ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 11.01.2021 um 11:03 Uhr |
Robert Walser war nach eigenem Verständnis wie dem eines Großteils seiner Mitwelt in Berlin gescheitert. Dass es sich als produktives Scheitern erweisen sollte und die dort kurz hintereinander veröffentlichten drei Romane ihm dauernden Nachruhm sichern würden, hätte damals kaum einer prophezeien wollen. Walser kehrte 1913 nach einem knappen Jahrzehnt in Deutschland in die Schweiz zurück und richtete sich dort auf Dauer ein. Es war der bislang tiefste Einschnitt in seinem Leben. Nach einer ersten Phase, in der er sich langsam vom Berliner Desaster erholte, schrieb und veröffentlichte er wieder Kurzprosatexte in Zeitungen und Zeitschriften und lebte kärglich davon. Eine Reihe seiner besten neueren Texte gab er in vier Sammelbänden heraus: „Prosastücke“, „Kleine Prosa“, „Poetenleben“ (alle 1917) und „Seeland“ (1920). (Das Buch „Kleine Dichtungen“ von 1915 enthielt überwiegend noch in Deutschland entstandene Texte.)
Walser knüpft nun thematisch an seine frühere Prosa an und entwickelt seinen Stil auf entschiedene Weise weiter. Neben gelegentlichen Rückblicken auf die Berliner Zeit stilisiert er sich vor allem als schreibenden Spaziergänger. Die Natur, das Dorf, die Kleinstadt sind die Kulissen für Idyllen, die er abwechselnd feiert oder ironisiert. Häufig tritt er selbst in den Vordergrund und untersucht und kritisiert seine Rolle als Autor. Es fehlt nicht an moralisch-ethischen Betrachtungen oder sonstigen Abschweifungen, an bewusstem Banalisieren, an scheinbar klammheimlicher Freude über Abgleiten in einen niederen Stil. Der Satzbau ist oft kompliziert, Adjektive werden verschwenderisch eingestreut, Füllwörter ebenso. Dialoge mit weitschweifiger Rede erweisen sich, indem alle Sprecher gleich klingen, als Monologe des Erzählers. Die Details aus der Außenwelt sind vor allem eins: Spielmaterial, mit dem einer seine Innenwelt gestaltet, seine persönliche Problematik ausdrückt. In „Hans“, der stark stilisierten autobiographischen Skizze, mit der „Seeland“ schließt, findet sich dafür ein so charakteristisches wie extremes Beispiel:
„An das heitere Rebengelände am See mit seinen behaglichen Rebdörfern, den mächtigen Felsblöcken, zierlicher, schlanker Kirche, anmutigen Stützmäuerchen in den Reben, den schroffen, stotzigen, engen Gassen, die durch eben dieselben führten, an die braven Männer und Frauen, die er fleißig und unverdrossen schaffen, schanzen, arbeiten sah, wobei er sich über den eigenen Müßiggang doch etwa hoffentlich nicht nur wunderte, sondern gehörig schämte, was ihn Gott sei Dank mit etwelcher ernster Besorgnis wird haben erfüllen müssen, an das nachherige, allfällige drinnen im Gasthaus beim leise schäumenden, perlenden Weißwein Sitzen, der seiner maßgeblichen oder belanglosen Meinung nach vorzüglich mundete, an die ehrwürdige, alte Dame am Gaststubenfenster, an die dunkelgetäfelte, freundliche Stube selber mit mehreren Darstellungen aus der in einer reizenden Novelle von Puschkin erwähnten weltbekannten Geschichte vom verlorenen Sohn, nebst andern anziehenden Abbildungen an den Wänden: hieran wie an die Laube oder Terrasse an der Seeseite, wo es sich abends prächtig saß, dachte er (man weiß ja wer) ebensogerne wie an verschiedene sonstige, heitere, angenehme Dinge.“
All das Herbeizitieren und Beschwören von so viel Erfreulichem bietet keine Gewähr für eine dauernde, ruhige Ordnung des eigenen Innern. Tief melancholisch endet nach ähnlichem Bemühen „Der Spaziergang“, längster Text aus jener Periode, eher eine Erzählung als Kurzprosa (auch in „Seeland“). Der Protagonist hat in freier Natur Blumen gepflückt, dann regnet es und:
„Alte, längst vergangene Verfehlungen fielen mir ein, Treubruch, Trotz, Falschheit, Hinterlist, Haß und vielerlei unschöne, heftige Auftritte, wilde Wünsche, ungezügelte Leidenschaft. Deutlich stieg mir auf, wie ich manchen Leuten weh getan und Unrecht zugefügt hatte. Im ringsum flüsternden feinen Geräusche steigerte sich meine Nachdenklichkeit bis zur Trauer.“ Er erinnert sich an eine verpasste Gelegenheit, eine Bindung einzugehen, und fragt sich: „Habe ich Blumen gepflückt, um sie auf mein Unglück zu legen?“ Der Strauß fällt ihm aus der Hand, er geht nach Hause – „denn es war schon spät und alles war dunkel.“
Dieses Elend aus dem Leben eines Jugendstil-Taugenichts steht vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Schlachten des Ersten Weltkriegs mit Millionen Toten. Zwar blieb die Schweiz eine kleine Insel des Friedens, doch alle Nachbarländer waren Frontstaaten. Walser musste selbst wiederholt als Grenzschützer Militärdienst leisten. Gewiss hat auch er den Verlauf des Krieges verfolgt, der so erstaunlich wenig Spuren in seinem Werk hinterlassen hat. „Hans“ endet damit, dass der Protagonist sich bei Kriegsausbruch bei den Behörden meldet, um an der Grenze Dienst zu tun. („Der Gehülfe“ hatte noch eine Arreststrafe wegen versäumter Militärübung absitzen müssen.) Das klingt nun ein wenig wie Kriegsbegeisterung anno 1914 und fügt sich ein in eine entstehende literarische Traditionslinie: Der Held, sich selbst problematisch geworden, findet seine Erlösung an der Front. Hesse folgt später mit „Demian“ diesem Muster und Thomas Mann in „Der Zauberberg“ am Ende auch. Aber Walser, der isolierteste Individualist? Vielleicht war es nur Ausdruck einer Stimmung sowie Konzession an das allgemeine patriotische Gefühl.
Walsers tiefere Einstellung zeigt sich darin, wie der laufende Krieg in „Der Spaziergang“ behandelt wird. In der Mitte der Abhandlung parallelisiert er ironisch das Militärische mit dem Schreiben: „Darf ich gestehen, ich sei in letzter Zeit zur Überzeugung gekommen, daß Kriegskunst ebenso schwierig und geduldheischend sein mag wie Dichtkunst, und umgekehrt?“ Er bezieht sich ausdrücklich auf den gegenwärtigen Krieg und die Meldungen aus ihm: „Derlei liest ein fleißiger Mensch gegenwärtig nämlich in Tageblättern täglich.“ Einige Seiten vor dem Ende beschreibt unser Spaziergänger unter vielen anderen Erscheinungen „Jungens mit hölzernen Waffen bewaffnet, die den europäischen Krieg nachahmen, indem sie sämtliche Kriegsfurien entfesseln …“. Noch aussagekräftiger ist ein Abschnitt zwischen diesen beiden Stellen. Walsers Alter Ego muss jetzt mit anderen an einem Bahnübergang warten, bis ein Zug durchgefahren ist. Er sieht: „Der vorbeisausende Eisenbahnzug war voll Militär. Alle aus den Fenstern schauenden, liebem, teurem Vaterlande Dienste erweisenden Soldaten einerseits und das unnütze Zivilpublikum andererseits grüßten einander gegenseitig fröhlich und pathetisch, eine Bewegung, die rundherum liebliche Stimmung verbreitete.“ Mehr an fein-ironischer Distanzierung von Begeisterung als an diesen drei Stellen ist kaum vorstellbar. Eines der diskreten Mittel ist die scheinbar kunstlose Doppelung von „mit Waffen … bewaffnet“ und „in Tageblättern täglich“. Damit drückt der Stilist Walser sein „Papperlapp“ aus.
Robert Walser befand sich in jenen Kriegsjahren auf dem Gipfel seiner Kurzprosakunst. Die folgende Berner Zeit war, obwohl immer noch sehr produktiv, bereits überschattet von Gemütsverdüsterung und den Einflüssen früher Symptome psychischer Störung. Jetzt in Biel schreibt er mit „Der Spaziergang“ einen seiner besten Texte überhaupt. Und in ihm ragt noch einmal hervor das Essen mit Frau Aebi. Drei herrliche, humoristische Seiten lang nötigt seine Gastgeberin den Spaziergänger, obwohl er längst gesättigt ist, zu immer weiterem Zulangen. Man kann darin, wenn man will, ein frühes Beispiel der Darstellung von „Feeding“ in der Literatur sehen. Auf jeden Fall spiegeln sich in dem Über-/Unterordnungsverhältnis, den scheinbaren Drohungen mit körperlichem Zwang und dem Hinweis auf den unvermeidlichen physischen Untergang bereits die bei Walser gelegentlich durchscheinenden masochistischen Züge. In der Berner Zeit sollten sie dann häufiger literarisch produktiv werden, nur weniger kunstvoll. Doch bedenklich war auch das schon: Die Bevölkerung der kriegführenden Mittelmächte leidet unter Hungerkrisen und ein Schweizer Autor verfasst eine Übersättigungsphantasie.
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