Aufgewachsen bin ich in einem Land ohne Nietzsche: Er stand nirgendwo in den Bibliotheken, nicht in den Buchläden und wahrscheinlich auch nicht in den meisten heimischen Bücherregalen, selbstverständlich gab es auch keine Straßen, die nach ihm benannt waren, man sprach nicht über ihn. An dieser Verdammung Nietzsches hatte auch der über lange Zeit stalinistische Philosoph Georg Lukacs durch seine Auslassungen in den 1930er Jahren Anteil: Für Lukacs war Nietzsche schlicht ein Wegbereiter des Faschismus, der vieles vorgeformt habe, was die Nazis dann als fertig vorgefunden nur noch benutzen mussten. Erst 1985 konnte mit “Ecce Homo” das einzige Nietzsche-Werk in einer bibliophilen Sonderausgabe – sprich: in sehr kleiner Auflage – in der DDR erscheinen; es kann nicht wirklich als zählend geltend gemacht werden. Ich selbst habe als Teenager in den 1990ern zuerst nach dem Anti-Christen gegriffen – was liegt dem pubertierenden Sohn eines Diakons näher als gerade dieses befreiende Werk, welches das angeblich Heiligste sprengt? Nietzsches scharfer, feuriger Stil hat mich schnell begeistert: Ein sprachlicher Ritt auf der Rasierklinge, immer nah am Wahnsinn. Viel größeres als durch Nietzsche ist in der deutschen Sprache nicht hervorgebracht worden. Sein Werk ist eine leuchtende Gletscherkrone über einem riesigen Haufen Geröll.
So gewaltig seine Ideen und seine Sprache auch waren, Nietzsches Leben taugt nicht zum Vorbild: Wer wollte es freiwillig führen, wer es so beenden? Leben und Werk werden auch hier einander bedingt haben ...
Was nun wäre, wenn Nietzsche heute leben würde? Das Christentum ist größtenteils besiegt, daran müsste er sich nicht mehr abarbeiten, blieben noch der (politische) Islam, der Konsumismus, die Zerstörung unserer Umwelt – und freilich die von links und rechts betriebene Identitätspolitik. Der Freigeist Nietzsche wäre heute gewiss ein von der feigen Mehrheit geächteter Mensch, als Professor hätte man ihn längst aus der Universität gemobbt, seine Vorlesungen sabotiert und niedergebrüllt; er selbst wäre sehr wahrscheinlich ein erklärter Feind der nun auch in Deutschland um sich greifenden Woke-Kultur – und seine Bücher vermutlich trotzdem Bestseller.
Vielleicht kann Nietzsche uns heute wieder helfen, wenn es darum geht, Argumente gegen die Gleichmacherei, die beispielsweise in Form von Quotenpolitik erscheint, zu finden. Es ist eine Gleichmacherei, die Gerechtigkeit vor allem darin erblickt, auf den verschiedensten Gebieten symmetrische Quantitätsverhältnisse von angeborenen Qualitäten wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Sexualität herzustellen und die mittels sprachlicher Gräueltaten auch in unsere Kommunikation hineinregiert, wenn sie beispielsweise durch Gendern Sexus-Symmetrie regelwidrig herzustellen sucht, obwohl das Genus oft unabhängig vom Sexus ein durch ehrwürdige Tradition geadeltes Eigenleben führt, die sich nicht schadfrei beseitigen lässt. Und falls Nietzsches Argumente uns nicht helfen sollten, so kann er uns zumindest ein tröstender Freund, ein geistig Verbündeter sein, wenn wir uns in einer Welt, die uns zunehmend zu Heimatlosen macht, verloren fühlen.
Ja, diese elende Gleichmacherei, welche die herausragenden aber störenden Einzelnen opfert, damit alles – schön gleich ist. Wie ein irre gewordener Mähroboter, der das Gras fortwährend auf Einheitslänge hält, damit auch nicht die kleinste Blume wächst, an der sich irgendwann eine Hummel oder Biene erfreuen könnte … Hummeln und Bienen dürfen gern sterben, sieht nur der Rasen akkurat aus!
Zitat:
Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist…
Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist…
Wie wahr ist das gesprochen! Mit den heute üblichen Übertreibungen, die sich mit grotesken Argumenten der Falsifizierbarkeit entziehen wollen, wird Gerechtigkeit zu Ungerechtigkeit, Anti-Rassismus zu Rassismus, Befreiung zu Unterdrückung, Fortschritt zu armseliger Einfältigkeit – alles gestützt von irgendwelchen Förderprogrammen und alimentierten Sonderbeauftragten. It´s a business, (wo)mXn.
Zitat:
Überall, wo die Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte »gut« und »dumm« einander anzunähern."
Überall, wo die Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte »gut« und »dumm« einander anzunähern."
Wer hat noch nicht erlebt, dass das Gut-Gemeinte in Dummheiten umgeschlagen ist?! Man sieht es ja täglich. Und oft werden die, denen man vermeintlich Gutes tun will, noch nicht einmal gefragt, ob sie es erleiden wollen ...
“Die Wüste wächst”, schrieb Nietzsche einst. Sie zu bergen, ist das eine, aber:
Weh dem, der Wüsten wachsen lässt.
Ich danke dem Osteuropa-Analysten Vladislav Davidzon, der mich zu den obenstehenden Betrachtungen durch die Frage “Wenn Nietzsche heute leben würde: Wäre er gegen die Woken?” angeregt hat. Ansonsten haben sie freilich überhaupt nichts mit ihm zu tun.