ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 16.11.2016 um 18:23 Uhr |
Auch das ist eine Geschichte von begrabnem Leben, doch anders als in Thomas Wolfes geräuschvollem Familienroman „Schau heimwärts, Engel“ ein stilles Drama, dafür zeitlich und örtlich uns viel näher. Helmer (Jeroen Willems) ist Mitte fünfzig, ledig und wirtschaftet allein auf einem kleinen Hof nahe an Hollands Südgrenze. Bei ihm lebt sein alter Vater (Henri Garcin), den er versorgen muss. Helmer war nicht als Hoferbe vorgesehen, nach dem frühen Tod des Bruders ist er eingesprungen. Hat er sich, sein autonomes Leben geopfert? Die Handlung setzt damit ein, dass er den altersschwachen Mann im Haus umquartiert – der Vater wird zum Sterben ins Dachgeschoss gebracht und dort von ihm ebenso pflichtbewusst wie unverkennbar frei von Zuneigung gepflegt. Helmer renoviert die Räume unten, die er selbst bezieht, ohne sie jedoch mit Leben ausfüllen zu können. Wir werden Zeuge einer leisen und verspäteten Midlife-Crisis, deren Substanz etwas rein Negatives ist: Helmers unterbliebenes Coming-out.
Oben ist es tatsächlich still: Vater und Sohn kommunizieren kaum miteinander. Der Jüngere fühlt sich auf dem Hof seit jeher fehl am Platz, der Ältere sagt als Letztes, bevor er stirbt: „Du bist ein sonderbarer Kauz.“ Der Sohn ist Milchbauer, hält Rinder und, mehr zum Vergnügen und gegen das Alleinsein, Schafe und zwei kleine Esel. Sein Verhältnis zu den Nachbarn ist korrekt, beinahe freundschaftlich. Dagegen weicht er dem sympathischen älteren Milchfahrer (Wim Opbrouck), der ihn mag und ihm näherkommen möchte, konsequent und zugleich gegen sein eigenes Bedürfnis nach Nähe aus. Dieselbe angstvolle Abwehr alles Erotischen vertreibt auch den jungen Knecht (Martijn Lakemeier) nach wenigen Wochen wieder vom Hof. Es wird noch einsamer um Helmer: Der Viehhändler siedelt mit Familie nach Neuseeland über. Der Milchfahrer quittiert den Dienst und kehrt nach Belgien zurück. Doch dann ist er bei der Beerdigung von Helmers Vater wieder da. Die letzte Einstellung deutet eine mögliche Wende an: Helmer, nun ungewohnt ausgeglichen auf seinem eigenen Grund liegend, blickt mit einer Mischung aus Neugier und Zufriedenheit zur Seite, ohne dass uns mehr ins Blickfeld gerät.
Die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold hat den gleichnamigen, sehr erfolgreichen Roman von Gerbrand Bakker auf ihre eigene subtile Weise verfilmt, atmosphärisch dicht und stimmig, detailreich. Die eindrucksvollen Sequenzen drinnen und draußen folgen in raschem Wechsel. Über allem liegt eine Art von November-Sinnlichkeit. Es ist durchgehend winterlich, dabei feucht-mild oder leicht frostig. Gelegentlich könnte man Bezüge zur Welt der Evangelien vermuten: Helmer, wenn er seinen Vater wie sein schweres Kreuz die Treppe hinaufschleppt. Oder Helmer als der gute Hirte inmitten seiner Lämmer. Und dann bei der Beerdigung eine Art Auferstehung, nicht des Vaters, sondern des Sohnes oder des Milchfahrers, der wieder da ist, mit Wundmalen im Gesicht, die nicht erklärt werden.
Je öfter man den Film, uraufgeführt auf der Berlinale 2013, jetzt ansieht, umso eindrucksvoller erscheint einem Frau Leopolds Arbeit und die ihrer Crew. Jeroen Willems ist bald nach den Dreharbeiten Ende 2012 einem Herzanfall erlegen. Hier erleben wir ihn noch ganz auf der Höhe seines Darstellungsvermögens. Sein Helmer ist die einzige Hauptrolle des Films und auf ihm liegt die Last dieses spröden Stoffs – wunderbar, wie er ihr standhält. Da wird uns ein Schicksal, wie es selbst heute noch viele geben mag, behutsam vor Augen geführt, eines, das von andauerndem Verzicht und stummem Leiden daran erzählt.
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