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Literaturforum: Sag nicht, wer du bist - Film von Xavier Dolan


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Forum > Aesthetik > Sag nicht, wer du bist - Film von Xavier Dolan
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 Thema: Sag nicht, wer du bist - Film von Xavier Dolan
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 28.12.2016 um 17:22 Uhr

Der 2013 herausgekommene Psychothriller heißt im Original „Tom à la ferme“, englisch entsprechend „Tom at the Farm“. Der abweichende deutsche Titel scheint mir klug gewählt, er trifft den Kern - das Problem der Identität ist in diesem Film zentral. Das gilt für alle vier Hauptfiguren. Sie wollen oder sollen sich nicht als das offenbaren, was sie sind, und – noch prekärer – sie dürfen sich nicht einmal selbst danach befragen, sonst riskieren sie sehr viel: zu entgleisen.

Der Mittzwanziger Tom aus Montreal (Xavier Dolan) hat seinen Lover Guillaume plötzlich verloren, vermutlich durch Selbstmord. Schon dies bleibt unaufgeklärt. Tom erscheint kurz vor der Beerdigung unangemeldet bei der Familie des Toten auf dem Land. Mit der verwitweten Mutter (Lise Roy) hat er gerechnet, nicht jedoch mit Francis (Pierre-Yves Cardinal), der den Bauernhof allein bewirtschaftet. Guillaume hatte ihm die Existenz des älteren Bruders unterschlagen. Tom seinerseits wird von Francis gezwungen, der Mutter Guillaumes Homosexualität zu verschweigen. Stattdessen hat er Details über dessen angebliche Freundin Sarah zu erzählen, d.h. zu erfinden. Mehrfach schiebt er Sarah auch eigene Erinnerungen an den Toten unter. Tom, sonst in der Werbebranche tätig, soll dann unbefristet auf dem Hof bleiben und mitarbeiten. Er gerät immer stärker in den Bann des sowohl anziehenden wie gewalttätigen Mannes. Wiederholte Fluchtversuche scheitern. Tom veranlasst Sarah (Évelyne Brochu), von Montreal herzukommen, um die Legende abzusichern. Damit verschärft sich die Krise, in deren Fortsetzung Tom die Selbstbefreiung gelingt.

Tom hat im Verlauf der Handlung Verstörendes erfahren, auch über sich selbst. Er arrangiert sich lustvoll mit der eigenen Unterwerfung. Kurzzeitig tritt Sarah gegenüber Francis überraschend in Toms Fußstapfen, konkurriert also mit Tom. Außerdem will sie Sex mit Guillaume gehabt haben. Das Bild von Agathe, der Mutter, verwandelt sich von dem einer abgeklärten Greisin zu dem einer längst tief Verzweifelten, die extremer Ausbrüche fähig ist. Alle überstrahlt jedoch mit seinem dämonischen Glanz Francis. Er ist attraktiv, aggressiv, gefährlich, zuweilen sympathisch, manchmal hilfsbedürftig. Seine starke Homophobie und das Bemühen, die geliebte Mutter zu täuschen, sind verdächtig. Will er sich selbst tarnen? Er wird seinerseits von Tom angezogen, später teilen sie zumindest die Lagerstatt. Aber Sarah scheint ihn ebenfalls zu verlocken. Ist Francis bisexuell? Oder ist Sex bloß Mittel in einem Spiel, in dem es nur um Macht und Demütigung geht und bei dem das Geschlecht der zu Unterwerfenden nebensächlich ist?

Vom Schluss her kann man sich dem Verständnis nähern. Tom flieht, Francis verfolgt ihn, um ihn zurückzuholen. Dabei ist Vollmond und als Tom wirklich entwischt ist, vernimmt man etwas, das für Wolfsgeheul gehalten werden kann. Sollte Dolan tatsächlich auf den alten Werwolf-Mythos rekurrieren? Francis ist gern nachts unterwegs und sein leicht verwilderter Vollbart vermittelt auch am Tag etwas von Wolfsanmutung. Hat man diesen Zipfel einmal in der Hand, mehren sich die Verdächte: Was ist mit der Kuh geschehen, deren Kadaver Francis am Tag nach Toms Eintreffen mit dem Traktor wegschleift? Woran ist das Kalb gestorben, das Tom einige Tage später vorfindet? Und ein neugeborenes Kalb bekommt von Francis gleich den seltsamen Namen „bitch“, wobei er sich unverblümt auf dessen Hinterfront bezieht. (Tom wird nachher geschmeichelt zu Sarah sagen, das sei ihm selbst zu Ehren geschehen.) Ist Francis auch noch Sodomit, also zoophil?

Man muss den Wolf nicht wörtlich nehmen, es ist wohl symbolisch gemeint. Francis ist als menschliches Wesen ein Mann mit pansexuellem Zerfleischungs- und Vernichtungsdrang. Selten wurde das Abgrundböse so anziehend verkörpert wie in dieser Figur, zumal sie eben nicht nur böse ist. Dass eine solche Sicht auf den Film einseitig bleiben muss, versteht sich. Der soziale Hintergrund ist einer eigenen Untersuchung wert. Dass der Streifen auch ästhetisch meisterhaft ist, ist schon oft festgestellt und im Einzelnen erörtert worden. In Venedig hat er 2013 den Preis der Filmkritik verdientermaßen bekommen.

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