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Literaturforum: Wiederentdeckt: Viscontis SENSO von 1954


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Forum > Aesthetik > Wiederentdeckt: Viscontis SENSO von 1954
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 Thema: Wiederentdeckt: Viscontis SENSO von 1954
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 24.02.2016 um 22:33 Uhr

Das ist nicht der Film, den Visconti ursprünglich drehen wollte. Er sollte „Custozza“ heißen, jene Schlacht von 1866 im Zentrum haben und sehr viel anders ausgehen, weniger tragisch und mit stärkerem politischem Akzent. Die damalige Filmzensur sowie das italienische Verteidigungsministerium verhinderten diese Version. Jetzt sehen wir vor allem die aufwühlende Geschichte der venezianischen Gräfin Serpieri (Alida Valli), deren Gatte für die Österreicher arbeitet – sie sind noch die Herren in Venezien - und die selbst die Aufständischen unterstützt. Dann verliebt sie sich in den österreichischen Offizier Franz Mahler (Farley Granger), liefert ihm die für die Freiwilligenarmee gesammelten Gelder aus, und verschuldet dadurch mit die italienische Niederlage bei Custozza. Sie rächt sich für Franzens Untreue, indem sie ihn als Deserteur denunziert. Daraufhin wird er erschossen und sie irrt als Wahnsinnige durch das nächtliche Verona.

Was ist da geschehen? Die Zensur hat die geplante historisch-kritische Aufarbeitung des Risorgimento weitgehend verhindert, ein vor allem gesellschaftliches Drama in ein überwiegend privates verwandelt und damit dessen mächtige melodramatische Aufladung erst bewirkt. Die noch vorhandenen Massenszenen stehen relativ isoliert da. Das gilt weniger für den Aufruhr in der Oper zu Beginn als für die Schlachtszenen, die, so mitreißend sie sind, doch kaum Berührung mit der Haupthandlung haben. „Senso“ ist faktisch zum Zwei-Personen-Stück geworden. Selbst Graf Serpieri und Ussoni, der Anführer der Venezianer Patrioten, sind Nebenfiguren von relativ wenig Bedeutung.

Franz Mahler ist eine sehr komplexe Gestalt. Er ist zuweilen von einer eleganten Schmierigkeit, er hat als gewissenloser Verführer schurkische Züge, doch reflektiert er sich selbst stark und angesichts des eigenen Charakters kann ihn Verzweiflung erfassen. Er ist ein Mann nicht auf der Höhe der Zeit, sondern unbehaust in der Tiefe des Jahrhunderts, halb noch Romantiker, halb schon zynisch Resignierter von dostojewskischer Größe. Die Gräfin ist zu klug, als dass sie nicht Mahlers charakterliche Defizite durchschaute. Sie, unbefriedigt in kinderloser Ehe lebend, scheint die Liebesbeziehung gemeinsam mit dem viel jüngeren „Feind“ als Tragödie zu inszenieren, um auf großartige Weise unterzugehen. Das hat durchaus masochistische Züge, und Mahler antwortet darauf, indem er den sadistischen Part gern übernimmt.

Ihr fatales Zusammenspiel insoweit wird am deutlichsten, als er heimlich zu ihr ins Landhaus der Serpieris in Aldeno vordringt. Zunächst weist sie ihn ab, beruft sich auf sein treuloses Verschwinden in Venedig, wo sie bereits ein Verhältnis unterhielten. Da bearbeitet er sie erneut nach allen Regeln der Verführungskunst und mit Erfolg, ganz die edel liebende Seele. Doch zwischendurch zuckt ein Mundspalt verächtlich und seine Augen blicken kalt berechnend. Er geht sogar auf die Knie vor ihr, um dabei plötzlich in ein lang anhaltendes höhnisches Gelächter auszubrechen. Die Gräfin nimmt es deutlich wahr, sie hantiert jetzt mit einer Haarnadel – bei dieser Verrichtung hat er sie bereits in Venedig einmal gedemütigt. Später, zu Beginn des furiosen Höhepunkts in Verona, wird sie ihn fragen: „Willst du mir wehtun oder dich selbst verletzen?“

Mahler verteidigt sich einmal damit, er sei eben Bestandteil einer untergehenden Gesellschaft. Die herkömmliche Filmkritik hat sich dem angeschlossen und den Befund gleich auf beide Hauptpersonen und ihre Milieus bezogen. Dabei ist es bei Mahler vor allem eine ihn selbst entlastende Pose. Habsburg war, wie der Zuschauer weiß, noch lange nicht am Ende. Und in Italien haben sich für weitere Jahrzehnte die Feudalaristokratie und das aufstrebende Bürgertum die Macht geteilt – das wurde eines der Hauptthemen im späteren „Gattopardo“. Die Gräfin verkörpert allerdings mit ihrem privaten Drama durchaus die brüchige, widersprüchliche Motivation der italienischen Oberschichten während des Risorgimento. Visconti hatte gewiss auch die weitere krisenhafte Entwicklung der italienischen Gesellschaft bis hin zu Mussolini im Kopf bei seiner neomarxistisch inspirierten Kritik. Man muss sie im Detail nicht teilen und kann doch feststellen, wie ästhetisch produktiv sie hier war, gerade auch durch das Eingreifen der Zensur. Die beiden Gestalten gewannen so eine plastische Tiefe jenseits einer rein privaten Liebes- und Eifersuchtsgeschichte.

Als Filmmusik dient, abgesehen von Verdis „Troubadour“ zu Beginn, allein Bruckners Sinfonie Nr. 7, eine spätromantische Klangorgie, immer parallel zur katastrophalen Handlung. Die Klimax des Adagios untermalt so die Übergabe der Patriotenkasse an den Feindesoffizier. Auch in Bezug auf diese Musik bieten sich historische Querverweise an. Die Sinfonie war vom Komponisten ausgerechnet dem problematischen Bayernkönig Ludwig II., später selbst Gegenstand eines Visconti-Films, gewidmet worden – und ihr Adagio erklang auf Anweisung Hitlers einen Tag nach seinem Selbstmord im Reichsrundfunk, als letzter Gruß des Führers an sein ruiniertes Volk. Von Bruckner wurde gesagt, er sei als Sinfoniker ein verhinderter Opernkomponist gewesen. Mit „Senso“ hat Visconti eine Art Filmoper geschaffen, sein vielleicht kraftvollstes Werk überhaupt.

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