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Zwischen den Jahren
Autor: Dieter Hellfeuer · Rubrik:
Erzählungen

Damals, zwischen den Jahren, stand ich schon einmal hier, lehnte ich schon einmal an diesem Pfeiler. Auch damals hatte sich Rauhreif auf die Schwellen gelegt, und aus den Eingeweiden der Waggons war Dampf entwichen. Und auch damals war über allem diese Stille gewesen, diese völlige Lautlosigkeit des Feiertags, die nur vom Läuten der Kirchenglocken ummantelt wurde.
Und wie damals höre ich das Schürfen meines Absatzes, rieche ich das Bittere meines Atems, und wie damals weiß ich nicht, ob es die Kälte ist, die mich zittern läßt.
Damals konnte ich von hier mein Zuhause sehen. Das geht nicht mehr, schon lange geht das nicht mehr, selbst wenn es diese Mauern nicht gäbe, würde ich es nicht mehr finden, mein Zuhause. Zu vieles hat sich geändert in all den Jahren, Jahre, die eine Hälfte meines Lebens ausmachen. Aber jetzt, inmitten dieser Stille, scheint es mir nur ein Traum gewesen zu sein, dieses halbe Leben, . scheint es mir, die Mauern vergessen zu können.
Und ich schaue die Gleise entlang, diese unendliche, spiegelnde Gerade, die in den Horizont mündet, und ich frage mich, welche Richtung es sein mag, dort am Horizont, und endlich fällt mir ein, dass es nach Osten ist, wohin ich blicke.
Es war ein Tag wie dieser, als ich schon einmal an diesem Pfeiler lehnte, als ich immer wieder nach Osten blickte, als ich in der Lautlosigkeit des Feiertags das Aufglühen meiner Zigarette zu hören meinte. Wie langsam die Minuten verronnen waren, damals, wie unendlich langsam. All das, was Begehren ist, schien sie erlahmen zu lassen, all das, was Jugend ist, schien sie erstarren zu lassen. Wie ungeduldig ich gewesen war, damals. Und um wieviel ungeduldiger, als ich hier an diesem Pfeiler lehnte.
Und wieder fühle ich all das, was Ungeduld, was Begehren ist, als wären diese Gefühle eben erst geboren, und wieder meine ich, mein halbes Leben sei nur ein Traum. Und wieder blicke ich die Gleise entlang, presse ich das Kinn in den Schal, rieche ich das Bittere meines Atems, zerdrückt mein Absatz die Glut und mit ihr die Minuten, die längst vergangen sind.
Ein verschneiter Abend. Hinter dem Horizont eine Stadt. So oft schon hatte ich die Stationen gezählt bis zu dieser Stadt, so oft. Alles schien bekannt. Aber dann, als ich die Stadt erreichte, als ich die Kälte spürte, die Kälte, die erst meinen, dann unser beider Atem sichtbar machte, als wir dann durch die vom Feiertag geschmückten Straßen gingen und unsere Schultern wie zufällig sich berührten, unsere Hände wie zufällig sich berührten, da spürte ich die Kälte nicht mehr.
Und wieder blicke ich nach Osten. Und jetzt meine ich die Stadt zu sehen, die Lichter, die Straßen, und plötzlich meine ich die Wärme ihres Atems zu fühlen, diese Wärme, die meine Wange benetzt, sie streichelt, liebkost.
Wie wir also zusammensaßen, damals, um uns die Stimmen so vieler. Als wir dann zusammensaßen und endlich allein waren. Als ich dann ihre Lippen berührte, die dann meine Lippen berührten. Als dann das Ernste in ihren Augen zu einem Lächeln wurde. Dieses Lächeln. Diese Augen.
Alles wird gut, dachte ich damals. Alles wird gut.
Und ich wende meinen Blick vom Horizont, und ich presse mein Kinn in den Schal, und ich rieche das Bittere meines Atems, und ich lächele, ja ich lächele, denn es scheint wirklich nur ein Traum gewesen zu sein, dieses halbe Leben.
Und jetzt, endlich, höre ich das Kratzen des Lautsprechers, und plötzlich erschrecke ich, ich erschrecke, denn das Krächzen ist mir vertraut, und tatsächlich, auch die Worte sind mir vertraut, und ich trete zurück, lehne nicht mehr an diesem Pfeiler, trete hinter ihn, wie damals, und ich weiß, jetzt sind sie verronnen, die Minuten, und ich weiß, dass mein Zittern nicht von der Kälte kommt, denn auch damals spürte ich die Kälte nicht mehr.
Und wie damals wird die Stille, diese völlige Lautlosigkeit des Feiertags von einem Beben erfüllt, und wie damals kreischen die Räder unter dem stählernen Druck der Bremsen, entweicht die Wärme aus den Eingeweiden der Waggons, und wie damals klopft mein Herz bis zum Hals, als sich die Türen öffnen.
Und wie damals springen meine Augen von einem Abteil zum anderen. Und wie damals verengen sie sich bei jedem Schatten, jeder Statur, die ihre sein könnte. Und wie damals erschrecke ich, als das Krächzen wieder ertönt, als es zu Worten wird. Worte die krächzen, einfach so krächzen, dass alles nur ein Traum war, damals. Nur ein Traum.
Ein letztes Mal bewegt sich mein Absatz, erstickt die Glut, erstickt das, was längst erloschen war. Ein letztes Mal schaue ich die Gerade entlang, diese spiegelnde Gerade, die nach Osten weist. Ein letztes Mal rieche ich das Bittere meines Atems, berühre ich diesen Pfeiler, an den ich mich gelehnt habe.
Rauhreif liegt auf den Schwellen, über den Mauern, über allem. Die Glocken läuten nicht mehr. Die Lautlosigkeit, die sie behütet haben, ist vergangen. Ich steige ein in den Zug, ich steige ein, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Die Zeit damals zwischen den Jahren ist vorbei.


Einstell-Datum: 2005-08-06

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (1 Stimme)

 

Kommentare


Das ist LeilahLilienruh
Kommentar # 1: Überzeugend!
Autor: LeilahLilienruh, 17.01.2006 um 07:28 Uhr


Lieber Kollege,
Ihre Schreibe gefällt mir ausgesprochen gut, was ich nicht allzu häufig behaupten möchte. Konnte Ihre hier eingestellten Arbeiten bisher leider nur quer lesen, aber die Professionalität sticht ins Auge.
Schöne Sachen!

Leilah Lilienruh



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