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Literaturforum: Gerbrand Bakker - Oben ist es still


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Forum > Rezensionen > Gerbrand Bakker - Oben ist es still
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 Thema: Gerbrand Bakker - Oben ist es still
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 02.01.2017 um 15:12 Uhr

Dieser Roman ist auch eine Geschichte vom Vergehen eines Milieus, hier konkret der alten bäuerlichen Welt. „Es kommt der Tag, an dem es in Waterland keine Bauern mehr geben wird“, stellt der Ich-Erzähler fest. Der Gedanke an ein späteres Naturschutzzentrum auf seinem Grund, anstelle der Ruine des Knechtshauses, ist ihm unerträglich: „Ich möchte ab und zu hier stehen können und in Gedanken die Mauern wieder hochziehen, die Decke sich unhörbar schließen sehen, die roten Dachziegel an den Latten aufhängen …“ In „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ hat Heinz Schlaffer die Schubkraft solcher soziokulturellen Ablösungsprozesse für die Literatur hervorgehoben und für die Gattung Roman in einer radikal modernisierten Welt keine Zukunft gesehen. Nach diesem Verständnis stirbt der Roman mit den Resten von Archaik. Ist Bakkers „Oben ist es still“ vielleicht einer der letzten bedeutenden europäischen Romane? Sein außerordentlicher Erfolg weit über die Niederlande hinaus gibt zu denken.

Es ist die Geschichte von Zwillingsbrüdern, von denen einer früh stirbt und der andere widerwillig den Hof übernimmt, ledig bleibt, als alternder Mann das Sterben des uralten Vaters beschleunigt und nach dessen Tod die Landwirtschaft aufgibt. Eine Perspektive für sich sieht er nicht mehr, sein letzter Satz wie der des Romans lautet: „Ich bin allein.“

Bakker ist ein vorzüglicher Kleinmaler. Ob Tiere, Jahreszeiten, Interieurs oder Kinder – da findet man stets in wenigen einfachen Worten Tiefblickendes, Originelles, sehr Plastisches. Der Rezensent hat das erste Drittel des Romans aufgrund dieser Qualitäten ausgesprochen gern gelesen. Nur allmählich wurden ihm die Mängel des Romans bewusst. Die in die fortlaufend erzählte gegenwärtige Handlung (November 2002 – Juni 2003) eingeblendete Vorgeschichte aus den 1960er Jahren ist noch durchaus überzeugend, dabei auch wirklich bewegend. Das, was fünfunddreißig Jahre später die Handlung vorantreiben und dramatisch zuspitzen soll, lässt Glaubwürdigkeit oft vermissen und orientiert sich zugleich in Details allzu sehr an Erfolgsrezepten gängiger Trivialliteratur. Gehen wir ins Einzelne …

Helmer van Wonderen hat mit neunzehn ein Sprach- und Literaturstudium begonnen. Nach dem Tod des Bruders 1967 bricht er es auf Befehl des Vaters ab und ist jahrzehntelang nur noch dessen Knecht. Er liest keine Bücher mehr, reist nicht, geht keine persönlichen Bindungen ein. Der Hof liegt nur wenig nördlich von Amsterdam, man kann von seiner Umgebung die Türme der Stadt sehen, die er nie mehr besucht. Wie glaubwürdig ist das, gerade in einer Zeit von Jugendrevolte und unruhigem Aufbruch? Er behauptet vergeblich: „Mein halbes Leben habe ich an nichts gedacht …“ – ich nehme ihm das nicht ab. Er untersucht mir dafür zu viel und formuliert zu differenziert. Er hat seit dem Studium angeblich kein Gedicht mehr gelesen, hantiert aber noch mit den Floskeln eines Uni-Dozenten aus dem Gedächtnis. Im Übrigen scheint er homosexuell zu sein, aber wir erfahren darüber so gut wie nichts. Diese Romanfigur ist ein Mann ohne Unterleib und insofern, da keinen Anstoß erregend, für das breite Publikum erst erträglich.

Frauengestalten liegen Bakker weniger. Helmers tote Mutter ist fast nur Fotografie auf dem Kaminsims und kommt gerade als solche oft ins Spiel. Die junge Ada wird ausschließlich als besorgte Nachbarin auf Besuch gezeichnet, nie in ihrer eigenen Welt. Riet ist die frühere Verlobte von Helmers Bruder Henk, sie hat bei einem Autounfall dessen Tod verschuldet und sich dann nach Belgien verheiratet. Als Witwe soll sie trotz dreier Kinder nach dreieinhalb Jahrzehnten den Wunsch verspüren, an die Vergangenheit anzuknüpfen und eine Verbindung mit dem überlebenden Bruder einzugehen? Das ist so überzeugend wie aus einer deutschen Vorabendfernsehserie entsprungen. (Riets problematischer Sohn Henk – er verbringt einige Monate auf dem Hof - ist dem Autor besser gelungen.) Klamaukhaft à la Ohnsorg wird es, wenn Helmer seinen Vater bei Riets Besuch für schon tot erklärt und der Alte in seinem Zimmer sich nicht mucksen darf.

In dieser Geschichte gibt es auffallend viele Zufälle, noch so ein Charakteristikum. Ein unbekannter Bootstourist findet den Hof wie aus der Zeit gefallen und assoziiert ihn ausgerechnet mit dem Schicksalsjahr 1967. Bei Riets und Helmers Besuch an Henks Grab muss sich natürlich etwas dazu Passendes ereignen: Einer von zwei Erpeln wird totgefahren. Ada und Helmer richten zufällig zur selben Zeit die Ferngläser von ihren Höfen aus aufeinander, nur dass Ada nach ihren Kindern Ausschau halten kann, Helmer aber - zufällig ist es sein erstes Mal - dafür gar keine Motivation hat. In der langen, wenig ereignisreichen erzählten Gegenwart fallen zwei Unglücke zeitlich fast ineinander: Eine Krähe hackt dem jüngeren Henk in den Kopf und am Tag darauf ertrinkt Helmer beinahe, wird aber von Henk gerettet. Man versteht: Inversion der Urkatastrophe von 1967. Und überhaupt die Krähe, sie wird auf jeder zweiten oder dritten Seite als unheildräuender Vogel strapaziert … Der Gipfel der Zufälligkeiten wird erreicht, als Jaap, früher Knecht bei den van Wonderens, vor der Ruine seiner alten Unterkunft steht. Er wurde vor fünfunddreißig Jahren entlassen und kommt erstmals zurück, während die Leiche von Helmers Vater im Haus noch aufgebahrt ist. Von dessen Tod erfährt er jetzt zufällig erst durch Helmer, der ihn auch nur zufällig gesehen hat. Genug, möchte man sagen, aber Bakker klebt als Romanschluss noch eine altbacken-süßliche Männerfreundschaft mit Jaap dran. Helmer macht mit ihm Urlaub in Dänemark und da wirken die zwei wie eine trivialisierte Version von Risach und Mathilde in Stifters „Der Nachsommer“.

Bakkers Roman wurde seinerzeit von eingeführten holländischen Verlagen zurückgewiesen. Für die Verlagsneugründung Uitgeverij Cossee BV hat sich die literarische Spekulation auf den Massengeschmack dann gelohnt. Aber ist das nun wirklich eine Spätblüte europäischer Romankunst? Man vergleiche einmal, wo die Verfilmung des Romans durch Nanouk Leopold von der Vorlage abweicht. Frau Leopold vermeidet all das Triviale und Unwahrscheinliche und ihr gelingt damit ein respektables Kunstwerk. Dazu verlegt sie die Handlung aus der Amsterdamer Nähe in die tiefe Provinz und lässt Riet, bis auf einen kurzen Anruf bei ihr, ganz weg, schafft neue Nebenfiguren. Und der jüngere Henk darf bei ihr sogar tun, was ihm Bakker im Roman verwehrt: sein erotisches Bedürfnis durch Berührung verdeutlichen. Apropos Henk: Suhrkamp macht für die deutsche Ausgabe unter anderem mit diesem seltsamen Satz auf der Buchrückseite Reklame: „Ihr pubertierender Sohn Henk soll bei Helmer das Arbeiten lernen ...“ Pubertieren noch mit achtzehn? Vielleicht gab’s das ja früher mal. Dieser Henk ist, anders als der europäische Roman heute, gerade mitten in der Adoleszenz.

(Zitate nach der Übersetzung von Andreas Ecke)

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