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Literaturforum: Warum Raimund lange Haare hat und daran festhäl


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Forum > Prosa > Warum Raimund lange Haare hat und daran festhäl
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 Thema: Warum Raimund lange Haare hat und daran festhäl
raimund-fellner
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 13.02.2012 um 08:28 Uhr

1. Warum Raimund lange Haare hat und daran festhält
(Aus dem Roman "Lange Haare")

Es ging ihm schlecht. Heute, morgen oder übermorgen, es würde sich nichts ändern. Er, Raimund, lag im Bett. Es war helllichter Tag. Die Welt draußen ging ihren Gang. Was sollte er darin anfangen, er mit seinen langen Haaren. War es nicht so, dass ihn die Betriebseigentümer als Angestellten ablehnen würden, ihn, mit seinen langen Haaren. Was sollte er machen? Selbst Unternehmer werden? Das hatte er sich in seiner Jugend vorgenommen, weil er unermesslich reich werden wollte. Das kapitalistische Wirtschaftssystem hatte seinen Bestand. Es würde sich nicht ändern, trotz 1968. Die Gesetzlichkeit dazu lag in den Menschen und in den Sachverhalten. Jedenfalls um etwas wirtschaftlich unternehmen zu können, brauchte er Kapital zum Investieren. Also sparen. Das würde sich nicht ändern. Selbst bei den alternativen Betrieben war dies nicht anders, die es in Wirklichkeit gar nicht gab, weil wirtschaftliche Betriebe nicht anders funktionieren, als eben dies in der Realität der Fall ist. Das würde sich nicht ändern. Außerdem, wo waren denn die Schönredner von 1968, schafften sie etwa alternative Betriebe? Nein, sie schnitten sich ihre Haare kurz, zogen sich spießig an und biederten sich an, um einen Arbeitsplatz bei irgendeinem Kapitalisten zu ergattern. Um wirtschaftlich zu bestehen, schienen ihm nur zwei Möglichkeiten gegeben, entweder Ausgebeuteter oder Ausbeuter. Auf jeden Fall mitmachen bei diesem Wirtschaftssystem und sich die Haare schneiden. Aber damit war der Sündenfall geschehen. Raimund überlegte: Wie auch immer, wenn die Achtundsechziger und die Hippies ihre langen Haare beibehalten hätten, sähe die Welt besser aus. Denn in den langen Haaren war die gute Seele, das Ideal, das die Gestutzten weggeschnitten und damit aufgegeben hatten. Wie das Äußere so das Innere. Beschnittenes, eingeengtes Äußeres bedeutete ein eingezwängtes unfreiheitliches Inneres. Freilich, das Beibehalten der Haare und des Bartes hatte Widerstände, wollte erst durchgefochten sein. Er musste sich behaupten und durchsetzen. Lautete nicht die Alternative: Entweder lange Haare oder Geld. Oder besser: Entweder Gott oder der schnöde Mammon. Kein Mensch kann zwei Herren dienen, sagte Jesus Christus, der auch lange Haare und Bart hatte. Allein schon die äußere Erscheinung von Jesus Christus bestärkte ihn, dass er auf dem richtigen Weg war. Was das finanzielle Auskommen betraf, meinte Jesus Christus: Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles Übrige wird euch hinzugegeben. Das war´s: Das Reich Gottes suchen, die glückliche Gesellschaft, ein glücklicher Mensch werden. Doch wie sollte er das erreichen? Er war unglücklich, fühlte sich in seiner Existenz auf lange Sicht bedroht, wenn er nicht einen Gelderwerb fände. Freilich wurde er von den Eltern reichlich unterstützt. Solange sie lebten. Doch dann? Es wäre zu einfach, der Weg des geringsten Widerstandes, die Haare zu schneiden und sich an das Spießertum anzupassen. Der Freiheit ginge er dann verlustig. Haareschneiden bedeutete, all die schönen Erinnerungen mit Bea aufzugeben, die wahre Schönheit, die Freiheit in der Erscheinung zu verlieren. Das ersehnte Reich Gottes zu verlieren.
Reich Gottes, Himmelreich oder Weltrevolution oder Nirwana, all diese Begriffe standen für Glücklichsein, für ein friedliches freundliches Zusammenleben der Menschen, sie standen für die ideale Gesellschaft, in der keiner den anderen beherrscht. Die Herrschaftslosigkeit oder Anarchie war das Ideal. Der einzige, der den Menschen obwalten sollte, war für Raimund Gott. War es nicht so, dass Mitmenschen, die die Leitung Gottes nicht anerkannten, nach menschlicher Herrschaft suchten. Sie brauchten stets eine Autorität, fragten bei allen menschlichen Zusammenkünften nach dem Verantwortlichen, nach dem Leiter. Wer Gott als höhere Macht nicht anerkannte, suchte nach menschlichen Machthabern, die ihm sagten, was zu tun war.
So waren die Menschen, die immer nach Autorität suchten. Raimund würde sie nicht ändern können. Und wie stand es mit ihm selbst? In seiner Jugend hatte er aus Minderwertigkeitsgefühl heraus den starken Drang, der Führer zu sein, die Persönlichkeit, auf die alle blickten, nach der sich alle richteten, die das Sagen hatte, einhergehend mit unermesslichem Reichtum. Eigentlich wollte er dies alles überdenken und Philosophie studieren. Doch sein Vater meinte, Philosophie sei eigentlich eine Lumperei, sie führe zu keinem rechten Beruf. Gemeint war Gelderwerb, um sich durchzubringen. Er müsse etwas studieren, mit dem sich Geld erwerben lasse. So hatte er sich zunächst für Mathematik und Physik entschieden, um Lehrer zu werden. Doch damit geriet er in die Sinnkrise. Standen Lehrer im Leben, kannten sie das Leben, kannten sie die Arbeitswelt? Er würde etwas lernen, das er mit möglichst guten Zeugnissen nachzuweisen hatte, um das Gelernte wieder zu lehren, die Schüler wieder zu prüfen, um ihnen Zeugnisse zu verpassen. Wo war da der Sinn, wenn er gar nicht wusste, wo im Leben dieses Wissen seine Anwendung fände, ja mehr noch, ohne dieses Wissen für seinen Lebensvollzug zu benötigen, außer eben es zu lehren und wieder einzufordern und dafür Geld zu bekommen. War solcher Beruf nicht eine sinnentleerte Existenz? War es nicht viel sinnvoller über die richtige Lebensführung, über die Wirklichkeit etwas zu lernen? Vor allem sich damit zu beschäftigen, wie er von seinem unglücklichen Bewusstsein zu einem glücklichen Bewusstsein gelangte? Die Schwermut wegen dieser falschen Studienwahl lastete so stark auf ihm, dass er dieses Studium nach zwei Wochen aufgab. Die Sinnlosigkeit dieser Berufsaussicht, Lehrer, und die Aussichtslosigkeit mit den beiden Wissenschaften, Mathematik und Physik, über sich und seine Probleme etwas zu erfahren, lähmten ihn. Er war deprimiert, schwermütig.
Er, der unschlüssig war, sich selbst finden musste, unglücklich war, konnte nur in Philosophie Sinn finden, um eine Lösung für seine mentalen Probleme zu finden. Doch Philosophie zu studieren, verwehrte ihm sein Vater. So besann er sich auf das Vorhaben in seiner Jugend, ein Wirtschaftsmagnat zu werden. Darum entschloss er sich, Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Damit hatte er zunächst ein gutes Gefühl. Für jetzt war nichts zu tun. Das Semester würde erst im Mai beginnen. Er hatte Zeit zu lesen. Das, was er aber las, waren Philosophen. Er verstand wenig, weil er sich die Begriffe erst zu eigen machen musste, doch dieses geheimnisvolle Weben des Geistes reizte ihn, Seite um Seite voranzudringen. Philosophie beschäftigte sich mit dem Wesentlichen eigentlich Wichtigen des Lebens.
Die Hauptfrage, die sich stellte, war seine anhaltende Liebe zu Bea. Immer wieder vergegenwärtigte er sich glückliche Situationen mit ihr, aus denen ihre Zuneigung, ihre Liebe sprach. Verliebt war er in das Gefühl, das diese Begebenheiten begleitet hatte. War diese Liebe wahr? Wurde sie im Grunde von Bea erwidert? Er hatte gefehlt, sich gegen die Liebe versündigt. War es da verwunderlich, dass sie ihn jetzt ablehnte und kein Weg zu ihr führte. Sein Fehlverhalten, das den Zugang zu ihr unmöglich gemacht hatte, schmerzte ihn. Oder täuschte er sich in dieser Liebe. Würde die große Liebe ihm noch bevorstehen? Sie hatte ja gesagt, er solle sich eine andere suchen. Was war die Wahrheit? Wie war seine innere Offenbarung zu deuten? Was war die Lösung? Würde er weiterhin von einer zur anderen irren müssen? Jedenfalls in seinen langen Haaren war das Gedächtnis dieser Liebe aufbewahrt. Solange sie lang wären, wäre er ihr seelisch treu. Mit seinem Bart wuchs seine Erkenntnis und Weisheit. Auch er sollte frei wachsen. Lange Haare und Bart sollten ihn auf dem Weg des Guten halten. Was damit verwehrt war, konnte nicht gut sein. Doch verwehrt schien so ziemlich alles. Der Pfad der Tugend war eben schmal. Auch Manager zu werden, war ihm verwehrt. Oder war es möglich, trotzdem ein reicher Mann zu werden? Glaubte er dem Weisheitsbuch Salomos im Alten Testament der Bibel, schloss Weisheit Reichtum nicht aus. Im Gegenteil, sie bedingten sich. Es musste möglich sein, mit dem Guten reich zu werden. Und reich werden wollte er nach wie vor. Das einzige auf dem Weg dazu, was er tun konnte, war Schreiben, Gedanken entwickeln, die zu einem glücklichen Leben führten. Der einzige Beruf, der ihm im Guten machbar erschien, war der des Schriftstellers. Alles andere hatte irgendwo einen Pferdefuß. Doch würde er gut genug schreiben können? Würde er die Fertigkeit des Schreibens sich erwerben können? Stoff hatte er. Die Geschichte mit Bea und die Abirrung von ihr. Mit diesen Begebenheiten war er schwanger und dieses Kind im Inneren bereitete ihm Schmerz und Leid.
Und wieder kreisten seine Gedanken um Bea. Wie konnte er nur die Wahrheit dieser Liebe ergründen? Er suchte Rat in der Droge. Er wollte wieder einmal Haschisch rauchen. Sein Bruder Bernhard und dessen Freund Klemens Flußner bauten diese Pflanze an. Sie waren wohl gerade im Haus. Er stand auf von seinem Lager, durchquerte das Bad nebenan, machte die wenigen Schritte den Gang entlang, öffnete die Tür zum Dachboden und stieg hinauf zum Mansardzimmer seines Bruders. Dort waren die beiden Freunde versammelt. Sie begrüßten sich. Raimund war immer willkommen. Sie hatten beide ein vielsagendes tiefgründiges Grinsen aufgesetzt, waren beide nicht so ganz da in der Realität.
"Wir haben THC hergestellt. Willst du mal probieren?" machte Bernhard den Vorschlag.
"Was ist denn THC?" richtete Raimund erkundigend die Frage an die beiden Freunde.
"Das ist der Wirkstoff von Haschisch“, gab Klemens zur Auskunft.
"Und? Wirkt es?" fragte Raimund die beiden, die sich anscheinend diese Droge zugeführt hatten.
"Nicht schlecht“, meinte Klemens.
"Dann will ich es natürlich auch mal versuchen. Ich muss die tiefere Wirklichkeit erkunden“, gab Raimund auch gleich die Begründung, warum er zu dieser Droge greifen wollte.
"Das Bewusstsein weitet sich intergalaktisch“, antwortete ihm Klemens.
"Intergalaktisch“, wiederholte Raimund.
"Ja, intergalaktisch“, bestätigte Klemens.
Über dieses Wort „intergalaktisch“ musste sich Raimund mokieren, denn, dass das Bewusstsein unter diesem Rauschmittel in irgendeiner Weise mit den Bereichen zwischen den Milchstraßen der Sterne im Weltall verbunden wäre, war natürlich nicht der Fall. Intergalaktisch war halt ein großartig klingendes Geschwätz, wie sich Klemens insgeheim auch bewusst war. Wenn Raimund vor sich ganz ehrlich war, musste er sich eingestehen, wenn er mit seinem gesunden Menschenverstand die Sache überdachte, dass diese Rauschmittel nur den chemischen Stoffwechsel im Gehirn verändern, so dass die Inhalte, die sowieso schon im Hirn sind, nur verzerrt werden, also unwahr gemacht werden. Wenn er Rauschmittel welcher Art auch immer nahm, machte er sich etwas vor. Krass aber wahr ausgedrückt, er belog sich selbst. Und doch war jenes sich selbst Belügen so schön. Den Zustand unter Cannabis genoss er jedes Mal. Es waren die einzigen Zeiten in denen er einigermaßen glücklich war. Er wusste auch sehr wohl, dass wenn er ein glückliches, heiteres Bewusstsein erreichen wollte, er an sich arbeiten musste, was bedeutete, sich darum zu bemühen, falsches Denken abzulegen, Charakterfehler aufzulösen. Dazu wären ihm die Mitmenschen mit ihrem berechtigten Tadel behilflich. Doch außer Klemens und Bernhard hatte er keinerlei Kontakte oder gar Freunde. Er war einsam.
Bernhard und Klemens nahmen eine Filterzigarette, zogen mit einer Pinzette den Filz aus der Filterhülle heraus und ersetzten ihn durch einen zusammengerollten Papierstreifen, dann zogen sie eine Spritze mit einer bräunlichen Flüssigkeit auf und spritzten behutsam die Flüssigkeit nach und nach in den Tabak der Zigarette. Sie überreichten diese Raimund, der sie sogleich ansteckte. Der Rauch hatte einen ganz andersartigen Geschmack als Cannabis. Raimund sog ihn in die Lunge und hielt ihn dort eine Weile, bevor er ihn wieder ausstieß. Das Rauschmittel begann zu wirken. Eine Benommenheit stellte sich ein. Die Wirkung jedoch fühlte sich anders an als beim herkömmlichen Haschisch. Das Körpergefühl war ein wenig missstimmig. Einander bekämpfende, widersprüchliche Gefühle stellten sich ein. Sämtliche miesen Gefühle aus seiner sexuellen Vergangenheit mit Mädchen tauchten auf. Der ganze unaufgearbeitete Beziehungsschrott an Empfindungen kam zu Tage. Trotzdem war das Rauscherlebnis für ihn interessant. Es war etwas Neues im Tageseinerlei. Eine Abwechslung.
"Na, wie wirkt´s?" erkundigte sich sein Bruder Bernhard, wobei er Raimund prüfend ansah, als wolle er die Wirkung aus ihm herauslesen.
"Interessant, aber anders als Cannabis“, gab Raimund zur Antwort. Er war ziemlich zugedröhnt. Darum meinte er: "Ich leg mich jetzt ins Bett und meditiere auf die Wirkung. Ich muss zu neuen Erkenntnissen kommen." Er verließ den Raum, stieg die Treppe hinab, begab sich in sein Zimmer und legte sich ins Bett.
Er hatte den widerstreitenden Gefühlen seiner Liebeleien standzuhalten. Das hatte er nicht gewusst, dass seine Abirrungserlebnisse solch unangenehme Spuren in der Gefühlswelt hinterlassen würden. Am schönsten und erfreulichsten wäre das reine Beagefühl gewesen, das er liebte. Doch diese selbstgenugsame glückliche Lust war gestört. Er bereute die Abirrung von Bea und doch wusste er keine Abhilfe, von dieser Schuld mit ihren Folgen frei zu werden.
Ohne die Droge waren natürlich auch diese miesen Gefühle in ihm vorhanden. Sie waren aber verdrängt im Unbewussten und erzeugten sein unangenehmes Körperempfinden, unter dem er litt, und das er dem Neuroleptikum anlastete, das er zu nehmen hatte, denn er litt unter Schizophrenie. Seine Abirrung von Bea war noch nicht aufgearbeitet, eine Not-Wendigkeit, die Jahrzehnte brauchen würde. Die Droge verstärkte nur, was ehedem in ihm war.
Raimund litt jetzt unter seinem Drogenzustand mehr als im nüchternen Zustand. Darum hatte er genug und wollte so schnell wie möglich wieder frei von diesem bewusstseinsverändernden Stoff sein. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, um mit der Nikotinwirkung den THC-Rausch zu überdecken. Auch begann er literweise Wasser zu trinken, um all diese schlechten Gefühle auspinkeln zu können. Dennoch hatte er seinen Zustand zu ertragen, bis es allmählich draußen dämmerte, und er einschlief.
Am nächsten Tag wieder nüchtern, hatte er das zerschlagene matte Gefühl eines Katers. Das Rauscherlebnis hatte nichts an neuer Erkenntnis gebracht, nur unangenehme Gefühle. Trotzdem würde er nach geraumer Zeit wieder zu Drogen greifen, nur um eine Abwechslung in seinem eintönigen Einerlei zu haben.


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