ArnoAbendschoen
Mitglied
718 Forenbeiträge seit dem 02.05.2010
|
Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.08.2014 um 21:08 Uhr |
Wir erkennen Amerika kaum wieder in diesem Film von Everett Lewis von 2005: radikal politisiert, kompromisslos. Als Vorspann läuft ein krass homophober Auszug aus dem Wahlprogramm der Republikanischen Partei für die Wahlen in Texas 2004. Europa, du hast es besser … In der Tat vermittelt der Film den Eindruck, Los Angeles sei in Zonen unterschiedlicher sexueller Präferenzen aufgeteilt, Zonen, so verfeindet wie die in Beirut oder Bagdad.
Der junge India (Joe Lia) hat Colorado vor drei Wochen verlassen, als sein Vater ihn umzubringen drohte. In L.A. lebt er auf der Straße, versucht sich als Pornodarsteller durchzubringen, wird hereingelegt. Auf dem Straßenstrich gerät er den Schwulenhassern Guy (Adam Larson) und Quentin (Josh Paul) vor die Brechstangen, mit der sie ihn in einer Tiefgarage zu töten versuchen. Der schwarze Transvestit Destiny (Allan Louis) rettet ihn mit „Miss 45“. Destiny ist Pornoregisseur und nimmt junge Verzweifelte wie die Lesbierin Lester (Minerva Vier) bei sich auf. India zieht auch bei ihm ein.
Destiny, Lester und India bilden eine Ersatzfamilie. Sie debattieren über die feindliche Heterowelt, über Abgrenzung und Selbstbehauptung. Destiny geht eine Beziehung zu dem schwulen Polizisten Victor Damone (Vince Parenti) ein. India lernt an einem Abfallcontainer Spencer (Lance Lee Davis) kennen, seine erste große Liebe. Spencer ist nur für ein paar Tage nach L.A. gekommen. Er will an einem bestimmten Tag im Kongresszentrum seine Eltern töten. Die Bauteile für die Bombe trägt er in seinem Rucksack herum. Spencer vergrößert die WG.
India trägt Guys Jacke, die sie ihm in der Tiefgarage abgenommen haben. So kommt er an Guys und Quentins Adresse. Er will nun Destinys These von der heimlichen Homosexualität der Homophoben überprüfen. Er fährt mit Spencer ins Viertel der Stiernacken, gibt die Jacke vor dem Haus zurück. Guy lächelt mehrdeutig, will eine Unterredung um die Straßenecke – und räumt dort ein, auch dazuzugehören. Er war Quentin verfallen und hat nur deshalb bei den Überfällen mitgemacht. Jetzt löst er sich und sagt Quentin, er werde nach West Hollywood umziehen. Quentin begreift, bietet Stillschweigen an, falls Guy bleibt. Guy geht trotzdem, vergrößert die WG. Quentin tobt, fuchtelt viel mit dem Schießeisen herum, weiß noch nicht, wen er erschießen soll: Guy, dessen neuen Freunde oder sich selbst? In der WG spitzt sich die Lage gefährlich zu …
Gelegentlich blitzt Ironie auf, gelegentlich sehen wir Szenen, so idyllisch wie nach einer Landung auf Kythera. Der Film scheut auch vor Pathos nicht zurück und ist ihm gewachsen. Spencer z. B. erzählt die Geschichte seiner Narben. Sein Vater hat ihn einmal mit einem Golfschläger zusammengeschlagen, ein Mitschüler hat ihn im Schulbus mit einem Feuerzeug gebrandmarkt, andere haben ihn vor ein Auto – er bricht mitten im Satz ab. Guy, an sich viril, kompakt und lebenslustig, ist zugleich schwer traumatisiert. Gefühle will er vermeiden, Gefühle bedeuten Schmerzen. Er wird seine Bombe zünden. In einem furiosen letzten Akt gelingt es India, ihn davon abzubringen.
Zurück in die Siebziger! Das scheint ein Motto dieses sehr gelungenen Gewaltstreichs von Film zu sein. Alles wieder da: Gay Liberation Front, Wohngemeinschaften, also Kommunen, die Wertschätzung von Nacktheit, Sexualität als die große Kraftquelle, Militanz und vor allem: MAKE LOVE NOT WAR. Es gibt auch Unterschiede, ein historischer Lernprozess hat stattgefunden. Destiny duldet keine Drogen. Kondome sind verpflichtend vorgeschrieben. Die Notwendigkeit einer eigenen festen sozialen Struktur wird eingesehen.
Der Film ist auch ästhetisch eigenwillig, kühn und überzeugend. Die meisten Szenen spielen in dunklen Höhlen. Kameraführung und Lichtgebung erzeugen fortlaufend barocke Interieurs und Porträts. Beleuchtung, Farbgebung und Musik machen aus einem Thesenfilm, machen aus Agitprop ein sehr lebendiges Kunstwerk ersten Ranges. Verlagert sich die Handlung einmal auf die Straße, bleibt der Himmel meist ausgeblendet. Sein Licht fällt zwar auf diese Menschen, doch sie blicken nicht zu ihm auf. Es ist eine geschlossene Welt. Das kann man kritisch sehen, ein großer künstlerischer Wurf ist der Film dennoch. Oder vielleicht gerade deshalb?
|