostessen herangewunken, die uns gleich darauf zwei Gläser Sekt auf den Tisch stellte.
»Erzählen Sie! Bitte erzählen Sie!«
Diese Aufforderung kam so direkt, ja fast flehentlich, dass ich sie nur verwundert ansah.
»Aber Sie kennen die Geschichte doch bereits«, sagte ich. »Der Film handelt schließlich davon.«
»Der Film handelt von einem verzweifelten Menschen, der auf wundersame Weise zum Idol wird. Ein Hollywood-Märchen. Ich möchte aber eine andere Geschichte hören.«
»Eine andere Geschichte?«, wiederholte ich. »Welche denn?«
Lächelnd lehnte sie sich in dem Polster zurück.
»Das fragen Sie noch? Ihre Geschichte natürlich.«

Meine Geschichte. Na gut, wo sollte ich anfangen? Am besten wohl damit, wie wir damals im Wedding diesen Dachboden ausräumten.
Etwas über zwei Jahre ist das jetzt her. Ich erinnere mich noch, dass es ein drückend heißer Nachmittag Ende August gewesen war und meine Leute nicht gerade begeistert aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster schauten, als ich den Lastwagen im Hof parkte. Das Haus stammte aus der Gründerzeit, an so etwas wie einen Aufzug brauchte man hier keinen Gedanken zu verschwenden.
Zwei kleine Jungen verdrückten sich neugierig auf die Treppe, während wir unsere Sackkarren an Kinderwagen und Fahrrädern vorbeimanövrierten. Die Hausmeisterwohnung befand sich ganz am Ende des Hausflurs.
»Schildwach Transporte. Wir sollen hier einen Dachboden entrümpeln.«
Der Hausmeister sah uns verschlafen an.
»Ich weiß, den Krempel von der ollen Skoluda.« Er reichte mir zwei klobige Schlüssel. »Ganz oben, zweite Tür links. Machen Sie aber keinen Dreck, verstanden?«
Oben angekommen, waren wir ziemlich aus der Puste.
»Scheiße«, schnaufte Branko. »Wetten, dass es in dieser Bruchbude nichts zu holen gibt?«
Die beiden anderen Kollegen grinsten zustimmend, während ich die marode Holztür entriegelte. Wie ich von meinem Chef wusste, war die alte Frau vergangenen Monat verstorben. Überhaupt hatten wir nur deswegen den Auftrag erhalten, weil die Konkurrenz bei der Entsorgung ihrer Habseligkeiten den Dachboden vergessen hatte.
Der erste Eindruck bestätigte Brankos Vermutungen. Manchmal stöberten wir bei unserer Arbeit ja noch ganz brauchbare Sachen auf, die wir zu Geld machen konnten, hier aber sah alles nur nach der üblichen Plackerei aus. Hinter Bergen von Kartons und Plastiksäcken lugte zu allem Überfluss auch noch ein massiver alter Küchenschrank hervor. Ich wies meinen Leuten jeweils einen Bereich des Dachbodens zu und machte mich selbst an einem Regal mit größtenteils verrostetem Kochgeschirr zu schaffen.
Eine gute Stunde später hatten wir den halben Lastwagen vollgeladen. Jetzt stand uns eigentlich nur noch das Monstrum von Küchenschrank bevor.
»Schau mal«, empfing mich Maik, als ich wieder im Dachboden auftauchte. Er deutete auf eine zur Hälfte heraushängende Schublade des Küchenschranks. In dem diffusen Licht einer Dachluke konnte ich darin ordentlich aufgereihte Musikkassetten erkennen. Ich holte eine davon heraus. November Day, las ich. Darunter waren tabellarisch die Zahlen eins bis vier aufgelistet, denen nach einem Doppelpunkt eine weitere Zahl sowie eine Art Symbol folgte, das aussah wie eine runde Uhr mit nur einem Zeiger. Mir fiel auf, wie akribisch alles notiert worden war.
»Kannst du was damit anfangen?«
»Wird wohl irgendwelche Musik sein.« Achselzuckend steckte ich die Kassette zurück. »Komm, lass uns endlich fertig werden.«
Ich zog die Schublade aus dem Schrank heraus und kickte sie mit einem Fußtritt beiseite. Anschließend half ich Maik, den Küchenschrank auseinanderzunehmen.
Eine knappe halbe Stunde später war alles geschafft. Zur Kontrolle leuchtete ich noch einmal den Dachboden aus, bis ich die Schublade entdeckte, die unter den Schatten eines Balkens gerutscht war. Ich klemmte sie mir unter den Arm und knipste die Taschenlampe aus. Ein letzter prüfender Blick, dann gehörte Frau Skoluda in diesem Haus endgültig der Vergangenheit an.
Nachdem wir unsere Ladung bei den zuständigen Depots entsorgt hatten, fuhr ich den Lastwagen zurück zur Firma. Meine Kollegen hatten sich bereits aus dem Staub gemacht, und auch ich freute mich auf den Feierabend, den ich mit meiner Freundin am Plötzensee ausklingen lassen wollte. Beim Aussteigen entdeckte ich unter dem Beifahrersitz die Schublade mit den Kassetten, die ich selbst dort abgelegt und wieder vergessen hatte. Diesmal wurde ich wirklich sauer. Ich verstaute sie im Kofferraum meines alten Jetta, um sie bei den nächsten Trennmüllcontainern endgültig los zu werden. Aber als ich den Wagen durch die noch immer sonnendurchfluteten Straßen Richtung Plötzensee steuerte, hatte sich auch dieses Vorhaben wieder aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Am folgenden Samstagmorgen lag ich entspannt im Bett und blätterte in einem Modellbaukatalog, als Marion mit mürrischer Miene im Türrahmen unseres Schlafzimmers auftauchte.
»Benno, kannst du mir vielleicht sagen, was das hier soll?«
Ehe ich antworten konnte, hatte sie sich wieder abgewandt. Ich hörte, wie sie die Schublade auf die Korridordielen krachen ließ. Seufzend folgte ich ihr in die Küche.
»Sorry, ich habe das total vergessen. Kann doch mal passieren.«
»Dir passiert ständig so was«, erwiderte sie, während sie ihre schmutzigen Hände wusch. »Nicht genug, dass du dich wieder vor dem Einkaufen gedrückt hast, muss ich mich auch noch mit deinem dreckstarrenden Kram herumärgern. Der Kofferraum ist so schon klein genug. Was willst du eigentlich mit dem Zeug?«
»Gar nichts will ich damit. Komm, ich helfe dir beim Ausladen und danach frühstücken wir erst einmal.« Ich nahm Marion in den Arm und küsste sie zärtlich auf den verschwitzten Nacken. »Am besten im Bett, was meinst du?«
Während Marion am Nachmittag auf dem Balkon unserer Moabiter Neubauwohnung ihre Büroblässe auffrischte, hatte ich mich in den Keller zurückgezogen, um eine Weile an einem flugtüchtigen Modell eines Fokker-Doppeldeckers zu basteln. Seit mir vor einigen Jahren bei einer Wohnungsräumung ein ähnliches Teil unter die Finger gekommen war, hatte mich dieses Hobby gepackt, inzwischen war ich sogar Mitglied bei einem Modellfliegerclub geworden. Marion schüttelte darüber zwar nur den Kopf, aber sie selbst hatte auch so einige Macken, davon abgesehen kamen wir gut miteinander aus. Ich hatte sie vor zwei Jahren auf einem Campingplatz an der Müritzer Seenplatte kennen gelernt, im vergangenen Herbst waren wir zusammengezogen.
Ich fixierte den geleimten Heckflügel mit einigen Wäscheklammern und lehnte mich zufrieden in meinem Drehstuhl zurück. Eher beiläufig streifte mein Blick die abseits auf der Arbeitsplatte liegende Schublade, die ich vorhin mit heruntergebracht hatte. Ich fischte wahllos eine der Kassetten heraus und wunderte mich erneut über die seltsame Beschriftung. Im Inneren schimmerte mir ein altes Chromdioxyd-Band von Maxell entgegen. Beim Anblick des Labels überkam mich ein leises Gefühl von Melancholie, wie es mir manchmal ergeht, wenn ich mit Erinnerungsstücken aus der Vergangenheit konfrontiert werde.
Ich bin Ende der Sechziger geboren und war mit diesen Musikkassetten aufgewachsen. Ich weiß noch, wie scharf ich während der Schulzeit auf Mitschnitte von Rocksongs aus dem Radio war, auch wenn meistens der Moderator in das Ende reinquatschte. Später dann wurde es zu einer Art Wettbewerb, möglichst ausgefallene Zusammenstellungen aufzunehmen, zum einen für den Walkman oder die Kellerpartys, manchmal aber auch für ein Mädchen aus der Klasse, was einer Liebeserklärung gleichkam. Während der Tischlerlehre hatte ich außerdem in einer Band gespielt, Bassgitarre, dazu brauchte es nicht viel Übung. Wir hatten unsere Sessions mit ein paar billigen Mikros auf genau solchen Kassetten aufgenommen und uns beim Abhören des furchtbar verzerrten Gitarrenlärms schon auf den Bühnen riesiger Stadien rocken gesehen.
Als ich zum Zivildienst musste, hatte sich dieser Traum erledigt. Wegen einer Frau, in die ich mich in diesen zwei Jahren verknallt hatte, bin ich anschließend nach Berlin gezogen. Unsere Beziehung hielt nicht lange, aber da hatte ich bereits einen Job in einer Möbelfabrik gefunden. Als die dann pleite ging, war ich sogar froh darüber. Berlin mochte zwar kein gutes Pflaster für Tischler sein, bot aber sonst eine ganze Menge an Alternativen. Zu meinem Bekanntenkreises gehörten einige Leute, die als Taxifahrer jobbten und sich ansonsten ihre Zeit relativ angenehm mit Billard und Bräuten vertrieben. Also machte auch ich den Taxischein. Das ging eine Weile sogar ganz gut, irgendwann packte mich dann aber doch der Blues, zumal mein Konto ständig in den Miesen war. Auf einer Nachttour kam ich mit einem Fahrgast ins Gespräch, der mir vorjammerte, wie schwer es sei Mitarbeiter aufzutreiben, dabei könnte man bei ihm locker gutes Geld verdienen. Zum Abschied reichte er mir eine Visitenkarte.
Horst Schildwach - Umzüge & Räumungen.
»Nur, falls Sie mal den Job wechseln wollen.«
Das mit dem Geld stimmte schon, so richtig locker verdient war es allerdings nicht, vor allem nicht in der ersten Zeit. Aber als mein Chef mitbekam, dass ich ziemlich zuverlässig war und obendrein entspannt blieb, wenn mal wieder was zu Bruch ging, stieg ich zu einer Art Teamleiter auf. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, und ich fand die Arbeit noch immer okay.
Ich bückte mich zu dem wackeligen HiFi-Rack hinunter, in dem ich meine längst ausgemusterten Geräte verstaut hatte. Es war schon ein merkwürdiger Moment, als nach so vielen Jahren wieder die vertrauten Leuchtdioden aufblinkten. Was kurz darauf aus den Boxen dröhnte, klang allerdings mehr als grauenhaft, ein verstimmtes Geschrammel mit einer grottenhaft tiefen, mauligen Stimme. Ich hörte mir das eine Weile an und legte eine andere Kassette aus der Schublade ein. Das Ergebnis war das gleiche. Was auch immer ich erwartet hatte, das war es jedenfalls nicht.

Einige Tage später hatte sich der Sommer endgültig aus Berlin verabschiedet. Bei dem kühlen Wetter ging uns die Arbeit flott von der Hand, und so konnte ich schon früher Feierabend machen. Ich nutzte die Gelegenheit zu einem Besuch in Ingos Bastelkiste unweit des Schlesischen Tors. Seit ich in dem Modellfliegerclub war, schaute ich dort fast jede Woche rein, zumal der Inhaber unser zweiter Vorsitzender und inzwischen ein guter Freund von mir war.
Nachdem ich einiges an dekorativem Zubehör für meine fast fertige Fokker auf dem Verkaufstresen liegen hatte, griff ich in meine Lederjacke.
»Schau dir das mal an«, sagte ich.
Ingo drehte die Kassette unschlüssig zwischen den Fingern.
»November Day«, las er laut. »Und? Was soll ich damit?«
»Ich dachte, vielleicht kannst du mir sagen, was diese komischen Kringel zu bedeuten haben. Auf meinem Rekorder klingt alles total schräg, keine Ahnung wieso. Ich habe eine ganze Schublade davon. Sind neulich bei einer Entrümpelung angefallen.«
Ingo kratzte sich nachdenklich an seinem Vollbart, bis er mir ein Zeichen gab, ihm zu folgen. In einer vom eigentlichen Verkaufsraum durch einen Perlenvorhang abgetrennten Kammer stapelten sich in den Regalen alle möglichen antiquierten Musikgeräte. Außer als Fachhändler für Modellbaubedarf war der Second-Hand-Verkauf dieser Sachen sein zweites geschäftliches Standbein. Er legte die Kassette in einen recht sperrigen, flachen Rekorder ein, der mit jeder Menge Reglern und Knöpfen ausgestattet war. Als er die Starttaste bestätigte, schlugen die Zeiger der VU-Meter unterschiedlich stark aus.
»Dachte ich es mir. Das Tape ist in Vierspur aufgenommen.«
»In was?«
»In vier statt wie üblich in zwei Spuren. Wurde meistens von Hobbymusikern für Eigenaufnahmen so gemacht. Das erklärt auch diese Zahlenreihen.«
Ingo verkabelte das Gerät mit einer Stereoanlage. Kurz darauf drang aus den Lautsprechern eine Musik, die sich tatsächlich nach November Day anhörte, ein trauriger, von zwei gezupften akustischen Gitarren und einer hohen, männlichen Stimme begleiteter Song. Als er ein wenig an den Reglern des Rekorders drehte, hörte ich, wie sich die beiden Akustikgitarren räumlich voneinander trennten. Er deutete auf die Kassettenhülle.
»Siehst du hier, diese Kreise mit dem Zeiger? Das sind die Panoramaeinstellungen der einzelnen Spuren, links, rechts, Mitte. Die Zahlen dahinter geben die Dynamik an, also lauter oder leiser.«
Ich nickte abwesend, während ich weiter dem Song zuhörte. Auch wenn er mir völlig unbekannt war, gefiel er mir auf Anhieb ausgesprochen gut.
»Komisch«, sagte ich, »bei mir klang das tatsächlich wie völliger Schrott, ganz anders.«
»Wundert mich nicht«, sagte Ingo. »Das Band muss mit doppelter Geschwindigkeit laufen. Zum Mastern braucht man noch ein Stereodeck, am besten einen DAT-Rekorder. Ein normaler Rechner tut’s inzwischen aber auch.«
Ich hatte von diesem technischen Kram keine allzu große Ahnung.
»Was willst du für dieses Ding da eigentlich haben?«
Ingo zuckte mit den Achseln.
»Schwer zu sagen. Das Gerät hat früher eine Stange Geld gekostet. Heute wird so was nur noch von absoluten Analog-Freaks nachgefragt, wenn überhaupt. Ich bin froh, wenn ich es los bin.«
Er nannte mir einen Preis und ich schlug ein. Eine viertel Stunde später hatte ich einen Schnellkursus in Homerecording absolviert. Ich verstaute den Zettel mit meinen Notizen in der Lederjacke und klemmte den Rekorder unter den Arm.
»Bis nächsten Sonntag«, rief mir Ingo hinterher. Er deutete auf die Plastiktüte mit dem Bastelzubehör. »Hast du die Fokker dann schon flugbereit?«
»Worauf du wetten kannst«, rief ich zurück.

Seit diesem Tag aber kam alles ganz anders, und es dauerte nicht lange, bis mich Marion abends im Bett halb vorwurfsvoll, halb zärtlich nur noch meine Kellerassel nannte.
Tatsächlich verbrachte ich anschließend fast all meine Freizeit im Bastelkeller und beschäftigte mich mit den Kassetten, einschließlich der Wochenenden, was mir außer Marions Sticheleien schnell auch einige zunehmend genervte Anrufe anderer Freunde einbrachte. Aber ich hatte eine neue Leidenschaft gefunden, und zwar eine, die mich selbst in den Schlaf hinein verfolgte oder mich sehnsüchtig auf den Feierabend warten ließ: Ich mischte Lieder ab, Lieder eines mir völlig unbekannten Musikers.
Wie Ingo mir schon in seinem Laden erklärt hatte, befand sich auf jeder Kassette nur eine einzige Aufnahme. Die Instrumente und Stimmen waren auf jeweils einer von vier Spuren aufgeteilt. Je nachdem, welchen der Regler man hochdrehte, fügte sich dann alles zu einem Song zusammen. Durch die Panoramaregler erreichte man eine Stereo-Verteilung, außerdem gab es noch Regler für künstlichen Hall, dessen Intensität den einzelnen Spuren eine unterschiedliche Räumlichkeit verlieh. In den ersten Tagen hatte mich das alles ziemlich verwirrt, aber irgendwann hatte ich den Bogen raus. Die anfangs kryptischen Kürzel auf den Hüllen waren mir dabei eine große Hilfe gewesen.
Die ganze Tüftelei zog sich fast über den gesamten Monat hin. Schließlich besaß ich über zwei Dutzend fertig abgemischte Songs, die ich in den unterschiedlichsten Zusammenstellungen auf CDs gebrannt hatte. Der größte Teil war akustisch instrumentiert, es gab aber auch welche, in denen ein Schlagzeug und Elektrogitarren zum Einsatz kamen, sogar ein reines A-cappella-Stück war unter den Aufnahmen. Sowohl von der Klangqualität als auch von der spielerischen Klasse her hörte sich alles sehr professionell an. Was mich aber vor allem verblüffte, war der ungemeine Reichtum an wunderschönen Melodien sowie diese fast körperlose, an einen Engel erinnernde Stimme. Die ausschließlich englischen Texte waren zwar bisweilen recht stereotyp, und handelten abwechselnd von Liebesschmerz, Sehnsucht oder Einsamkeit, fügten sich aber harmonisch in die Instrumentierung ein.
Als ich mich Ende des Monats abends mal wieder mit Ingo auf ein Bier traf und ihm begeistert von den Kassetten erzählte, sah er mich nur verständnislos an.
»Und deswegen hast du uns die letzte Zeit so hängen gelassen? Ich dachte schon, du hättest eine neue Freundin. Aber okay, nun ist die Sache ja hoffentlich gegessen.«
»Noch nicht ganz«, erwiderte ich.
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
»Ich will wissen, wer dieser Musiker ist«, sagte ich. »Wenigstens seinen Namen will ich herausfinden, und wer weiß, vielleicht lerne ich ihn ja sogar auch persönlich kennen.«
»Du hast ’ne echte Macke, weißt du das?«
Ich starrte stumm in mein Bier herein. Ingo hatte recht, aus meiner anfänglichen Neugier war längst eine Manie geworden. Umso entschlossener war ich zu erfahren, wer dieser Mensch war, dessen Melodien und Stimme mich so sehr in ihren Bann zogen. Es würde nicht einfach sein, das herauszufinden, zumal die einzige Spur zu einem Weddinger Dachboden führte. Doch die Vorstellung, das Geheimnis hinter diesen Liedern zu lüften, erzeugte in mir ein merkwürdig befreiendes Gefühl, dem ich mich nicht entziehen konnte.

Der Hausmeister konnte sich sogar noch an mich erinnern, als ich ihn am nächsten Morgen von unserem Büro aus anrief und mich bei ihm nach der Familie von Frau Skoluda erkundigte.
»Familie?«, grunzte es im Hörer. »Um die Olle hat sich seit Jahren keine Sau mehr gekümmert. Das war noch’n riesen Theater, als wir die Wohnung aufbrechen mussten. Gestunken hat das, sag ich Ihnen, da machen Sie sich keine Vorstellung von. Und dann hat mich auch noch deren Sohn blöd angemacht, als ich ihn wegen der ganzen Klamotten und so angerufen habe. Sagte doch glatt, das ginge ihn nichts an. Na, dem hab ich aber meine Meinung gesagt.«
»Frau Skoluda hatte einen Sohn?«
»Ja, so’n reicher Schnösel aus Weißensee. Ist hier mit ’nem ziemlich dicken Wagen vorgefahrn.«
»Wissen Sie, ob dieser Sohn zufällig Musiker ist?«
»Musiker? Wieso?«
Ich erklärte ihm halbwegs die Umstände meines Anrufs.
»Nee, da kann ich Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Aber fragen Sie doch den Sohnemann selbst. Moment, bin gleich wieder da.« Er legte den Hörer beiseite, um sich kurz darauf wieder zu melden. »Also, da steht’s ... Erich Skoluda, so heißt er.«
Ich notierte mir Telefonnummer und Adresse und legte dankend auf. Dass aus meinem Phantom-Musiker inzwischen ein aufgeblasener Neureicher geworden sein sollte, passte zwar nicht wirklich zu der Vorstellung, die ich von ihm hatte, aber Menschen konnten sich ja ändern. Gespannt griff ich erneut zum Hörer.
»Skoluda Immobilien«, meldete sich eine freundliche Sekretärinnenstimme.
Ich bat darum, Herrn Skoluda zu sprechen. »Es geht um was Privates.«
Die Stimme wurde schlagartig unfreundlicher. »Tut mir Leid, aber der Chef ist unterwegs. Kann ich etwas ausrichten?«
»Sagen Sie ihm, es dreht sich um seine kürzlich verstorbene Mutter. Ich hätte zu Ihrer Hinterlassenschaft ein paar Fragen. Er soll mich bitte zurückrufen.«
Ich nannte meine Handynummer und legte auf. Während des Umzugs, der am Nachmittag anstand, schielte ich immer mal wieder auf das Handy, ob sich dieser Typ endlich meldete, aber nichts geschah. Als ich abends zurück nach Moabit fuhr, rief mich dafür Marion an. Sie teilte mir mit, dass sie mit einer Arbeitskollegin ins Kino gehen würde und ich nicht mit dem Essen auf sie warten sollte. In ihrer Stimme schwang ein reichlich schroffer Ton mit.
»Ist was?«, fragte ich.
»Was soll sein? Dir geht es doch seit Wochen am Arsch vorbei, wie es mir geht. Abgesehen davon wollten wir gestern Abend eigentlich ausgehen, falls du dich erinnerst. Aber du hast es neuerdings ja nicht einmal nötig, mir mitzuteilen, wo du dich bis spät in die Nacht herumtreibst. Und dein Handy hattest du auch mal wieder nicht an.«
Jetzt dämmerte mir auch, warum sie sich heute morgen ohne den üblichen Weckkuss auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte.
»Tut mir Leid«, entgegnete ich kleinlaut. »Ich habe mich gestern spontan noch mit Ingo getroffen, und als ich ihm von den Kassetten erzählte ...«
»Kassetten?«, echote es wütend aus dem Hörer. »Hör mal, Benno, wenn das mit diesen verdammten Kassetten nicht bald ein Ende hat, bist du mich schneller los, als du gucken kannst!«
Damit brach die Verbindung ab. Irgendwie konnte ich Marions Reaktion sogar verstehen, zumal ich schon länger ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hatte. Gleichzeitig hatte mich unsere Sekretärin heute Vormittag auf die Idee gebracht, im Internet nach günstigen Kurzurlauben Ausschau zu halten. Sie selbst hatte mit ihrem neuen Freund ein offenbar ziemlich romantisches Wochenende in irgendeinem süddeutschen Kaff verbracht. Marion würde so etwas mit Sicherheit versöhnlich stimmen. Und da sie heute Abend ohnehin schon unterwegs war, konnte ich die Zeit sinnvoller nutzen, als Zuhause allein vor dem Fernseher herumzuhängen.

Es war bereits fast dunkel, als ich den Jetta in einer von alten Platanen gesäumten Seitenstraße parkte. Ich hatte mich mehrmals verfahren, da ich in dieser Ecke von Berlin seit ewigen Zeiten nicht mehr unterwegs gewesen war. Hinter den Rollläden des villenartigen Neubaus, in dem Erich Skoluda wohnte, schimmerte Licht durch. Es dauerte eine ganze Weile, bis auf mein Klingeln hin die Gegensprechanlage zu krächzen begann.
»Ja bitte?«
Ich wiederholte das, was ich mittags schon der Sekretärin gesagt hatte.
»Sind Sie Rechtsanwalt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Hören Sie, es geht wirklich nur um etwas rein Privates.«
Als ich nicht mehr damit gerechnet hätte, sprang dann doch das Schloss des Gartentors auf. Erich Skoluda empfing mich mit verschränkten Armen an der Haustür. Er war ein hochgewachsener Mann mit stattlicher Figur. Auch das breite, glattrasierte Kinn deutete an, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.
Ohne mir die Hand zu reichen, trat er zur Seite und deutete auf eine offenstehende Tür im Korridor. Kurz darauf nahm ich auf einem ziemlich teuer aussehenden Sofa Platz. Auf dem Glastisch stand ein daumenbreit gefülltes Whiskyglas, das Skoluda fragend an die Lippen hob, nachdem er sich gesetzt hatte.
»Also? Worum geht es?«
Ich erzählte ihm von den Kassetten und dass ich gerne gewusst hätte, wer sie aufgenommen hat.
»Sind Sie Musikproduzent oder so was?«
»So ähnlich«, sagte ich.
»Keine Ahnung, wie meine Mutter an diese Kassetten geraten ist. Auf ihrem Dachboden, sagen Sie?« Erstmals blitzte eine Spur Neugier in seinen Augen auf. »Sind die Dinger denn wertvoll?«
»Nicht wirklich«, winkte ich ab. »Es geht mir nur um das rein künstlerische Interesse.«
»Künstlerisches Interesse?« Skoluda musterte mich mit einer Miene, als hätte ich etwas Obszönes gesagt. »Sie machen mir Spaß! Hören Sie, ich habe keine Lust, mir von solch einem Blödsinn meine Zeit rauben zu lassen. Seine Hand deutete zur Tür, »Also, ich würde Sie bitten, dann wieder zu gehen.«
So einfach jedoch wollte ich mich nicht abwimmeln lassen. »Aber Ihre Mutter ...«, begann ich.
»Meine Mutter, meine Mutter!«, fiel mir Skoluda ins Wort. »Mit der hatte ich schon seit fast dreißig Jahren nichts mehr am Hut. Bereits als Schüler habe ich allein für mich sorgen müssen, verstehen Sie?«
Er grunzte kopfschüttelnd in seinen Whisky.
»Hatten Sie denn seitdem wirklich nie mehr Kontakt miteinander«, hakte ich vorsichtig nach.
»Nein«, erwiderte Skoluda mit merklich leiserer Stimme. »Seit mein Vater ...« Er stockte und sah mich zögernd an. »Wollen Sie vielleicht auch einen Schluck?«
Ich nickte. »Gerne.«
Wortlos wartete ich, bis er von der Bar zurückkehrte.
»Mein Vater ist bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen«, fuhr Skoluda fort, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. Alles Arrogante war jetzt von ihm gewichen. »Mitte der Siebziger war das. Ich meine, wir alle haben darunter gelitten, aber meine Mutter hatte sich daraufhin keinen Deut mehr um mich und meine kleine Schwester gekümmert. Angefangen zu trinken hatte sie, wie ein Loch. Richtiggehend verwahrlosen lassen hätte sie uns, wenn ich nicht die Verantwortung übernommen hätte. Ich bin dann mit meiner Schwester in die WG von dem Bekannten eines meiner Lehrer gezogen. Kurz darauf hatte ich die Schule abgebrochen und eine Ausbildung bei einer Bank angefangen, damals ging das noch, auch ohne Abitur. Frühmorgens habe ich außerdem Zeitungen ausgeteilt und an den Wochenenden habe ich in einer Tankstelle gejobbt, um die Miete und all das zu bezahlen.«
»Ganz schön hart«, sagte ich und nippte an meinem Whisky.
»Auf Ihre Kommentare kann ich gerne verzichten, ja?«, blaffte Skoluda mich an. Eine Weile starrte er stumm in sein Glas. »Jedenfalls ist das die Erklärung, warum wir mit meiner Mutter nichts mehr zu tun haben wollten. Meine Schwester hat die Trennung allerdings nie richtig verkraftet. Sie war irgendwann an so einen Zuhältertypen geraten, danach folgten Drogen, der Strich, Entzug, dann alles von vorne, wieder und wieder. Vor etwas über einem Jahr hat man sie tot in einer Absteige gefunden.«
»Wusste Ihre Mutter davon?«, fragte ich.
»Ich hatte kurz überlegt, sie wegen der Beerdigung anzurufen. Es ging nicht, ich konnte nicht.«
Er kippte den Rest seines Drinks in einem Zug weg und setzte sich mit schon leicht glasigem Blick auf. »Aber warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Gehen Sie jetzt, bitte!«
Diesmal erhob ich mich ohne Widerrede. Offensichtlich war ich jetzt schon an das Ende meiner Recherchen angelangt, aber irgendwie war ich sogar froh darüber. Eigentlich wollte ich ja nur den Namen eines Musikers wissen, dessen Lieder mich begeisterten, und nicht alte Familientragödien aufrollen.
»Einen Moment noch«, sagte Skoluda, als wir bereits vor der Haustür standen. Er verschwand wieder im Wohnzimmer. Während ich auf ihn wartete, fiel mir die Einrichtung in diesem Haus auf. Nicht ein Bild hing an den Wänden, es gab keine Pflanzen oder sonst was, alles wurde beherrscht von nacktem Stein, Glas und Metall. Und dann fiel mir auch noch diese Stille auf. Nicht ein Laut war zu hören, bis ich wieder seine näher kommenden Schritte vernahm.
»Hier, die können Sie mitnehmen«, sagte er.
Er reichte mir fünf Din-A4-große Kladden, deren schwarze Einbände von einem roten Bändchen umspannt waren.
»Das ist das Einzige, was ich aus der Wohnung meiner Mutter behalten habe. Sie hatte darin wahllos alles notiert, was ihr wichtig schien, schon, als mein Vater noch lebte. Ich habe gesehen, dass sie das auch später noch fortgeführt hatte. Vielleicht finden Sie in diesem Chaos, was Sie suchen.«
Ich versprach ihm, die Kladden so schnell wie möglich zurückzubringen.
»Das brauchen Sie nicht«, sagte Erich Skoluda. »Ich bin sogar froh, diese Dinger endlich los zu sein. Eigentlich sollte ich sie schon längst weggeworfen haben.«
»Aber wieso«, entgegnete ich ungläubig. »Das sind doch immerhin die letzten ...«
»Geschenkt«, unterbrach er mich und öffnete die Haustür. Grußlos zog er sie hinter mir zu.

In meiner Wohnung machte ich mich sogleich an die Sichtung der Kladden. Jede von ihnen bestand aus sechzig Seiten linierten Papiers, die bis auf den letzten Band sämtlichst mit einer winzigen Schrift vollgeschrieben waren. Was mir sofort auffiel war das Fehlen jeglicher Datumsangaben. Mir schwante, dass ich Tage, wenn nicht Wochen brauchen würde, um darin das zu finden, was ich suchte. Wenn es denn überhaupt vorhanden war.
Kurz vor elf hörte ich das metallische Klacken der Wohnungstür. Ich verstaute die Kladden im Bücherregal und setzte mich zurück auf das Sofa. Marion wirkte noch immer angesäuert, als sie das Wohnzimmer betrat.
»Und? Wie war der Film?«, fragte ich.
»Langweilig.« Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. »Ich soll dich von Petra grüßen. Wir waren noch beim Griechen.«
Ich sah eine Weile schweigend zu, wie sie durch die Programme zappte.
»Das mit gestern tut mir Leid, okay?«, sagte ich.
»Ach.« Marion steckte sich eine Zigarette an. »Sonst hast du mir nichts zu sagen?«
Ich schaltete den Kasten aus und nahm sie in den Arm, was sie eher widerwillig geschehen ließ.
»Was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende verreisen«, fragte ich. »Einfach mal raus aus Berlin. An die Ahr vielleicht. Mitte Oktober ist angeblich die beste Zeit dafür. Ich könnte mir Freitag und Montag zusätzlich frei nehmen, und du hast ja auch noch Resturlaub.«
»Wofür? Um alte Kassetten anzuhören?«
»Ich dachte eher an Wandern und Wein trinken und so.«
»Und so?«, erwiderte sie spöttisch und stieß den Rauch spitz durch die Lippen.
Ich wusste, dass Marion die Gegend rund um das Ahrtal liebte, ihre Großeltern stammten aus der Eifel. Ich fischte ihr die Zigarette aus den Fingern, nahm einen Zug und drückte sie trotz Marions Protest im Aschenbecher aus.
Eine ganze Weile später teilten wir uns verschwitzt und nackt auf dem Teppichboden liegend eine zweite Zigarette.
»Ich frage am besten gleich morgen im Reisebüro nach«, sagte Marion. Sie hatte den Kopf auf meine Schulter gebettet und blinzelte rauchend an die Zimmerdecke. »Die haben ganz günstige Pauschalangebote, gerade jetzt in der Nachsaison.«
»Lass uns lieber was im Internet suchen«, erwiderte ich schläfrig. »Unsere Sekretärin meinte, dass sie das nur noch so macht.« Ich schielte gähnend auf die Armbanduhr. Es war bereits über Mitternacht hinaus. »Abgesehen davon sollten wir mal allmählich ins Bett gehen.«
Während wir unsere über den Boden verstreuten Klamotten aufsammelten, entdeckte Marion die Kladden im Bücherregal. Sie zog eine davon heraus und blätterte sie auf.
»Was ist denn das schon wieder für ein Kram? Tagebücher? Doch wohl hoffentlich nicht ein neuer Spleen von dir. Ich warne dich!«
»Ach das«, winkte ich beiläufig ab. »Fiel heute bei ’ner Räumung ab. Branko meinte, die könnten vielleicht wertvoll sein. Du kennst ihn ja«, lachte ich. »Ich schmeiß das Zeug gleich morgen weg. Versprochen.«

Nachdem ich die Kladden am nächsten Morgen sicher im Keller verstaut hatte, mutierte dieser an den folgenden Feierabenden zum Lesezimmer. Neben dem Entziffern von Frau Skoludas nahezu unleserlicher Handschrift bestand das eigentliche Problem darin, dass ihre Notizen über weite Strecken ein chaotisches Sammelsurium von alltäglichen Belanglosigkeiten waren.
Außer diesen Tagesnotizen fanden sich darin immer wieder auch längere Passagen, in denen Renate Skoluda über sich schrieb. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, diese persönlichen Eintragungen zu überfliegen, dennoch weckten sie von Beginn an meine Neugier. Mehr und mehr wurde mir klar, wie sehr sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in einen nicht enden wollenden Alptraum geraten war, der sich irgendwann nur noch um Alkohol drehte. Schließlich wurde sie in ein Landeskrankenhaus bei Göttingen eingewiesen, wo sie etwa zwei Jahre verbrachte. Danach zog sie wieder zurück nach Berlin, in jene Wohnung im Wedding, in der sie dann völlig vereinsamt gestorben war.
Abgesehen von den intimen Einblicken in Frau Skoludas Leben kam ich meinem eigentlichen Ziel jedoch keinen Schritt näher. In einem Notizblock hatte ich mir sämtliche Namen notiert, die in Frage kamen, aber nicht einer wollte zu einem Musiker passen.
Inzwischen war gut eine Woche vergangen, seit ich mich mit den Kladden beschäftigte. Ich quälte mich gerade wieder durch einen Wust von Banalitäten, als ich auf folgende Eintragung stieß, die sich in etwa auf die Mitte der Neunziger datieren ließ:
Heute Morgen unerwartet Besuch von Louis. Fragte mich, ob ich seine Musik für ihn aufbewahren kann. Der arme Junge, so blass. Warum hatte er damals auch Britta verlassen?
Louis, Musik. Die beiden Wörter elektrisierten mich geradezu. Ich blätterte in meinem Notizblock zurück. Insgesamt ein Dutzend Mal hatte Frau Skoluda diesen Namen erwähnt, und zwar auf den Seiten, die sie in der Göttinger Klinik geschrieben hatte, was ungefähr fünf Jahre vor diesem Eintrag lag. Ich las die Seiten noch einmal durch. Meinem Eindruck nach musste es sich bei diesem Louis um eine Art Pfleger gehandelt haben, der sich offensichtlich mehr als andere um sie gekümmert hatte.
Und da war noch diese Britta, ein Name, der mir in den Kladden schon mehrmals begegnet war, und den ich nur deswegen nicht notiert hatte, weil es sich um eine Frau handelte. Sie schien eine der wenigen Menschen zu sein, zu denen Frau Skoluda in den Jahren nach dem Klinikaufenthalt noch Kontakt pflegte. Bei ihrer ersten Nennung war zudem von einem Jungen die Rede, und Frau Skoluda erwähnte, wie sehr sie sich gefreut hatte, ihn wiedergesehen zu haben. Damit konnte dieser Louis gemeint sein. In fieberhafter Eile blätterte ich die folgenden Seiten durch, und es hatte kaum eine Stunde gedauert, bis ich am Ende der vierten Kladde auf einen Eintrag stieß, der mich regelrecht aufjubeln ließ:
Umzug Britta. Fragte, ob ich sie nicht mal besuchen kommen wollte. Danach folgte eine Telefonnummer.
Es war kurz vor elf, eigentlich schon deutlich zu spät, um einen wildfremden Menschen anzurufen und auf etwas anzusprechen, was so viele Jahre zurücklag. Außerdem war es gut möglich, dass weder die Adresse noch die Telefonnummer noch stimmten. Trotzdem konnte ich nicht anders, als zum Handy zu greifen.

Brittas Wohnung befand sich im achten Stock eines tristen städtischen Hochhausblocks in Neukölln. Pünktlich um sieben Uhr abends des folgenden Tages klingelte ich an ihrer Wohnungstür. Die Frau, die mir öffnete, trug verwaschene Jeans und einen ausgeleierten Pullover, unter dem ihr Körper fast konturlos erschien. Sie war etwas größer als ich, mit einem hohlwangigen, von strähnigen Haaren umrahmten Gesicht.
Ich hatte einen Strauß Herbstblumen mitgebracht, den ich ihr im Korridor überreichte. Die ungelenke Art, mit der sie ihn entgegennahm, wirkte so, als ob sie schon lange nichts mehr derartiges geschenkt bekommen hatte.
»Dort entlang. Wundern Sie sich aber nicht wegen der Unordnung.«
Das Wohnzimmer sah aus wie eine Mischung aus Kinderkrippe und Sperrmülldepot. Die Einrichtung setzte sich vorwiegend aus übereinander gestapelten Obstkisten zusammen. Unter dem Fenster stand ein durchgesessenes Schlafsofa, das von einer mit Kinderbüchern übersäten Matratze flankiert wurde.
»Hier bitte.« Sie deutete auf das Sofa, während sie sich auf die Matratze kauerte. »Etwas Besseres kann ich Ihnen leider nicht bieten.«
Was mir auffiel, war ihre angenehme, wohlartikulierte Stimme. Ausführlicher als während des gestrigen Telefonats schilderte ich noch einmal die Gründe meines Besuchs.
»Dass Frau Skoluda tot ist, habe ich nicht gewusst. Ich hatte mich bis vor einigen Jahren ein wenig um sie gekümmert, bis ... Na ja, Sie sehen ja selbst, wie es hier aussieht. Wenn man allein ein Kind durchbringen muss, bleibt nicht mehr viel Energie übrig, für andere da zu sein.«
In der Art, wie sie das sagte, schwang keinerlei Selbstmitleid mit. Ich hatte in meinen Job genügend erlebt, um mir ihr Schicksal vorstellen zu können. Trotz der ärmlichen Verhältnisse schien sich diese Frau aber nicht aufgegeben zu haben. Die Pflanzen auf dem Fensterbrett sahen gesund aus, und neben der Tür hing ein buntes Poster mit den Abbildungen einheimischer Vögel. Vor allem aber fehlte das, was sonst eigentlich überall zu finden war, selbst inmitten des übelsten Mülls: ein laufender Fernseher.
Ich griff in meinen Rucksack und holte eine der CDs heraus.
»Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie bitten, hier mal reinzuhören. Vielleicht erkennen Sie ja seine Stimme wieder.«
»Aber klar, deswegen sind Sie ja hier.« Britta stellte einen mit Comic-Figuren beklebten Ghettoblaster zwischen uns auf den Boden. »Ich bin mindestens so gespannt wie Sie.«
Einige Lieder später lehnte sie sich zurück.
»Ja, das ist Louis. Vor allem das letzte Lied kenne ich genau. Er hatte es mir häufig auf seiner Gitarre vorgespielt. November Day, ja, er mochte das Lied sehr.«
»Erzählen Sie mir bitte von ihm«, sagte ich. »Ich möchte gerne alles über ihn erfahren, jedes Detail. Vielleicht kommt Ihnen das verrückt vor, aber ...«
»Verrückt? Sie sind gut!«, unterbrach sie mich. Sie griff nach einem Schreibblock, der zwischen den Kinderbücher lag. »Seit Sie mich gestern Abend angerufen haben, denke ich an nichts anderes mehr. Ich habe heute Nachmittag alles aufgeschrieben, was ich über die Zeit mit Louis erinnere. Es sind mehrere Seiten geworden, ich konnte gar nicht aufhören zu schreiben. Am besten, ich lese es Ihnen vor. Hoffentlich langweile ich Sie nicht damit.«
Ich lächelte Britta an.
»Das werden Sie bestimmt nicht«, sagte ich.

Das erste Mal bin ich Louis auf einem Konzert begegnet, im Mai 1993 war das. Der Club war brechend voll, und ich hatte mich schnell zur Bar verzogen. Dort stand dann dieser schmächtige Typ, der im Gegensatz zu den meisten anderen nicht bekifft schien und auch sonst irgendwie fehl am Platze wirkte. Außer meiner Freundin, die mich zu dem Konzert überredet hatte, kannte ich sonst niemanden, und so kamen wir ins Gespräch. Die Musik fanden wir beide nicht so toll, also sind wir in die nächstbeste Kneipe abgehauen.
Vierundzwanzig war er damals, drei Jahre älter als ich. Er erwähnte, dass er aus Kassel stammte, eine Zeitlang in Göttingen zugebracht hatte und seit seinem Umzug nach Berlin von Sozialhilfe lebte. Dann fing er an, mir von seinen Liedern zu erzählen, und dass er überzeugt war, damit berühmt zu werden. Alles in allem fand ich ihn ziemlich schräg, trotzdem gefiel er mir, und ich glaube, ich habe ihn das auch merken lassen. Louis aber schien keinerlei Interesse an einem Flirt zu haben. Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass er an diesem Abend einfach nur nicht allein sein wollte, und schließlich wurde mir das zu blöd.
Wochen später sind wir uns dann zufällig in der S-Bahn wiederbegegnet. Ich kam von der Handelsschule und hatte nichts weiter vor, also bin ich mit ihm an die Spree runter. Louis hatte seine Gitarre dabei und wollte mir einige seiner Lieder vorspielen, von denen er mir erzählt hatte. In der Nähe saßen ein paar Jugendliche, und als er zu singen anfing, machten sie sich einen Spaß daraus, ihn albern zu imitieren. Die Jungs dachten sich wohl nicht viel dabei, aber Louis hörte sofort auf zu spielen. Man sah ihm regelrecht an, wie sehr ihn dieser Spott schmerzte. In dieser Nacht hatten wir miteinander geschlafen, bei mir in meiner Wohnung, in der ich zusammen mit einer Freundin wohnte. Ich hatte damals schon einige Erfahrungen mit Männern, und ich brauchte ihn nicht erst zu fragen, um zu wissen, dass es das erste Mal für ihn war.
Die Beziehung, die sich in den nächsten Monaten zwischen uns entwickelte, war schon mehr als merkwürdig. Ich steckte mitten in meiner Ausbildung und hatte ziemlich genaue Vorstellungen von dem, was meine Zukunft betraf. Louis passte da überhaupt nicht hinein. Abgesehen davon, dass er außer der Musik offenbar keine anderen Interessen zu haben schien, wirkte er auch sonst für sein Alter total unreif. Außerdem war er der erste Mensch, den ich kannte, der offensichtlich keinerlei Freunde besaß. Anfangs fiel mir das nicht sonderlich auf, aber als ich ihn zu meinem Geburtstag fragte, ob er jemanden einladen wollte, hat er mich bloß fragend angesehen.
Über seine Familie hatte er bis dahin nur Andeutungen gemacht. An seinen Vater konnte er sich kaum erinnern. Angeblich hatte er beim Frankfurter SDS mitgemischt und war dann Anfang der Siebziger nach Mittelamerika abgehauen. Seine Mutter ist ihm ein gutes Jahr später nachgereist, ihr Kind hatte sie bei ihrer in Kassel lebenden Mutter in Obhut gegeben. Sie wollte nach einigen Wochen wieder zurückkehren, aber als sie dann auch Monate später nichts von sich hören ließ, gab Louis’ Großmutter eine Suchanzeige auf. Beide, Louis’ Vater und seine Mutter, galten seitdem als vermisst. So gesehen war er eigentlich ein Waise.
Irgendwann im Herbst sah ich nach einem Besuch bei einer Freundin Louis mit einer älteren Frau auf einer Parkbank sitzen. Als ich ihn ansprach, wirkte er total verstört. Er war aufgestanden und ist wie in Panik weggerannt. Die Frau stellte sich als Renate Skoluda vor. Anschließend erzählte sie mir, dass sie Louis aus einer psychiatrischen Klinik in Göttingen kannte. Beide waren dort Patienten gewesen, sie wegen ihrer Depressionen und Alkoholsucht, Louis wegen zweier Selbstmordversuche. Sie hatten in dieser Klinik wohl viel Zeit miteinander verbracht, und Frau Skoluda betonte, wie sehr sie sich gefreut hatte, dass sie Louis in diesem Park begegnet war.
Als ich Stunden später zu meiner Wohnung zurückkehrte, wartete Louis vor der Haustür auf mich. Er ahnte, was Frau Skoluda über ihn erzählt hatte und befürchtete, dass nun zwischen uns Schluss wäre. Wir haben dann bis spät in die Nacht hinein geredet. Er hatte mir von den Quälereien in der Schule erzählt und von seinen Angstattacken, die ihn in den letzten Schuljahren überfielen, und die dann nach dem Abitur unerträglich wurden. Kurz darauf hat er sich das erste Mal das Leben nehmen wollen. Er kam in ambulante psychologische Betreuung, aber einige Monate später wiederholte er den Versuch, woraufhin er nach Göttingen überwiesen wurde. Das wäre die bis dahin glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, meinte er, zumal er dort angefangen hatte, Gitarre zu spielen und eigene Lieder zu schreiben. Und als er nach über zwei Jahren Betreuung und Therapien entlassen wurde und nach Berlin zog, hatte er wohl tatsächlich das Gefühl, endlich auf eigenen Füßen stehen zu können. Dass er von Sozialhilfe lebte, machte ihm nichts aus, denn er hatte ja seine Lieder. Und außerdem, so sagte er noch, hätte er mich.
Inzwischen weiß ich, dass es allein die Musik war, die ihm etwas bedeutete. An diesem Abend aber dachte ich, dass dieses Gespräch der eigentliche Beginn unserer Beziehung wäre, so sehr fühlten wir uns an diesem Abend verbunden. Und Louis war seitdem auch wie verwandelt. Er wirkte selbstsicherer und kümmerte sich plötzlich um ganz alltägliche Sachen. Außerdem fing er an, auf sich zu achten, was Klamotten und so betraf. Als wir dann über Weihnachten zu meinen Eltern fuhren, meinte meine Mutter, den würde mir bestimmt bald eine andere ausspannen, und ich war auch noch stolz darauf.
Anfang des nächsten Jahres hatte sich meine Freundin eine andere Wohnung gesucht, und Louis zog zu mir. Wir wohnten etwa einen Monat zusammen, als er in einer ziemlich angesagten Bar in Mitte zu kellnern begann. Zuerst hatte ich mich sehr darüber gefreut, aber der Job brachte es mit sich, dass wir uns nur noch wenig sahen. Ich war zu der Zeit ziemlich im Stress mit Prüfungen, und wenn ich morgens aufstand, kam er gerade von der Arbeit zurück. Manchmal gab es zwei, drei Tage am Stück, in denen wir uns gar nicht mehr sahen.
Irgendwann im Frühsommer wollten wir dann über das Wochenende meinen Bruder in Rostock besuchen, aber Louis musste mal wieder kurzfristig für jemanden in der Bar einspringen, also bin ich alleine gefahren. Mir ging es bereits den ganzen Tag gesundheitlich nicht gut, also kehrte ich bereits am Samstagabend wieder zurück nach Berlin. Als ich in unserer Wohnung eintraf, lief im Schlafzimmer Gitarrenmusik, seine Musik, die er damals mit so einem speziellen Gerät aufzunehmen begonnen hatte. Zunächst wunderte ich mich, dass Louis anscheinend doch nicht arbeiten musste, gleichzeitig freute ich mich, dass wir den Abend gemeinsam verbringen würden. Als ich leise die Tür öffnete, um ihn zu überraschen, fand ich ihn zusammen mit einem anderen Mann in unserem Bett. Die beiden waren so miteinander beschäftigt, dass sie mich zunächst nicht einmal bemerkten.
Ich glaube, ich hatte mich niemals in meinem Leben so gedemütigt und verraten gefühlt wie in diesem Moment. Ich bin anschließend einfach aus der Wohnung gestürzt und hatte die nächsten Tage bei einer Freundin übernachtet. Als ich in die Wohnung zurückkehrte, hatte Louis alle seine Sachen bereits fortgeschafft.
Seitdem haben wir uns nie wieder gesehen. Und erst jetzt, nachdem ich dies alles geschrieben habe, fange ich an, das ein wenig zu bedauern.

Britta legte den Block beiseite.
»Ich hoffe, das war Ihnen nicht zu melodramatisch«, sagte sie. »Wir waren halt nur dieses eine Jahr zusammen. Die Lieder, die Sie mir vorgespielt haben, müssen auf jeden Fall später aufgenommen worden sein.«
»Wie ist eigentlich sein Nachname?«, fragte ich. »Den haben Sie nicht erwähnt.«
»Korda. Louis Korda. Der Familienname seiner Mutter.«
»Und Sie haben seitdem wirklich nie wieder etwas von ihm gehört? Vielleicht hat er ja mal angerufen, oder sich sonstwie gemeldet?«
»Doch, ein einziges Mal hat er das getan. Ich habe lange suchen müssen, bis ich die Karte gefunden habe.«
Sie blätterte den Schreibblock auf und reichte mir eine Ansichtskarte, die eine hell erleuchtete Flaniermeile bei Nacht zeigte.
Reeperbahn bei Nacht, stand auf der Rückseite. Der Poststempel datierte auf den Februar 1996. Louis’ Handschrift war fast noch winziger als die von Frau Skoluda, trotzdem konnte ich erkennen, dass es sich um dieselben akkuraten, fast druckbuchartigen Buchstaben handelte wie auf den Kassetten.
Liebe Britta,
ich wollte mich endlich mal wieder bei dir melden. Ich wohne jetzt seit über anderthalb Jahren in Hamburg und mir geht es eigentlich richtig gut. Siehst du den kleinen Club links auf der Vorderseite? Nächstes Wochenende trete ich dort zum ersten Mal mit einer Band auf, „Secret Life“ haben wir uns genannt. Ich bin schon furchtbar aufgeregt, mal sehen, wie das Konzert wird. Britta, ich hoffe dir geht es gut. Ich weiß, dass ich dir damals sehr weh getan habe, aber vielleicht ... Pass auf, ich schreibe dir nächste Woche einen Brief, das wollte ich sowieso schon lange tun, außerdem kann ich dir dann berichten, wie das Konzert gelaufen ist. Es würde mich außerdem wirklich freuen, dich mal wiederzusehen.
Louis
Ich machte mir in meinem Taschenkalender einige Notizen und reichte Britta die Karte zurück.
Sie las sie selbst noch einmal durch. »Dieser Brief ist nie angekommen«, sagte sie. Sie schob die Karte zurück in den Schreibblock.
»Haben Sie vielleicht ein Foto von ihm?«
Britta schüttelte den Kopf. »Es gab da zwar ein paar Aufnahmen von uns, aber die habe ich allesamt weggeworfen. Er war der erste Mann, in den ich wirklich verliebt war, ich wollte ihn einfach nur vergessen.«
Durch die angelehnte Wohnzimmertür drangen Stimmen von einer Hörspielkassette. Britta richtete ihren Blick auf einen altertümlichen Wecker auf dem Fenstersims.
»Ich muss meine Tochter allmählich ins Bett bringen«, sagte sie. Ich folgte ihr aus dem Zimmer hinaus auf den Flur. An der Wohnungstür drehte sie sich noch einmal zu mir um.
»Es ist schon merkwürdig, dass Sie das alles noch einmal aufwühlen mussten. Diese Musik, na gut, wenn sie Ihnen so sehr gefällt, vielleicht ist es die Mühe wert, ich weiß es nicht. Was Louis betrifft, so war er für mich seit damals gestorben, und ich habe mich selbst gewundert, wie lebendig die Erinnerungen an ihn doch noch sind. Vielleicht hat es ja auch etwas Gutes, sie wieder zugelassen zu haben. Aber eine Bitte habe ich noch ... Sollten Sie ihm tatsächlich irgendwann begegnen, erwähnen Sie mich bitte nicht. Das was zwischen uns war, gehört der Vergangenheit an.«
Während ich ihren Händedruck erwiderte, fiel mein Blick auf eine mit Fotos behaftete Pinnwand. Auf einem der Fotos war vor dem Hintergrund eines Einfamilienhauses Britta zu sehen, eine schöne, hochgewachsene junge Frau, die ein Baby im Arm hielt, neben ihr ein stolz lächelnder Mann, der das Köpfchen des Babys streichelte. Eine Kleinfamilie wie aus einem der Bilderbücher, die überall in dieser Wohnung herumlagen.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.

Brittas Geschichte beschäftigte mich noch die ganze Fahrt zurück zu meiner Wohnung. Obwohl sie mir kein Foto von Louis zeigen konnte, vermochte ich ihn mir inzwischen halbwegs vorzustellen. Vor allem aber hatte ich endlich seinen vollständigen Namen und wusste sogar, wie die Band hieß, mit der er in Hamburg aufgetreten war. Jedenfalls brannte ich darauf, mich vor den PC zu setzen und meine frisch erworbenen Erkenntnisse weiter zu vertiefen.
Marion empfing mich im Korridor, als ich die Wohnungstür aufschloss. Nach unserem Begrüßungskuss trat sie ein paar Schritte zurück.
»Und, fällt dir nichts auf an mir?«
Ich sah sie fragend an. Sie trug wie immer Jeans sowie eine ihrer selbstgeschneiderten Blusen. Mein Blick wanderte zu ihren Schuhen, eines ihrer ganz speziellen Hobbys.
»Benno, echt, sieh mich doch mal an!«
Jetzt erst entdeckte ich die himbeerroten Strähnchen in ihrem Haar.
»Und, gefallen sie dir? Ich dachte, wo wir übermorgen an die Ahr reisen, gönne ich mir auch mal was. Ist doch nicht zu schrill, oder?«
»Überhaupt nicht, steht dir gut.«
Irgendwie schien ich wohl nicht begeistert genug geklungen zu haben, denn Marion drehte sich enttäuscht zur Wohnzimmertür.
Im Fernsehen lief der übliche Schrott. Ich zappte abwesend durch die Programme.
»Und, wie war’s im Verein?«, fragte sie. »Ist ja diesmal nicht allzu spät geworden.«
Ich zuckte beiläufig mit den Achseln.»Das übliche eben.«
»Aha. Besonders gesprächig bist du ja nicht gerade.«
»War einfach viel zu tun heute«, erwiderte ich schläfrig, »ich bin einfach ein wenig platt. Außerdem muss ich gleich noch bei Ebay reinschauen, dauert nicht lange. In einer halben Stunde läuft im Dritten ein Bogart, den könnten wir uns ja noch ansehen, oder?«
»Na toll!«
»Wieso? Du magst die alten Schinken doch auch.«
Marion setzte sich auf.
»Du, Benno, als wir zusammengezogen sind, habe ich mir das ehrlich gesagt ein wenig anders vorgestellt mit uns. Ich meine, wir wohnen gerade mal ein halbes Jahr zusammen und benehmen uns fast schon so wie Kai und ich kurz vor unserer Scheidung. Eigentlich leben wir doch nur noch nebeneinander her, ich weiß gar nicht mehr, was dich eigentlich beschäftigt. Ich meine, wenn du irgendwelche Probleme hast, kannst du ja mit mir darüber reden.«
»Probleme? Welche Probleme?« Ich spürte, wie ich gereizt wurde. »Im Moment habe ich einfach nur viel um die Ohren, das ist alles.«
Ich drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und erhob mich von dem Sofa. Dabei musste ich an Louis’ Geschichte denken. Wahrscheinlich hatte er auch zu Notlügen gegriffen, als seine Affären begannen. Meine eigene Affäre aber hatte mit einer Leidenschaft zu tun, die ich mir selbst kaum erklären konnte. Und schon gar nicht Marion.
»Bis gleich dann«, lächelte ich ihr zu, bevor ich die Wohnzimmertür hinter mir zuzog.

Angrenzend zum Wohnzimmer befand sich ein kleinerer Raum, den wir gemeinsam nutzten. Marion hatte dort ihre Nähmaschine inklusive Bergen von Stoffballen untergebracht, am anderen Ende stand mein Schreibtisch mit dem PC.
Nachdem ich mich bei einer Suchmaschine eingewählt hatte, tippte ich zunächst einfach nur Louis Korda ein, ohne nennenswerten Erfolg. Anschließend versuchte ich es mit dem Namen der Band, Secret Life. Hier tauchten gleich Hunderte von Treffern auf, die vorwiegend auf Links diverser Sexseiten verwiesen. Ich scrollte mich eine ganze Weile lang durch den Wust an Eintragungen durch, bis ich ahnte, dass ich so nicht weiterkommen würde.
In Gedanken fasste ich noch einmal zusammen, was ich bei Britta erfahren hatte. So viel sie mir auch über Louis’ Leben erzählt hatte, die erfolgversprechenste Spur war letztlich die Ansichtskarte, die er ihr aus Hamburg geschickt hatte. Ich versuchte mein Glück mit einigen der Stichworte, die ich mir notiert hatte.
Bei der Kombination Reeperbahn, 1996, Secret Life und Konzert tauchte im Treffermenü endlich eine Eintragung auf, die mich aufmerken ließ. Ich klickte den Link an und sah, dass es sich um ein Interview handelte, das ein Hamburger Stadtmagazin vor wenigen Wochen erst mit Frank Lennart geführt hatte, dem Gitarristen und Sänger von Manngold. Ich kannte diese Gruppe. Von der Musik her erinnerten sie ein wenig an frühe Neue-Deutsche-Welle Bands, vor allem in der Schwulen- und Lesbenszene waren sie inzwischen richtig angesagt.
Der Anfang des Interviews handelte von der aktuellen CD und einer geplanten Deutschlandtournee. Ich überflog die ersten Absätze, bis ich auf jene Passage stieß, in der Frank Lennart auf seine künstlerische Vergangenheit angesprochen wurde.
Frank, du bist schon seit fast fünfzehn Jahren im Musikgeschäft. Hat dich der späte Erfolg überrascht, den du jetzt mit Manngold hast?
Frank Lennart: Eigentlich nicht. Die Musik, die ich früher mit den unterschiedlichsten Bands gemacht habe, findet sich auch in den neuen Songs wieder. Von daher war es für mich nur eine Frage der Zeit, bis wir endlich Erfolg haben würden. Dass es so lange dauerte, lag weniger an der Musik als daran, was gesellschaftlich oder medial akzeptiert war. Wir waren schon immer ziemlich schräg drauf, und das, was man so Zeitgeist nennt, passt jetzt einfach zusammen. Ich hoffe natürlich, dass das noch eine Weile anhält.
Dazu brauchtest du aber auch eine gehörige Portion Durchhaltevermögen. Viele Künstler scheitern gerade daran.
Frank Lennart: Natürlich gab es immer wieder Phasen, die schwierig waren, nicht nur finanziell, sondern auch künstlerisch. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie wir mal im Molotow auf der Reeperbahn aufgetreten sind, Anfang 1996 muss das gewesen sein. Ich habe damals bei einer Band namens Secret Life mitgespielt. Unser Sänger war an diesem Abend so was von neben der Spur, das kann man sich nicht vorstellen. Dabei waren seine Songs gar nicht schlecht gewesen, er konnte sie nur nicht rüberbringen, im Gegenteil, er zerstörte sie geradezu. Jedenfalls hatten die Leute an diesem Abend scharenweise den Club verlassen, bis wir das Konzert einfach abgebrochen haben. Natürlich war das bitter, aber irgendwie wächst man auch daran. Als Künstler muss man solche Sachen abhaken können, sonst sollte man besser erst gar nicht anfangen. Ich habe es getan, aber ich habe diese Rückschläge auch nie vergessen. Dafür ist der Erfolg jetzt umso schöner.
Stört es dich in diesem Zusammenhang, dass Manngold häufig mit dem Etikett einer Schwulenband belegt werden?
Frank Lennart: Schwul, lesbisch, was heißt das schon? Die Stones werden schließlich auch nicht nur von Heteros gehört. Klar spielt gleichgeschlechtlicher Sex in unseren Songs eine gewisse Rolle, aber eigentlich geht es darin um eine positive Einstellung, um Toleranz und Spaß am Leben. Wer mit wem ins Bett geht, ist mir persönlich total egal. Unter unseren Fans finden sich daher auch jede Menge so genannter Normalos. Ich jedenfalls habe damit kein Problem.
Damit war das Interview beendet. Es folgten noch die Daten zur anstehenden Tournee, die, wie ich feststellte, am kommenden Sonnabend in Hamburg beginnen sollte.
Anschließend wählte ich mich in die Website von Manngold ein. Auf der Startseite war ein Foto der Band zu sehen. Frank Lennart posierte mit vier anderen Männern vor einer Kiezkneipe. Keiner seiner Mitmusiker entsprach auch nur annähernd dem Bild, dass mir Britta von Louis vermittelt hatte, außerdem waren sie dafür alle viel zu jung. Einzig Frank Lennart sah man seine knapp vierzig Jahre an, mit seinem breiten Schnauzbart und den kurzgeschorenen Haaren wirkte er sogar noch älter.
Ich scrollte noch ein wenig in der Website herum. Schließlich klickte ich auf den Fan-Button mit der Mailadresse und schrieb folgenden Text:
Hallo Frank,
ich recherchiere seit einiger Zeit über einen Musiker namens Louis Korda und habe durch Zufall entdeckt, dass du mal mit ihm zusammen gespielt hast. Mich würde interessieren, was aus Louis geworden ist. Hast du vielleicht noch Kontakt zu ihm? Dann lass mich das doch bitte wissen. Außerdem besitze ich Aufnahmen von Louis, von denen ich mir sicher bin, dass sie niemals veröffentlicht wurden. Auch darüber wüsste ich gerne mehr. Es würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn du dich bei mir meldest.
Gruß aus Berlin
Benno
Ich tippte meine Handynummer und zur Sicherheit auch noch meine E-Mail-Adresse unter meinen Namen und schickte die Mail ab.
Marion war auf dem Sofa eingeschlafen, als ich das Wohnzimmer betrat. Ich brauchte nicht erst auf die Uhr zu schauen, um festzustellen, dass Ich fast zwei Stunden hinter dem Schreibtisch verbracht hatte. Ich schaltete den Fernseher aus und setzte mich zu ihr. Mein Blick fiel auf die rotgefärbten Strähnchen in ihrem Haar. »Was ist, murmelte sie schläfrig, als ich zärtlich über ihre Haare strich.
»Nichts«, sagte ich. »Es ist nichts.«

Am Donnerstag stand unter anderem ein Firmenumzug nach Fürstenberg an, so dass ich erst gegen sieben Uhr abends ins Büro zurückkehrte. Ich kopierte gerade die Auftragsformulare dieser Woche für unsere Sekretärin, als ich den Wagen des Chefs auf den Hof fahren sah. Er sah gestresst aus. Bei dem Umzug hatte es Branko böse erwischt, als er beim Hochtragen eines Kopierers mit dem Fuß umgeknickt war. Damit fiel einer unserer besten Leute für die nächsten Tage aus.
Horst Schildwach warf mir ein kurzes Kopfnicken zu, als er das Büro betrat. »Schöner Schlamassel«, brummte er. »Was meinte der Arzt?«
»Es handelt sich zum Glück nur um eine Verstauchung. Trotzdem ist er bis Ende nächster Woche krank geschrieben.«
»Na prima.« Er holte sich ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank und setzte sich mir gegenüber an den Schreibtisch unserer Sekretärin. »Das bedeutet, ich darf mich mal wieder mit der Arbeitsagentur herumärgern.«
»Das kann doch auch die Martens erledigen.«
»So? Nachher lässt sie sich wieder so einen durchgeknallten Studenten aufschwatzen. Nein, nein, das mache ich dann doch lieber selbst.«
Horst starrte mit düsterer Miene aus dem Fenster. Er war mittlerweile schon Mitte Sechzig. Zuletzt kam es mir häufiger so vor, als ob ihn sein früherer Elan verlassen hätte.
»Benno, da wir gerade unter uns sind ... Ich meine, das liegt mir jetzt schon länger auf dem Herzen, und ich will endlich mal raus damit. Was ich sagen will ist, dass ich mich in ein, spätestens zwei Jahren zur Ruhe setzen werde. Ich habe bereits mit meinem Steuerberater darüber gesprochen, welche Alternativen es gibt, die Firma fortbestehen zu lassen. Das beste wäre natürlich, es würde sich jemand finden, der alles wie bisher weiterführt, aber versprechen kann ich da nichts.«
Ich fingerte nervös an meiner Tastatur herum.
»Das heißt, ich sollte mich so langsam nach einem neuen Job umsehen?«
Er nahm einen Schluck Wasser, bevor er antwortete.
»Quatsch, ich meine nur ... Jedenfalls habe ich mir so insgeheim gedacht, dass du vielleicht in absehbarer Zeit die Leitung hier übernimmst. Das wäre allerdings mit einer Teilhaberschaft verbunden.« Er nannte mir die Höhe der entsprechenden Einlage. »Das klingt zwar viel, wäre aber deutlich weniger als die Summe, die dem Steuerberater vorschwebt. Ich würde es gerne sehen, dass du den Laden hier übernimmst. Und die Firma läuft ja nicht schlecht. Unser Name hat einen guten Ruf, das weißt du.«
»Ich weiß. So viel Geld habe ich aber nicht, nicht einmal annähernd.«
Horst nickte stumm.
»Nun gut, noch ist es ja nicht so weit. Ich denke, wir werden schon noch eine Lösung finden. Auf jeden Fall halte ich dich auf dem Laufenden, falls sich was Konkretes ergibt.«
Mir rutschte ein tonloses »Danke« heraus, während Horst sich von sinem Platz erhob.
»Ich werde mich mal wieder auf den Weg machen. Hast du hier noch was zu erledigen?«
»Nur der übliche Papierkram. Eine halbe Stunde vielleicht. Ich schließe dann ab.«
Nachdem ich wieder allein war, musste ich erst einmal eine rauchen. Ich war jetzt achtunddreißig Jahre alt, und die Vorstellung, mit meinem bisherigen Lebenslauf demnächst bei der Arbeitsagentur vorstellig zu werden, fand ich nicht besonders witzig. Gelernter Tischler, zwei Jahre Möbelfabrik, fünf Jahre Taxifahrer, zehn Jahre Entrümpler, Zusatzqualifikationen im Billard, Modellflugbau und Homerecording, darauf warteten die nur.
Ich hatte fast täglich in Wohnungen von Menschen zu tun, die arbeitslos waren. Dass mich das selber einmal treffen könnte, hatte ich bislang weitestgehend verdrängt. Ich dachte noch kurz an Horsts Angebot mit der Teilhaberschaft, aber so viel Geld konnte ich unmöglich aufbringen. Mit meiner Familie war ich schon lange über Kreuz, außerdem hatten weder meine Eltern noch mein Bruder nennenswerte Rücklagen, und Marion kam schon gar nicht in Frage. Blieben die Banken. Allerdings würden die für einen entsprechenden Kredit Sicherheiten oder zumindest ein gewisses Eigenkapital verlangen wollen. Über beides verfügte ich nicht.
Mitten in die depressiv unter der Schreibtischlampe hängenden Rauchschwaden hinein meldete sich mein Handy.
»Ja?«
»Spreche ich mit Benno?«
»Ja, klar. Wer ist denn da?«
»Lennart, Frank Lennart. Du hattest mir eine Mail geschickt, wegen Louis Korda.«
Schlagartig zerstoben meine Zukunftsängste.
»Wegen Louis, ja, natürlich. Schön, dass Sie ... dass du so schnell zurückrufst.«
Frank Lennart lachte heiser. »Hey Mann, seit Jahren versuche ich was über Louis zu erfahren, und plötzlich taucht aus dem Nichts heraus deine Mail auf. Kanntest du ihn denn auch von früher, oder wie?«
»Überhaupt nicht. Ich bin vor kurzem zufällig auf seine Aufnahmen gestoßen, das ist alles. Außerdem habe ich mich mit einer Frau unterhalten, mit der er früher mal hier in Berlin zusammengewohnt hat. Über sie bin ich dann auf dich gestoßen.«
»Pass auf, Benno, von Berlin nach Hamburg ist es nur ein Katzensprung. Komm einfach morgen Nachmittag oder auch später in unserem Studio vorbei. Ich würde dich gern persönlich kennenlernen. Und bring auf jeden Fall die Aufnahmen mit, hörst du? Ich selbst kann hier im Moment nicht weg, übermorgen beginnt die Tour. Wir könnten uns dann eigentlich erst wieder in sechs Wochen treffen.«
»Aber morgen geht es leider nicht, unmöglich.«
»Hey Mann, es wäre mir echt wichtig, verstehst du? Ich bezahle dir auch die Fahrtkosten.«
Ich nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. Das Angebot, Louis’ ehemaligen Mitmusiker persönlich kennenzulernen war einfach zu verlockend.
»Also schön«, erwiderte ich. »Ich versuch’s. Ich rufe dich in zwei Stunden zurück, okay?«
»Super, Benno, bis dann.«
Ich legte auf. Scheiße, dachte ich.

Im Korridor empfingen mich ein vollgepackter Trolley sowie eine aus allen Nähten platzende Reisetasche. Marion war


Einstell-Datum: 2007-09-30

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