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Literaturforum: Religiöse Motive im Film


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Forum > Aesthetik > Religiöse Motive im Film
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 Thema: Religiöse Motive im Film
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 24.01.2011 um 13:24 Uhr

- Dargestellt am Beispiel „Plata Quemada“ von Marcelo Piñeyro -

„Das Blut Christi!“ ruft ihm ein betrunkener, verzückter Alter zu, als Angel gerade einer Rummelplatzschlägerei entflieht. Angel und sein Freund Nene sind zwei schwule, rauschgiftsüchtige argentinische Raubmörder, die sich in Montevideo verstecken. An diesem Abend gehen sie erstmals seit Wochen wieder unter Menschen. Nach diesem Prolog folgen rasch aufeinander die folgenden Miniszenen:

(1) Nene kokst in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt. Er steht dabei an einem Waschbecken und betrachtet das Spiegelbild eines jungen Mannes, der ihn seinerseits beobachtet. Nenes Miene verrät Interesse und zugleich tiefe Ambivalenz des Gefühls. (2) Angel betritt einen Kirchenraum, ein Türflügel weist eine intensiv blau leuchtende Glasmalerei mit Mariendarstellung auf. (3) Nene folgt dem Fremden, er geht langsam zwischen den Pfeilern des WCs hindurch. (4) Angel erscheint hinter einem Pfeiler des Kirchenschiffs. (5) Nene lässt die Pfeiler hinter sich und erreicht ein Pissbecken. (6) Angel liest die Inschrift an einer Kirchenbank: „Und wenn du heute Nacht sterben würdest?“ Er blickt in Richtung Chor. (7) Nene beschimpft den Homo neben ihm. Er richtet seine Pistole auf ihn und weidet sich an seiner Todesangst. (8) Angel schaut in die gleiche Richtung wie bisher. Er geht langsam nach vorn. (9) Nene beleidigt den Homo weiter, er tritt ihm in den Unterleib. (10) Angel geht schneller nach vorn. (11) Nene bedroht und erniedrigt sein Opfer noch immer. Sein Gesicht verrät jetzt Faszination. (12) Angel ist im vorderen Teil des Kirchenschiffs angekommen, er blickt nach oben. (13) Nene geht vor seinem Opfer in die Knie, richtet dabei die Pistole auf die Stirn des anderen. (14) Angel blickt weiter nach oben. (15) Nene, noch immer kniend, trifft Anstalten, den anderen oral zu befriedigen, wobei er die Pistole auf dessen Mund richtet. (16) Angel kommt mit dem Kruzifix ins Bild. (17) Nene beginnt, die Hose des anderen zu öffnen. (18) Angel trifft Vorbereitungen, eine Kerze vor dem Kruzifix anzuzünden. (19) Nene spült sich am Waschbecken den Mund aus, glättet sich das Haar und schaut sich prüfend in die Augen.

Diese rasche Abfolge von Szenen markiert recht genau die Mitte des zweistündigen Films. Alle Sequenzen zusammen dauern drei Minuten und neunzehn Sekunden, eine einzelne also durchschnittlich nur etwa zehn Sekunden - für den Zuschauer ein einziger rasch dahinfließender Handlungsstrom. Das funktioniert ähnlich wie Film an sich: Vierundzwanzig stehende Bilder pro Sekunde suggerieren dem Zuschauer eine fortlaufende Bewegung. Welchen Sinn beinhaltet dieses Stakkato hier? Angels Haltung in ihm ist die eines gläubig Hoffenden, ruhig Anbetenden. Nenes sadomasochistischen Handlungen liegt Selbsthass zugrunde, der sich in Lust verwandelt. Selbsthass hat Angel ihm schon während ihrer Überfahrt über den La Plata in Gedanken attestiert. In Ricardo Piglias Roman „Verbrannter Zaster“, der dem Film zugrunde liegt, lesen wir dazu: „Plötzlich überkam ihn (Nene) das unbedingte Bedürfnis, sich zu erniedrigen, das war wie eine Krankheit, eine Gnade, ein Hauch in der Seele, etwas, das man nicht verhindern kann. Dieselbe blinde Kraft, die einer verspürt, den es unwiderstehlich in die Kirche hinein und zum Beichtstuhl zieht. Er kniete vor diesen Unbekannten, er beugte vor ihnen das Haupt …, als wären sie Götter, dabei wusste er die ganze Zeit, dass er sie bei der geringsten falschen Bewegung, bei der leisesten Andeutung eines Lächelns umbringen konnte, eine ungeschickte Geste genügte, ein Wort zu viel, und sie starben mit dem Ausdruck des Entsetzens und der Überraschung auf dem Gesicht, während ein Messer sich in ihre Eingeweide bohrte …“ Man sieht: Der Autor Piglia spricht noch konventionell in alter Tradition von Göttern allgemein, der Filmemacher Piñeyro bezieht sich auf Christus, eine gravierende Akzentverschiebung und konsequent in einem Land, dessen Bevölkerung zu neunzig Prozent katholisch ist.

Angels Kirchenbesuch wie Nenes gleichzeitiger Sexualkontakt auf der Toilette – das ist die Passion Christi auf zwei verschiedenen Bühnen. Angel versenkt sich in die Passion und Nene profaniert sie, indem er den Homo an sein Kreuz schlägt und ihn dann anbetet. Die Kunst des Filmes besteht darin, diese sehr verschiedenen Verarbeitungen so zu synchronisieren, dass sie eine Einheit bilden. Der Zuschauer erlebt sie nicht nur in engstem zeitlichem Zusammenhang wie übereinandergelagert, er täuscht sich auch leicht über die räumliche Trennung beider Handlungen. Fast scheint es, als ob Angel und Nene im gleichen Saal aufträten. Der eine verschwindet hinter einem Pfeiler und der andere taucht sogleich hinter scheinbar demselben auf. Die schwache Beleuchtung ist gleichbleibend düster, es erklingt dieselbe geistliche Musik. Die Bewegungen der Figuren sind gleichermaßen verlangsamt, fast gravitätisch. Ist das Waschbecken nicht in Wahrheit ein Weihwasserbecken? So wie die Szenen abrollen, scheint Angel weniger auf das Kruzifix als auf eine höher gelegene Bühne zu blicken, auf der Nene seine Version der Passion aufführt.

Am Ende des Films werden erneut religiöse Motive für die Handlung in Anspruch genommen. Nene wird bei der Belagerung ihres letzten Unterschlupfs durch die Polizei von einer Kugel getroffen und stirbt. Angel spricht ein Ave Maria und nimmt den Sterbenden in die Arme. Sie bilden gemeinsam die Figur einer Pietà, Angel anstelle von Maria und Nene in der Position von Christus. Vorausgegangen ist das Verbrennen des geraubten Geldes, der Millionenbeute, als „Müll“, jenes Geldes, das zu ihrer Zeit, in ihrer Welt alle Werte abgelöst hat und jetzt, angesichts ihres nahenden Todes, für sie schon völlig entwertet ist. Was bleibt dann noch, fragt dieser Film und gibt die Antwort – die Liebe. Dass er dabei auf Inhalte der überlieferten Religion zurückgreift und sie uminterpretiert, macht sein Wagnis aus. Ästhetisch ist es geglückt. „Plata Quemada“ bekam 2001 den wichtigsten spanischen Filmpreis, den „Goya“, in der Sparte Bester ausländischer Film in spanischer Sprache.

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