ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 23.01.2022 um 19:07 Uhr |
Der Film „Ausente“ (übersetzt: abwesend) war Marco Bergers zweiter Spielfilm und wurde 2011 fertiggestellt. In ihm ist die sehr persönliche Filmsprache des Argentiniers schon voll ausgebildet, der Akzent auf der Psychologie der Figuren, die Anklänge an das Genre Thriller, die Bevorzugung von Nah- und Großaufnahmen, das Ausschnitthafte von Orten, Räumen, Körpern. Wir sehen sehr wenig von Buenos Aires, obwohl der Film nur dort und zum Teil auf seinen Straßen spielt. Die Kameraführung zeigt Figuren, die sich wie in Gefängniszellen oder -höfen bewegen und dabei immer tiefer in ihrem Schlamassel versinken.
Man kann von einem Zwei-Personen-Stück sprechen, die wenigen Nebenfiguren fungieren fast nur als Stichwortgeber. Der Konflikt wird zwischen dem Schwimmlehrer Sebastían (Carlos Echevarría) und dem Schüler Martín (Javier De Pietro) ausgetragen, der eine in den Dreißigern, der andere sechzehn. Martín hat sich in den Kopf gesetzt, seinen Lehrer zu verführen. Mit einer detailreichen Lügengeschichte gaukelt er eines Tages nach Schulschluss Sebastian vor, hilflos auf der Straße zu liegen. Der Lehrer lässt ihn bei sich übernachten, obwohl dies riskant, da verboten ist. Zu Hause passiert kaum etwas. Martín kommt mit seinen vielen Aktionen nicht voran und schon gar nicht ans Ziel – nur dass er seinen Gastgeber vor Nachbarn wie später auch vor einer Kollegin kompromittiert.
Tags darauf erfasst der Lehrer, dass er in allem getäuscht worden ist. Die beiden fangen an, sich ineinander zu verbeißen, mit Blicken, Gesten, wenigen Worten bis hin zu feindseligen Handlungen. Martíns ungeschickte Versuche, das Blatt noch zu wenden, regen Sebastían dazu an, dem Geschehenen wie Nichtgeschehenen noch mehr auf den Grund zu gehen. Parallel dazu verschlechtern sich die Beziehungen des Lehrers zu seiner Freundin. Die so verschiedenen Charaktere der beiden Hauptfiguren enthüllen sich immer mehr. Der Jüngere, obwohl blendend aussehend, weist eine etwas tückische Ausstrahlung auf, wirkt unsicher und leicht unsympathisch. Der etwa zwanzig Jahre Ältere ist zunächst nur der Offene, Hilfsbereite, dann leicht Befremdete, später tief Verunsicherte. Er leidet sichtlich und gewinnt so die Sympathie des Zuschauers.
Das Drehbuch lässt Martín auf brutalste Weise aus der Handlung verschwinden. Für Sebastían wird er von da an zu einer Proustschen Albertine disparue. Der Lehrer fängt an, im Kopf frühere Szenen mit Martín nachzuspielen, vielleicht auch schon ein wenig zu verändern. Die Krise in seiner Partnerschaft verstärkt sich, die Beziehung treibt ihrem Ende entgegen. Sebastian dringt nachts in die vollkommen leere Schwimmhalle ein und hat dort eine Vision des Dahingegangenen. Und dabei verändert sich Martíns Ausstrahlung, wird erstmals licht, freundlich, strahlend. Mit einem veränderten Bewusstsein von sich selbst hat der Lehrer ihn umgeschaffen. Dann bricht die Vision zusammen und der Film endet abrupt mit Sebastians Weinkrampf.
Marco Bergers tiefgründiges, erstaunlich vielschichtiges Werk hat zu Recht auf der Berlinale 2011 den Teddy für den besten Spielfilm erhalten. Zum Gelingen haben auch die beiden vorzüglichen Hauptdarsteller beigetragen.
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