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Spiegel im Spiegel
Autor: Dieter Hellfeuer · Rubrik:
Kurzgeschichten

Die ganze Nacht hatte eine drückende Hitze über der Stadt gelegen. Gleich nach dem Duschen hatte Paul sich eine Flasche Mineralwasser auf sein Zimmer bringen lassen und sich damit auf den Balkon begeben, dessen Schatten ein wenig Abkühlung versprach. An den Holztischen unten im Hof mischten sich die übrigen Hotelgäste mit den Anwohnern des Viertels zum Sonntagsbrunch. Bis in den Nachmittag hinein hatte er auf dem Balkon gesessen und dem Klappern des Geschirrs, den Gesprächsfetzen und dem Lachen der Kinder zugehört. Er selbst hatte während seines Studiums in diesem Hof viele Stunden verbracht, Zeitung gelesen oder in den Seminarunterlagen geblättert. Seine damalige Wohnung lag nur wenige Straßen entfernt, gestern Abend erst war er mit dem Taxi daran vorbeigefahren. Als er letzten Monat die Einladung zu dem Kongress erhielt, hatte er sogar kurz überlegt, sich bei einem seiner früheren Kommilitonen einzuquartieren, der noch immer in dieser Gegend lebte. Aber er wollte als Fremder zurückkehren, so wie ihm diese Stadt all die Jahre, die er hier gelebt hatte, immer fremd geblieben war.
Als Paul am frühen Abend das Hotel verließ, hing ein bleiernes Grau über den Häuserdächern. Schon nach wenigen Minuten hatte es zu regnen begonnen, ein warmer, klebriger Regen, der kaum Abkühlung brachte und von einem bedrohlich klingenden Donnergrollen begleitet wurde. Einige Passanten eilten mit gesenkten Köpfen an ihm vorbei oder hatten vorsorglich unter den Markisen der Cafés und Dönerbuden Schutz gesucht, die sich hier fast nahtlos aneinanderreihten. Paul dagegen ängstigte das nahende Unwetter nicht, fast kam es ihm vor wie eine liebgewordene Erinnerung, während er auf das hellerleuchtete Schild am Ende der Straße zuschritt.
Die Kneipe, in die er nach kurzem Zögern eintrat, war um diese Zeit noch fast menschenleer. Der einzige Gast war ein bärtiger Typ, der über ein Glas Bier gebeugt Paul mit glasigem Blick musterte, als dieser sich an das andere Ende des Tresens setzte.
Es hatte sich nichts verändert. Die offenstehende Tür zum Keller, das verspiegelte Eckregal, der mit Aufklebern übersäte Kühlschrank, darauf eine Vase mit roten, schon leicht welken Rosen, alles war Paul noch vertraut. Als Alina mit einem Karton Weißweinflaschen die Kellertreppe hochkam, hätte er trotzdem ein Zögern, ein Staunen oder etwas ähnliches erwartet. Stattdessen nickte sie ihm nur wortlos zu und verstaute die Flaschen ohne Eile in dem Kühlschrank.
»Du warst lange nicht mehr hier«, sagte sie, als sie sich schließlich zu ihm umdrehte.
»Ein Jahr«, entgegnete Paul. Er fuhr sich mit einem unsicheren Lächeln durch die regennassen Haare.
»Ein Jahr?«, wiederholte Alina.
»Fast auf den Tag genau.«
Der Bärtige bestellte mit mürrischer Stimme ein weiteres Bier. Paul beobachtete im Eckspiegel, wie Alina ein Glas unter den Zapfhahn hielt und das Bier einlaufen ließ. Noch immer war dieses Linkische in Ihren Bewegungen, so als wollte sie damit klar stellen, dass dies hier nur einer dieser vorübergehenden Jobs war, bis sie etwas Besseres gefunden hätte. Auch sonst hatte sie sich kaum verändert. Die langen rotblonden Haare trug sie jetzt hochgesteckt, es stand ihr gut.
Ich mag es, wenn du mich so ansiehst.
»Und? Was möchtest du trinken?«, fragte sie ohne aufzublicken.
»Nichts«, sagte Paul.
»Okay.«
Schweigend schenkte sie weiter ein. Aus den Augenwinkeln sah Paul, wie der Bärtige kurz ihren Arm streichelte, als sie das Bierglas vor ihm auf den Tresen stellte. Ohne darauf zu reagieren, kehrte sie zu Paul zurück. An den Kühlschrank gelehnt, steckte sie sich eine Zigarette an.
»Ich habe gehört, du bist in eine andere Stadt gezogen.«
»Nach Zürich, ja«, sagte Paul.
»Oh, ins Ausland sogar.«
Ihre Blicke trafen sich. Paul wünschte sich, etwas in diesem Blick zu erkennen, Neugier vielleicht, die Frage, wie es ihm gehe oder was er wieder in dieser Stadt mache. Aber da war nur dieses unverbindliche Lächeln, das sogleich erstarb, als sie wieder an der Zigarette zog.
»Wie läuft es zwischen dir und Olaf?«, fragte Paul. »Seid ihr noch zusammen?«
»Wir haben uns getrennt. Ende letzten Sommers schon.«
Olaf und ich streiten uns nur noch. Es ist furchtbar ... Ja, vielleicht hat es auch mit dir zu tun.
»Und die Wohnung?«
»Ich habe sie behalten. Olafs Zimmer habe ich an eine Studentin vermietet. Wir kommen ganz gut klar.«
Ein Handy fiepte. Alina griff hinter sich, schaute auf das Display und verschwand im Durchgang zum Keller. Paul hörte ihre gedämpfte, von einem verschworenen, fast mädchenhaften Lachen unterbrochene Stimme. In dem Spiegel konnte Paul sehen, wie der Bärtige das fast noch volle Bierglas von sich schob und schwankend zum Ausgang ging.
Hier sind viele in mich verliebt, das ist einfach so.
Noch während die Tür zufiel, kehrte Alina wieder an den Tresen zurück. Wortlos kippte sie das stehengelassene Bier in den Ausguss. Erst jetzt fiel Paul auf, wie still es hier war. Früher war immer Musik gelaufen, die ersten Male war er sogar nur wegen der Musik gekommen.
»Möchtest du wirklich nichts trinken? Ich habe noch eine angebrochene Flasche von meinem Geburtstag.«
»Nein danke«, sagte Paul.
Alina öffnete den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Sekt ein.
Am liebsten wäre ich an meinem Geburtstag mit dir allein. Pass auf, ich werde mir was überlegen und dich dann anrufen, okay?«
»Hattest du damals eigentlich mein Geschenk bekommen?«, fragte Paul.
Alina hob fragend die Augenbrauen. »Dein Geschenk?«
»Eine CD. Ich hatte sie hier abends vorbeigebracht, nachdem wir an diesem Nachmittag telefoniert hatten.«
»Ach so, die CD. Ja, ich erinnere mich.« Alina nahm einen Schluck Sekt und deutete auf das Eckregal. »Die wird bestimmt dort irgendwo noch liegen. Der Geburtstag letztes Jahr war übrigens eine Katastrophe gewesen. Olaf war betrunken, und Cora hatte dauernd nach dir gefragt. Du kennst ja Cora.«
Natürlich habe ich Cora von uns erzählt. Ich kann so etwas nicht geheim halten. Olaf hat doch auch eine Geliebte. Jeder weiß das.
»Ich bin Olaf am Tag nach deinem Geburtstag hier begegnet«, sagte Paul. »Ich wollte dich sehen, aber du warst nicht da. Er hockte die ganze Zeit neben mir und hatte sich mit irgendeiner Frau über uns beide lustig gemacht.«
»Ich weiß, Olaf konnte echt fies sein.«
Durch die Fensterfront zuckte ein Blitz, unmittelbar gefolgt von einem lauten Donner. Alina trat hinter dem Tresen hervor und ging zur Tür.
»Das wird bestimmt ein ruhiger Abend. Wenn es gewittert, wird es meistens ein ruhiger Abend.«
Ich mache heute früher Schluss. Möchtest du, dass ich nachher noch mit zu dir komme?
Alina blickte eine Weile lang schweigend aus der geöffneten Tür. Durch das laute Prasseln des Regens zuckte ein weiterer Blitz. Sie ließ die Tür zufallen und kehrte zurück zum Kühlschrank. Erst jetzt nahm Paul ihr Parfüm wahr. Es war der gleiche, süßliche Duft, der ihn auch gestern auf dem Podium während dieser Konferenz gestreift hatte. Die Referentin war eine ältere, unattraktive Frau gewesen, aber nachts, in seinem Traum, war diese Frau plötzlich zu Alina geworden. Und als er aufwachte, war es ihm nicht mehr möglich gewesen, diesen Traum aus seinen Gedanken zu verdrängen.
Pauls Augen wanderten zu dem CD-Regal.
»Du sagtest, du hättest die CD hier, die ich dir geschenkt hatte. Ich würde sie gerne hören, wenn es geht.«
»Klar geht das.«
Ja, leg ruhig eine andere Musik auf. Wir sind ja unter uns.
Alina holte einen Schuhkarton vom Eckregal, in dem sich wahllos CDs stapelten. Paul erkannte das Cover sofort, ein monochromes Hellblau.
»Ich habe sie ehrlich gesagt noch nie gehört«, sagte Alina, während sie die Scheibe in den Spieler schob.
Einzelne, fast bruchstückhafte Klaviertöne. Dann das leise Singen einer Violine, als umarmte sie die spröden Töne des Flügels. Alina lehnte sich mit verschränkten Armen an den Kühlschrank und blickte stumm zu Boden.
Paul erinnerte sich an den Tag, als er nach dem Bewerbungsgespräch die CD zufällig in einem Züricher Plattenladen entdeckt hatte. Das Gespräch war gut gelaufen, sehr gut sogar. Er erinnerte sich, wie er sich während der langen Bahnfahrt beim Anhören der CD vorgestellt hatte, wie er Alina fragen würde, ob sie mit ihm nach Zürich ziehen würde. Sie wusste nichts von dem Bewerbungsgespräch, es sollte eine Überraschung sein. Und als er wieder zu Hause eintraf, war er sich sicher gewesen, dass sie Ja sagen würde.
Ich habe diesen Job und alles hier allmählich satt. Sag, hast du nicht eine Idee? Irgendeine andere Stadt vielleicht?
Paul griff nach dem Case. Arvo Pärt, las er. Alina.
Wie lange hatte er damals auf dieses Cover gestarrt, wieder und wieder. Es war nicht nur der Zufall der Namensgleichheit, nein, es schien ihm, als wäre die Musik nur für ihn und seine Liebe komponiert worden.
Spiegel im Spiegel, lautete der erste Titel.
»Warum hast du dich danach nicht wieder gemeldet«, fragte Paul. »Wenigstens ein Mal noch.«
»Warum ich mich nicht gemeldet habe? Wozu?«
»Ich hätte nur eine Erklärung gebraucht«, sagte Paul.
Alina lachte. »Eine Erklärung wofür?«
Ihr Intellektuellen seid schon komisch. irgendwie müsst ihr für alles eine Erklärung haben.
»Eine Erklärung für dein Verhalten, deine Gleichgültigkeit. Wir waren damals fast jede Nacht zusammen, wir hatten Pläne gemacht, hast du das alles vergessen? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie beschissen es mir gegangen ist, nachdem du an diesem Nachmittag einfach so aufgelegt hattest? Wie unglaublich beschissen?«
Die sich ständig wiederholenden Motive der beiden Instrumente hatten an Intensität zugenommen. Paul sah sich und Alina in diesem Spiegel, und er hatte plötzlich nur noch den Wunsch, sie in den Arm zu nehmen, sie zu fragen, ob er hier auf sie warten sollte, ob sie nachher mit zu ihm kommen wollte, in sein Hotelzimmer, in sein Bett. Wie damals, als er all diese vielen Stunden hier auf sie gewartet hatte, nur um einige wenige mit ihr zu teilen.
Die Musik brach ab. Alina legte die CD zurück in die Plastikhülle.
»Sorry, aber ich kann mit diesem Geklimper echt nichts anfangen. Wir beide sind einfach zu verschieden. Ich bin nicht wie du, warum kapierst du das nicht?«
Es ist aus, hörst du? Aus.
Paul fühlte, wie er wie damals vor einem Jahr von einer Welle aus Verletztheit und Wut überschwemmt wurde. Wie sich seine Hände um das Tresenholz klammerten in dem Bemühen, sich vor dem Abgrund zu schützen, einem Abgrund, der sich seit seinem gestrigen Traum wieder vor ihm aufgetan hatte.
Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, ging er zur Tür.
»Mach’s gut«, hörte er Alinas Stimme hinter sich rufen. »Und lass dich ruhig mal wieder blicken.«
Das Gewitter war weitergezogen, auch der Regen hatte aufgehört. Paul sog die Luft in die Lungen. Es war kühler geworden, viel kühler. Er würde noch etwas essen, ein Glas Wein trinken und morgen Mittag zurück nach Zürich fliegen. Und vielleicht würde er noch ein Geschenk für Judith einkaufen. Eine CD vielleicht, dachte er, während er die Straße überquerte.


Einstell-Datum: 2007-10-03

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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