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Literaturforum: Über Robert Walser, Jakob von Gunten


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 Thema: Über Robert Walser, Jakob von Gunten
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 19.09.2020 um 11:56 Uhr

Robert Walser (1878 – 1956) schrieb insgesamt sieben Romane. Die Manuskripte von drei von ihnen vernichtete er selbst, ein weiteres Werk wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod aus dem Nachlass veröffentlicht („Der Räuber“). Es bleiben drei kurze oder allenfalls mittellange abgeschlossene Romane, deren Niederschrift und Veröffentlichung in seine Berliner Zeit (1905 – 1913) fielen. Nach „Geschwister Tanner“ (1907) und „Der Gehülfe“ (1908) ist „Jakob von Gunten“ (1909) der Endpunkt der Reihe. Aus einer fünfunddreißig Jahre währenden Zeit des Publizierens resultieren somit drei Romane, die relativ früh in nur drei aufeinanderfolgenden Jahren herauskamen. Sie erscheinen so bereits als etwas in Leben und Werk Herausgehobenes und Zusammenhängendes.

Walser kam 1905 nach Berlin und trat in eine Dienerschule ein. Noch im selben Jahr arbeitete er einige Monate als Kammerdiener auf einem oberschlesischen Schloss. Bald darauf ließ er sich ständig in Berlin nieder. Er wohnte zeitweise bei seinem ein Jahr älteren Bruder Karl, der als Maler, Bühnenbildner und Illustrator zunehmend Erfolg hatte. Karl Walser vermittelte seinem Bruder Kontakte zu Künstlern und Verlegern. Robert Walser konnte kurze feuilletonistische Texte in Zeitungen und Zeitschriften unterbringen. In den Romanen „Geschwister Tanner“ und „Der Gehülfe“ verarbeitete er autobiographisches Material aus der Schweiz auf eigenwillige, im Ganzen noch realistische Weise. Damit erreichte er keine hohen Auflagen, machte sich jedoch bei Kennern einen Namen. Der dritte Roman „Jakob von Gunten“ machte es diesen schwerer. Er war angesiedelt in einem seltsamen Institut Benjamenta, für das jene Dienerschule das Modell war, und unterschied sich in Aufbau und Stil stark von den vorangegangenen Werken, war formal freier, inhaltlich phantastischer und tiefgründiger.

Unter vielen Aspekten erscheint „Jakob von Gunten“ doppel- oder mehrdeutig. Die Erzählung ist als Tagebuch konzipiert, enthält jedoch keinerlei Zeitangaben zur jeweiligen Niederschrift. Ihr Verfasser notiert vielmehr in loser Folge und lange ohne deutlich erkennbare Ordnung Ereignisse, Beobachtungen, Gedanken, Tag- und Nachtträume. Ernst und Ironie gehen leicht ineinander über, können oft miteinander verwechselt werden. Mit Vorliebe werden uns Pseudoidyllen vor Augen geführt, die wir beinahe für echte halten könnten – oder sind sie es sogar? Gefühlsambivalenzen werden ausführlich dargelegt. So sind Struktur und Gehalt insgesamt schwer analysierbar. Der Text schwankt stilistisch zwischen gehobener Literatursprache und Alltagsjargon. Bei eingestreuten Plattitüden kann sich der naive Leser fragen: Absicht oder vorübergehende Ermattung des Autors? Wenn die Figuren reden, tun sie es meist im gleichen verspielt-langatmigen Suada-Stil, theatralisch monologisierend. Die eigentliche Erzählung nimmt nur allmählich Fahrt auf und rundet sich noch zu einem Plot: Weggang aller übrigen Schüler, Tod der verehrten Lehrerin, von Guntens Aufbruch mit Benjamenta, dem Schulleiter, in ein neues gemeinsames Leben, in ein großes Ungefähr, das Wüste genannt wird.

Das so schwierige wie reizvolle Werk hat viel Sekundärliteratur entstehen lassen. Sie hat mit unterschiedlichen Ansätzen zu verschiedenartigen Interpretationen geführt, die sich zum Teil widersprechen. Versuchen wir es noch einmal, bleiben wir so nah wie möglich am Text, konzentrieren wir uns auf seine Schwerpunkte, behalten wir die Gestalten im Auge, fragen wir uns, wie von Guntens Verhältnis zu ihnen jeweils beschaffen ist. Und: Gibt es für sie Vorläufer in den zwei vorangegangenen Romanen, erkennen wir eine Entwicklung? Entsprechen Personen im Leben des Autors ihnen, wie war Walsers Verhältnis zu ihnen beschaffen?

Unterwerfung ist ein großes Thema. Von Gunten wird schon bei der Aufnahme ins Institut brutal behandelt, gedemütigt, nimmt es hin, verarbeitet es. Anlässe für Unterwerfungsgesten bieten sich ihm wiederholt während seines Aufenthaltes. Er vollzieht sie halb schmerzlich, halb lustvoll. Es erinnert an Sadomasochismus, wenn er notiert:

„Was nicht sein darf, was in mich hinab muß, ist mir lieb. Es wird dadurch peinlicher, aber zugleich wertvoller, dieses Unterdrückte. Ja ja, ich gestehe, ich bin gern unterdrückt … Ich muß demnach unbedingt annehmen und es als feste Überzeugung aufbewahren, daß Vorschriften das Dasein versilbern, vielleicht sogar vergolden, mit einem Wort reizvoll machen … Nicht weinen dürfen zum Beispiel, nun, das vergrößert das Weinen. Liebe entbehren, ja, das heißt lieben. Wenn ich nicht lieben soll, liebe ich zehnfach. Alles Verbotene lebt auf hundertfache Art und Weise, also lebt nur lebendiger, was tot sein sollte … Wie entzückend, wie entzückend sind verbotene Früchte.“

Schöne verbotene Früchte wachsen auf dem Feld von Erotik und Sexualität, gerade weil sie nie geerntet, nur imaginiert werden können. So gerät von Gunten die Lehrerin am Institut, Fräulein Benjamenta, Schwester des Betreibers, zum traditionellen Klischee einer tief verehrten Madonnenfigur. Mehrere andere Stellen bezeugen, wie von Gunten durch Kameraden angezogen wird. Über den noch kindlichen Heinrich: „Man ist diesem jungen Menschen gegenüber unwillkürlich zärtlich gesinnt, ohne dabei etwas zu denken.“ Oder über den mädchenhaft wirkenden Schacht: „… dann versinkt er plötzlich in schmachtende Melancholie, die ihm unglaublich gut zu Gesicht und Körperhaltung steht … Wir, ich und er, liegen oft zusammen in meiner Schlafkammer, auf dem Bett, in den Kleidern, ohne die Schuhe auszuziehen, und rauchen Zigaretten … Einmal wagte ich, seine Hand leise zu mir zu nehmen, doch er entzog sie mir wieder und sagte: ‚Was machst du für Dummheiten?’“ Von Gunten fragt sich: „Ist das Bruderliebe? Ja, kann sein.“ Der Mitschüler Schilinski „ … hat ein sehr hübsches Gesicht und Lockenhaar …“ Und bei Hans, der auch „nicht unhübsch“ ist, stellt der Tagebuchschreiber fest: „ … ich muß bald lachen über mich selber: ich finde an allem und in allem irgend etwas Geringfügig-Hübsches.“ Es geht hier nicht um die Kategorien Hetero-, Bi- und Homosexualität, dafür ist alles viel zu ätherisch. Und wenn doch einmal um Letztere, ist die Abwehr sehr entschieden, wie Tremala erfahren muss: „Er stellte sich leise hinter mich und griff mir mit der abscheulichen Hand (Hände, die das tun, sind roh und abscheulich) nach dem intimen Glied, in der Absicht, mir eine widerliche, an den Kitzel eines Tieres grenzende Wohltat zu erweisen. Ich drehe mich jäh um und schlage den Verruchten zu Boden.“ Später konstatiert er einmal allgemein: „Mir zum Beispiel ist eigentlich die Freundlichkeit der Behandlung unsympathisch.“ Erträglich scheint sie dagegen, wenn ihn so Behandelnde es nur auf sein Geld abgesehen haben, wie in der köstlich zu lesenden Episode mit einer Prostituierten: „Und da tat ich ihr das, was man an solchen Orten guten Tag sagen nennt …“

Vertrackter ist die Beziehung zum Schulleiter, vielleicht aufgrund innerer Verwandtschaft? Benjamenta spricht aus, was von Gunten zuvor schon ähnlich für sich notiert hat: „Du glaubst ja gar nicht, welch eine Seligkeit, welch eine Größe im Sehnen, also Warten, liegt.“ Allerdings neigt Benjamenta auch zu gewalttätigen Übergriffen, er will ihn einmal sogar erwürgen. Von Gunten stellt früh fest: „Seltsam, wieviel Lust es mir bereitet, Gewaltausübende zu Zornesausbrüchen zu reizen. Sehne ich mich eigentlich danach, von diesem Herrn Benjamenta gezüchtigt zu werden? Leben in mir frivole Instinkte? Alles, alles, selbst das Niederträchtigste und Unwürdigste, ist möglich.“ Wie auch immer, diesen Benjamenta hat „eine seltsame, eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe“ für ihn erfasst. Ihr Erotisches wird auch von beiden begriffen. Benjamenta: „… ich muß mich halten, daß ich dich nicht küsse, du prachtvoller Bursche.“ Darauf sein Schüler: „Mich küssen? Sind Sie verrückt geworden, Herr Vorsteher? Ich will nicht hoffen.“ Die Szene wird abrupt durch die Nachricht von einem eben eingetretenen Unglücksfall beendet und der folgende Absatz beginnt so: „Am Boden lag das entseelte Fräulein.“ Dieser verdächtigen Kongruenz entspricht dann der Ablauf des letzten Traumes von Guntens: „Ein wunderbar schönes Mädchen lag auf der Matte … Das Mädchen war schwellend und glänzend nackt.“ Ihre Erscheinung wird alsbald von der des Vorstehers verdrängt und von Gunten entschließt sich im Traum, Benjamentas Angebot anzunehmen. Er wird nach dem Erwachen mit ihm zusammen ins Fremde aufbrechen.

Auf dem Feld der sozialen Beziehungen entspricht den verbotenen erotischen Früchten der Begriff der Kleinheit. Er ist schlechthin zentral für den gesamten Text und Walser führt ihn gleich zu Beginn ein: „… wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.“ Oder bald darauf, nun beinahe heiter: „Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“ Zu diesem Komplex finden sich sehr zahlreiche Stellen im Werk, auch sie wurden oft analysiert und nicht immer auf gleiche Weise interpretiert. Die Crux ist wieder einmal, wie so oft bei Walser, die Ambivalenz der Tendenz. Die Darstellung von Erziehung und erreichbaren Lebenszielen in der Gesellschaft durch Jakob von Gunten ist zunächst gesellschaftskritisch und schlägt dann um in eine positive persönliche Utopie, gibt aber dennoch die ironische Haltung nicht ganz auf. Weiteres Beispiel: „Man gibt uns deutlich zu verstehen, daß allein schon der Zwang und die Entbehrungen bilden, und daß in einer ganz einfachen, gleichsam dummen Übung mehr Segen und mehr wahrhaftige Kenntnisse enthalten sind, als im Erlernen von vielerlei Begriffen und Bedeutungen.“ Das klingt recht neutral im Vergleich zur Ironie, mit der ein Satz aus dem Lehrbuch später ausgewalzt wird: „Das gute Betragen ist ein blühender Garten … brauchen wir Zöglinge des Instituts Benjamenta noch sonstige Gärten, als die, die wir uns selbst schaffen? … Das ist der friedliche Bescheidenheitsquell, der in unserem Garten auf und nieder plätschert …“ Dagegen dann wieder recht ernsthaft: „Man lernt hier im Institut Benjamenta Verluste empfinden und ertragen, und das ist meiner Meinung nach ein Können, eine Übung, ohne die der Mensch, mag er noch so bedeutend sein, stets ein großes Kind, eine Art weinerlicher Schreihals bleiben wird.“

Der Kontrast von Ironie und Ernst erscheint schärfer als in den zwei Vorgängerromanen. Die Zuspitzung wird auch deutlich, betrachtet man die Hauptgestalten und ihre Entsprechungen in den früheren Werken. Fräulein Benjamenta trägt den Vornamen von Walsers Schwester: Lisa. Nach dem Bild der Schwester ist in „Geschwister Tanner“ die Figur Hedwig gestaltet, auch eine Lehrerin. Sie stirbt im Unterschied zu Lisa nicht real, nur in einem Traum Simon Tanners. Als Verbindungsglied in der Reihe verehrungswürdiger Frauen kann Frau Tobler in „Der Gehülfe“ angesehen werden. Ihr Unglück ist die Ehe mit einem bankrottierenden Erfinder. Dieser wiederum nimmt die Rolle ein, die im dritten Roman Herr Benjamenta ausfüllt, doch Tobler bestimmt nicht Martis Zukunft, wie es Benjamenta bei von Gunten tut. Noch weniger Einfluss als Tobler, obwohl ebenfalls Autoritätsperson, übt Simons Bruder Klaus im Erstling aus. Für den Musterzögling Kraus einen Vorläufer zu finden, fällt schwer, es sei denn, man sieht in ihm eine positive Widerspiegelung des alkoholkranken Angestellten Wirsich in „Der Gehülfe“. Kraus funktioniert so tadellos, wie Wirsich vollkommen versagt hat.

Von Gunten hat einen Bruder, der auch in Berlin lebt und arbeitet, wie bei den Walser-Brüdern. Für Johann von Gunten findet sich eine Vorgängerfigur nur in „Geschwister Tanner“, der Bruder Kaspar. Im Verhältnis von Simon zu Kaspar ist die sich real zwischen den Walser-Brüdern über viele Jahre allmählich entwickelnde Entfremdung zwar schon angelegt, doch noch wenig ausgeprägt. Jakob und Johann von Gunten trennen schon Welten, obwohl Jakob ihn noch immer mit Sympathie betrachtet und nur diskret ironisiert. Johann ist arrivierter Künstler wie Karl Walser und Jakob fühlt sich als Fremdkörper in dessen sozialer Umgebung. Johann teilt Jakobs Kritik an der Berliner Hautevolee bis zu einem gewissen Grad, aber er passt sich des persönlichen Erfolgs wegen an. Es mag sein, dass Robert Walsers Motivation für diesen dritten Roman wesentlich davon bestimmt war, sich von jener gesellschaftlich dominierenden Schicht, in der sein Bruder nun zu Hause war, abzugrenzen, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Dies ist ihm gelungen, er wurde ein Einsiedlerliterat und erst posthum in seiner großen Bedeutung wirklich anerkannt. Bei den Werken seines Bruders nimmt man heute dagegen viel Talent und wenig Originalität wahr. Sie berühren uns kaum noch.

Beim Blick auf Karl Walser wird deutlich, worin die Bedeutung Berlins und jener Berliner Jahre für Robert Walser bestanden haben mag: Berlin war Katalysator für schon in der Schweiz in ihm Angelegtes. Hier hat es sich verschärft, zugespitzt, fand zu der den Schriftsteller dann lebenslang ausfüllenden Art und Weise eigener Artikulation und Produktion. Schließen wir die Betrachtung mit Jakobs Worten über jene Welt, die nicht seine war:

„Eigentlich gleichen sich die Leute, die sich bemühen, Erfolg in der Welt zu haben, furchtbar. Es haben alle dieselben Gesichter … Alle sind einander ähnlich in einer gewissen, rasch dahinsausenden Liebenswürdigkeit, und ich glaube, das ist das Bangen, das diese Leute empfinden. Sie behandeln Menschen und Gegenstände rasch herunter, nur damit sie gleich wieder das Neue, das ebenfalls Aufmerksamkeit zu erfordern scheint, erledigen können. Sie verachten niemanden, diese guten Leute, und doch, vielleicht verachten sie alles, aber das dürfen sie nicht zeigen … Und dann, glaube ich, fühlen diese Menschen, da sie doch einmal Gesellschafts- und durchaus keine Naturmenschen mehr sind, stets den Nachfolger hinter sich …“ Es geht so ähnlich noch eine Weile weiter und endet so: „Ein paar Menschen vollkommen kennen zu lernen, dazu bedürfte es eines Menschenlebens. Das sind nun wieder Benjamentasche Grundsätze, und wie unähnlich sind Benjamentas dem, was Welt bedeutet. Ich will schlafen gehen.“ Robert Walser kehrte vier Jahre nach Erscheinen des Romans desillusioniert nach Biel zurück.

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