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Literaturforum:
Wanderungen durch die Mark heute
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Autor
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Thema: Wanderungen durch die Mark heute
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ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 04.09.2021 um 18:22 Uhr |
Das ländliche Brandenburg schwelgt in Fontane-Seligkeit. Er ist der Hauptwerbeträger für Gastronomie und Hotellerie dort, das Banner, unter dem das Geschäft sich günstig entwickeln soll. Zwar gibt es meines Wissens noch keine Fontane-Socken – dem Luther-Gedächtnis ist das schon widerfahren -, doch neben Schulen und Apotheken ist alles Mögliche nach ihm benannt. So finden wir neben der Rose „Fontane“ den, horribile dictu, Fontane-Wandermarathon, und womöglich ist sogar die Kartoffelsorte „Fontane“ seiner Erinnerung gewidmet: speziell für Pommes frites geeignet. Im Handel ist ja auch die Saatkartoffel „Napoleon“.
Man kann sich der Sache, nämlich der Gegend, auch anders nähern. Brandenburg hat heute viel mehr Ruinen als zu Fontanes Zeit und sie erzählen viel Seltsameres und oft Schrecklicheres, als der Schriftsteller sich je hätte vorstellen können. Da ist jede Menge Stoff für literarische Aufarbeitung. Manches davon möchte freilich lieber im Dunkeln bleiben. So kam ich diesen Sommer zweimal durch ***, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Es ist keine Stadt, kein Dorf, eher ein Unort, eine weiträumige Mixtur von Gebäuden und Restnatur, durcheinandergewürfelt per Zufall oder aus Willkür. Ich vermisste sogleich eine sichtbare organische Geschichte oder eine erkennbare Konzeption für die Zukunft. Es wohnen da nur wenige Menschen. Was noch in Schuss und nicht ruinös ist, sind zumeist Gewerbebetriebe; zwischen ihnen immer wieder abgeräumte Flächen und Waldstücke und viel Brachliegendes.
Die Wegweisung war unzureichend, ich verlief mich beim ersten Mal, erreichte mein Ziel nicht und versuchte es Wochen später erneut. Ich hielt mich nun an meine Karte, sie wies, abzweigend von der Hauptstraße, einen Wanderweg quer durch ein Waldgebiet aus. Wo er beginnen sollte, war der Eingang durch ein Gatter versperrt. Ich wich auf einen in dieselbe Richtung führenden Feldweg aus und geriet auf zuwachsende Wiesen hinter dem Wald. Der Weg verzweigte sich dreifach. Ich ging alles ab und geriet jeweils in eine Sackgasse. Am Schluss stolperte ich pfadlos zwischen Bäumen und durchs Unterholz immer weiter … und erreichte wieder den eingangs versperrten Waldweg. Er schien kaum mehr begangen oder befahren, ein entwurzelter Baumriese lag offenbar schon Monate quer über ihm. Das Gatter am Wegende konnte ich umgehen und las nun auch „Betreten verboten“, betreffend die Richtung, aus der ich kam. Von da an ging es bis zum Ende gut voran.
Dieser Ort ließ mich nicht los. Recherchieren im Netz war mühsam und lange unergiebig. Über *** gibt es keinen Wikipedia-Artikel, dafür einen über das Nachbardorf, hier fand sich ein kleiner Hinweis. Ich folgte dem Faden und bekam die Geschichte des Unortes im Wesentlichen heraus. Er ist nicht sehr alt, als Vorwerk erst im 19. Jahrhundert gegründet. Lange war es eine Schäferei. Kurz vor dem 2. Weltkrieg kam ein neuer Eigentümer, ein hoher Beamter aus Berlin, Nationalsozialist und Antisemit und in Hitlers Bewegung von Anfang an stark engagiert. Quellen zeichnen eine düstere Vita, ein ungünstiges Charakterbild – ich kann das nicht im Detail überprüfen. Tatsache bleibt, dass der Mann in jenen Jahren in Berührung kam mit Widerstandskreisen, hohen Offizieren, adligen Grundbesitzern. Er stellte ihnen Geheimmaterial zur Verfügung, auch über Massenmorde, und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944. Sein Verhalten an diesem Tag soll zögerlich gewesen sein, es hat ihn nicht vor Prozess und Hinrichtung bewahrt. Der schäumende Hitler verfügte, dass der Abtrünnige vor seinem eigenen den Tod dreier anderer in Plötzensee mit ansehen musste.
Das Vorwerk wurde vom Staat eingezogen. Nach dem Krieg etablierte sich dort ein volkseigener Betrieb und produzierte in vielen Ställen eines der Grundnahrungsmittel – nach der Wende: geschlossen. Wie alle anderen Nachkommen der hingerichteten Verschwörer erhielt auch in diesem Fall die Familie das Grundeigentum zurück und bewirtschaftet es bis heute. Verpachtung dürfte die Hauptrolle spielen. Es wurde auch wieder eine Schäferei begründet. Doch Herden sah ich jetzt keine mehr.
All das taugt wenig, um den Fremdenverkehr anzukurbeln. Es ist nur Teil der wahren, katastrophalen Geschichte eines Landstrichs im 20. Jahrhundert. So gesehen erweist sich die Konjunktur für Fontanesche Anekdoten und Histörchen als Sehnsucht nach der vermeintlichen Idylle vor 1914. Als wäre alles Spätere nur ein böser Traum und nicht im Ablauf der Geschichte, Generation für Generation, selbst schon begründet.
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