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Literaturforum: Nikolai Leskow lesen


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Forum > Literaturgeschichte & -theorie > Nikolai Leskow lesen
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 Thema: Nikolai Leskow lesen
ArnoAbendschoen
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 28.06.2021 um 14:30 Uhr

Nikolai Leskow (1831 – 1895) gehörte seinerzeit zu den meistgelesenen Autoren Russlands. Seine Werke - Romane und vor allem Erzählungen - wurden auch ins Deutsche übersetzt, fanden bei uns jedoch bei weitem nicht die Resonanz derjenigen Tolstois oder Dostojewskis. Bücher von Leskow zu lesen, kann noch immer bereichernd sein. Die Mannigfaltigkeit seiner Stoffe und Gestalten ist ebenso beeindruckend wie seine geistige Physiognomie. Kein anderer großer Autor hat das Russland des 19. Jahrhunderts so detailliert in seinen vielen Facetten beschrieben. Dabei verarbeitete er eine unüberschaubare Fülle von Einblicken, die er selbst gewonnen hatte. Er war im zentralrussischen Schwarzerdegebiet aufgewachsen in einer Familie zwischen Bauern- und Priestertum, niederem Adel, Bürgertum und Beamtenschaft. Seine jungen Mannesjahre hatte er als subalterner Beamter in Kiew verbracht und war einige Jahre für eine englische Handelsfirma durch buchstäblich jeden Winkel des Zarenreichs gereist. Mit dreißig zog er nach Petersburg, ernährte sich mühsam als freier Schriftsteller, kam später längere Zeit in Ministerien unter, ehe er zu Zeiten schärfster Reaktion aus politischen Gründen entlassen wurde. Eine Gesamtausgabe seiner Werke stabilisierte zuletzt seine ökonomische Lage. Sein Familienleben war wenig glücklich und voller Unruhe: die erste Ehe bald gescheitert, die Gattin nervenkrank, eine zweite Verbindung hielt länger, doch nicht bis zum Lebensende; mehrfache Vaterschaft.

Leskows Stellung in der Öffentlichkeit war die klassische zwischen den Stühlen, denjenigen der Macht und einer machtvollen Opposition. Er war kritisch gegenüber der weltlichen wie kirchlichen Obrigkeit, den unhaltbar gewordenen sozialen und kulturellen Zuständen, und ebenso empfindlich reagierte er auf abgehoben weltfremde liberale Einstellungen und Moden und erst recht auf anarchistische Gewalt und sich früh herausstellende Entartung sozialistischer Ideale. Ihn selbst kann man als gemäßigt liberalen Reformanhänger bezeichnen, doch er war in seinen oft karikierenden Darstellungen nie maßvoll. Er war verhasst bei der Linken und als Stütze des autokratischen Systems unbrauchbar. Er veröffentlichte abwechselnd in liberalen wie in konservativen Blättern und Verlagen. Sein Fundament war ein humanitäres Christentum, darin stand er Tolstoi nahe, ohne dessen Übersteigerungen mitzuvollziehen; beide schätzten sich gegenseitig und die Werke des anderen sehr. (Später trat Gorki entschieden für Leskow ein.)

Leskow war, allein schon aus materiellen Gründen, ein Vielschreiber und das ging bei all seinem Talent nicht selten auf Kosten literarischer Qualität. Sie bedeutete ihm, wie er bekundete, wenig im Vergleich zu den Anliegen, denen er mit seinen Werken dienen wollte. Für eine L’art-pour-l’art-Literatur fehlte ihm jedes Verständnis. Ein anspruchsvollerer Leser von heute kann auf einzelne Texte von Leskow gegensätzlich reagieren, abwechselnd begeistert und ernüchtert, befremdet. Der im Insel-Verlag als Taschenbuch herausgekommene Sammelband „Der Weg aus dem Dunkel“ (Lizenzgeber: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, Copyright 1952) stürzt ihn ein solches Wechselbad.

„Die Lady Macbeth des Mzensker Landkreises“ von 1865 eröffnet als lakonisch großartiges Glanzstück den Reigen, die Darstellung einer russischen Madame Bovary, doch krasser, brutaler als bei Flaubert und dennoch ebenso formvollendet. An Flauberts christliche oder antike Stoffe erinnert der späte Text „Der Gaukler Pamphalon“ (1887), mit dem der Band wenig glücklich schließt. Diese Erzählung in sentimentalem Legendenstil und zugleich antikisierende Kolportageliteratur regiert ein blässlicher Historismus, als ob ein talentloser Schüler von Makart „Salammbô“ zu illustrieren versucht hätte. Dazwischen finden sich fünf weitere Erzählungen von unterschiedlicher Qualität. Gemeinsam ist ihnen, dass Leskow hier in realistischer Erzählkunst seine Idealvorstellung von „Gerechten“ realisiert, am besten in „Das Tier“ (1883) und „Das Schreckgespenst“ (1885). Diese beiden Texte sind ebenso genaue soziale Studien des agrarischen Russland damals wie Darstellung seelischer Entwicklungen der Protagonisten hin zu einer humaneren und d.h. für Leskow auch gottgefälligeren Existenz.

Zwei Aspekte fehlen noch in diesem Abriss. Leskows Sprache, vor allem die seiner Gestalten, orientiert sich nicht an gehobener Literatur, sondern an den zahlreichen gesprochenen Idiomen seiner Zeit. Sie ist daher nicht leicht zu übertragen, vermittelt auch bei relativem Gelingen nur eine Ahnung vom Reichtum seines Ausdrucksvermögens. Anders steht es mit dem Atmosphärischen, das jene untergegangene Welt noch immer heraufbeschwören kann. Zu ihm trägt nicht nur Naturschilderung bei, sondern ebenso die Darstellung von Sitten und Alltagsgebräuchen, von Ideen in den Köpfen der Menschen, ja gerade auch von massivem, unausrottbar scheinendem Aberglauben. Das Dunkel war noch sehr dicht.

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