I. DIE REISE NACH BERLIN
Ich fahre nach Berlin. Jahrelang ist davon die Rede gewesen, jetzt fahre ich wirklich – nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien. So steht es bei Musil, ist aber nur ironisch gemeint. Es ist Clarisse in den Mund gelegt, die statt nach Berlin in den Wahnsinn unterwegs ist.
Ich muss die ganze Strecke stehen, denn im Zug ist kein Sitzplatz mehr frei. Dabei habe ich eine Platzkarte, gewöhnlich bin ich vorsorgend. Doch die Bahn hat statt des Normalzuges, für den ich eine Reservierung besitze, einen Ersatzzug eingesetzt. Ich muss das nicht verstehen …
Von denen, die stehen müssen, bin ich noch am besten dran. Ich stehe in einer geräumigen Nische, früher einmal mit Telefon ausgestattet, es ist inzwischen abmontiert. An der Außenwand lädt mich ein beinahe üppiges Polster zum Anlehnen ein. So hingegossen könnte ich mir wie ein neuer Heiliger Sebastian vorkommen – wenn ich etwas jünger wäre. Unangenehmer Gedanke …
Ich lese lieber im "Kin Ping Meh" weiter, das ich jetzt meistens dabei habe. Der junge Tschen treibt es zur gleichen Zeit mit Goldlotos und Lenzpflaume? Hm, pikant. Und Mondfrau lärmt im Palast der Abend- und Morgenröte …
In meiner Nische sehe ich nichts von der vorbeifliegenden Mark und bin überrascht, dass wir schon in Spandau halten. Die weitere Stadt schiebt sich dann ebenso unsichtbar draußen vorüber. Ich denke vierzig Jahre zurück, an meine erste Reise hierher. Vor der Landung in Tempelhof sind wir über die Neuköllner Mietskasernen geflogen und dann, schon sehr tief, über die Friedhöfe neben dem Flughafen. Fensterkreuze und Grabkreuze - ist das nicht schon ein Sinnbild für Leben und Tod in der Großstadt gewesen? Wenige Wochen später bin ich spontan nach Berlin umgezogen. Unwiederholbar. Vierzig Jahre sind eine lange und vierzig Jahre sind eine kurze Zeit. Banal, aber wahr.
Heute sehe ich überhaupt nichts, schon gar nicht die mir von früher vertrauten Orte in der Stadt. Ich bin sechsundzwanzig Jahre nicht mehr hier gewesen und würde mich gern erinnern lassen. Vielleicht würde mir das daheim, fern von Berlin, besser gelingen? Ist auch diese Einfahrt wieder ein Sinnbild? Damals bin ich gewissermaßen aus dem Himmel meiner Ahnungslosigkeit gefallen, heute steige ich vielleicht aus der Tiefe meines begrabenen Vorlebens zur Oberwelt empor.
Jetzt fährt der Zug ins Dunkle, in den neuen Tunnel hinein. Er hält auf dem unterirdischen Bahnsteig. Berlin Hauptbahnhof – ich steige aus, bereit, eine neue Stadt kennenzulernen.
II. BERLIN – DREHBÜHNE DES LEBENS
Am zweiten Tag in Berlin rief ich ihn an, meinen ältesten Freund überhaupt. Wir hatten uns länger als zwanzig Jahre nicht gesehen und ich schlug ihm vor, uns vor dem Eingang des KaDeWe zu treffen.
„Damit du mich erkennst: Ich habe einen schwarzen Rucksack und in der rechten Hand ein kleines rotes Buch.“ – „Und ich habe jetzt einen Irokesen-Haarschnitt“, sagte er. Ich unterdrückte ein Erstaunen.
Dann stieg er aus dem 19er Bus, der inzwischen geadelt war und nun M 19 hieß. Ich erkannte ihn, den Freund von früher, gleich wieder und begann auch die Bedeutung der Frisur zu erahnen. Wir fuhren im Kaufhaus nach oben, wo es beste heiße Schokolade zu trinken gebe, wie er sagte. Ich nahm trotzdem einen Café crème. Unterwegs kamen wir an den Stätten zweier Episödchen vorbei, die ich mal in „Fischverkäufer wird Geheimagent“ beschrieben habe. Gott, war das lange her … Und das ist eine Phrase.
Nachher machte er eine Führung mit mir. Alle diese Straßen und Plätze in Schöneberg kannte ich von früher, ich hatte die meiste Zeit in Berlin in der Nähe gewohnt. Auch ich war hier in vielen Nächten unterwegs gewesen. Er führte mich rasch zu immer neuen Geschäften, Bars, Cafés. Wir sahen meistens nur kurz hinein und an vielem gingen wir bloß draußen vorbei. Nur in zwei Buchhandlungen und in einem Café verweilten wir länger. Mir kamen diese Stunden mit ihm wie ein Akt der Desensibilisierung vor. Es war ja so: Ich hatte dieser Welt vor langer Zeit schon den Rücken gekehrt und mich seitdem je länger, je mehr vor einem erneuten Blick in sie hinein ein wenig gefürchtet. Würde es mich noch beunruhigen?
Die Szene war breiter und vielfältiger geworden. Ich prüfte mich: Es war kein Neid, was ich empfand – ich gönnte es den Jüngeren von heute. Ich freute mich für sie und staunte über ihre Möglichkeiten, über die Ausstattung der Kneipen, die bunte Warenwelt der Läden. Wir gingen durch ein Geschäft, das Uniformen fast jeder Art anbot, darunter auch echte Polizeiuniformen. Wir lachten über das darüber angebrachte Schild: Verkauf zulässig nur an Polizisten und Schauspieler!
Er hatte zum Schluss noch eine Überraschung für mich. Wir standen vor dem Eingang einer früheren Disco, meiner allerersten Stammkneipe. Damals war ich blutjung gewesen und hatte klingeln müssen und sie hatten mich zuerst nicht hineinlassen wollen … Jetzt stand die Tür schon am frühen Abend für jeden weit offen. Im Übrigen schien alles unverändert. Wir bogen um die Ecke und ich hatte den Tresen vor mir. Auf einmal griff meine Hand nach meiner Herzgegend. Die Brieftasche! Hier war sie mir damals gestohlen worden, dann hatte ich sie per Post geplündert zurückerhalten. Meine alte Brieftasche und ich, wir trieben uns noch immer herum, wir waren jetzt an diesen Ort zurückgekehrt …
Die Szene verwandelte sich wie in jenen Träumen, in denen die Orte unserer Erinnerungen sich überlagern, ineinander fließen. Der Tresen erschien mir plötzlich verkürzt und wo die Tanzfläche gewesen war, begannen jetzt dunkle Höhlen. Mein Freund zog mich ein Stück hinein. Unheimlich, es war unheimlich. Nicht dass mir dunkle Räume wie diese Angst machen konnten – ich hatte sie erlebt und hinter mir gelassen. Unheimlich war vielmehr dieses Zusammenziehen aufeinander folgender Abschnitte des Lebens an einem einzigen Ort. Die Schauplätze unserer Geschichte verwandeln sich also nicht nur, sie haben ihr Eigenleben und folgen selbst verspätet unseren Vorlieben? Wieder kam mir das Wort von Hans Henny Jahnn in den Sinn: Wir sind nur die Schauplätze von Ereignissen. Und die Schauplätze verlagern sich eben, autonom sind allein die Ereignisse.
Ich ging schnell auf die Straße. Der Barmann rief uns etwas hinterher, ironisch bedankte er sich für unseren kurzen Besuch.
III. BERLIN – DA HAB ICH MAL GEWOHNT …
Nach Berlin habe ich mich mit neunzehn selbst verpflanzt. Erst dort bin ich geworden, was ich seither mehr oder weniger geblieben bin. Ich war jetzt neugierig auf die Häuser, in denen ich seinerzeit gelebt hatte. Zweierlei Vergleiche waren zu ziehen: die Gegenwart der Vergangenheit gegenüberzustellen und die Erinnerung an die Orte den Orten selbst.
Ich habe zum Beispiel nicht mehr gewusst, wie prächtig die neobarocke Hausfassade meiner ersten Unterkunft an der Uhlandstraße aussieht. Nun, ich hatte da nur ein Zimmer im Hinterhaus, das natürlich Gartenhaus hieß – doch von Garten damals keine Spur. Ich weiß noch, dass ich vom Zimmerfenster gern durch eine Häuserlücke in die Fasanenstraße hineinsah. Dabei fiel mein Blick auf die rote Außenbeleuchtung einer Bar, die ich nie betreten habe. Ich ging jetzt um den Block und fand zwar die Bar nicht mehr, dafür einen schönen Garten in der Baulücke und mitten im Garten das heutige Literaturhaus. In Bulgakows „Der Meister und Margarita“ spielt ein solches Literatenhaus eine große Rolle, dieses hier scheint mir für eine Verfilmung des Stoffs bestens geeignet. Vielleicht haben auch sie eine gute Küche.
Von der Charlottenburger Uhlandstraße bin ich an den Anfang der Keithstraße in Schöneberg gezogen, in ein Institut, das sich Boardinghaus nannte. Die Gebräuche dort muten heute seltsam an: In den winzigen Appartements gab es kein Telefon nach draußen. Wer zu sprechen gewünscht wurde, den rief die Concierge per Hausapparat an den großen in ihrer Loge. Und dann fasste man sich lieber kurz. Die Mieter oder vielmehr Gäste besaßen auch keinen Haustürschlüssel. Wenn ich um vier morgens aus den Bars nach Hause kam, musste ich klingeln. Oft hatte die Concierge selbst die ganze Nacht mit Freunden durchzecht und öffnete mir mit schrillem Lachen. Lachte sie über mich? Das Haus, obwohl erst in den Sechzigern gebaut, steht nicht mehr. Das erfüllt mich jetzt mit Befriedigung.
Bleibe Nr. 3 war ein großes Zimmer im obersten Stock eines Gründerzeithauses nahe am Wilmersdorfer Hohenzollernplatz. Die großen Wohnungen waren fast alle aufgeteilt und jedes Zimmer mit eigener Kochecke ausgestattet, nur die Parterrewohnung komplett an eine große Familie vermietet. Von allen Berliner Vierteln, in denen ich mal untergekommen bin, gefällt mir dieses heute am besten. Es ist eine auf bequeme, unaufdringliche Weise noble Gegend. Am Haus stellte ich außen keine größeren Veränderungen fest. Doch vermute ich stark, dass keiner der damaligen Bewohner noch dort lebt. Und selbst wenn – jene stattlichen jungen Familiensöhne aus dem Erdgeschoss wären heute selbst alte Männer.
Von Wilmersdorf bin ich dann nach Moabit gezogen, in meine erste richtige Wohnung. Allerdings hätte ich da gar nicht wohnen dürfen. Diese verzwickte Geschichte kursiert unter dem Titel „Drei Zimmer, Küche, Bad“ schon länger im Internet. Leider musste ich jetzt hören, dass jener, der mir die Wohnung damals überlassen hat, weder in Berlin noch überhaupt unter den Lebenden mehr weilt. Ich stand vor der frisch renovierten Fassade und wunderte mich: Das Haus war höher, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Gewöhnlich geht es uns doch umgekehrt.
Dann meine letzte Berliner Wohnung, wieder in der Keithstraße, in einem damals neuen Haus, dicht am Landwehrkanal. Vier Jahre habe ich dort gewohnt, fast die Hälfte meiner Zeit in der Stadt. Bis auf eine leichte Aufhellung der Fassade erschien mir alles unverändert – als schrieben wir noch das Jahr 1976. Ich stand vor dem Hauseingang, genau da, wo uns damals, mich und meinen amerikanischen Freund, ein Unbekannter eines Morgens fotografiert hatte und dann rasch weggefahren war. Ich habe nie erfahren, wer es war und was er damit bezweckte. Auch diese Geschichte habe ich beschrieben: „Soldatenliebe“ heißt der Text.
Ich mache mir jetzt klar, dass der Großteil meines Lebens sich schon in Literatur verwandelt hat oder sich noch laufend darin verwandelt. Texte bleiben übrig, wenigstens eine Weile, Texte und Zeichen.
(Geschrieben 2009)
Ich fahre nach Berlin. Jahrelang ist davon die Rede gewesen, jetzt fahre ich wirklich – nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien. So steht es bei Musil, ist aber nur ironisch gemeint. Es ist Clarisse in den Mund gelegt, die statt nach Berlin in den Wahnsinn unterwegs ist.
Ich muss die ganze Strecke stehen, denn im Zug ist kein Sitzplatz mehr frei. Dabei habe ich eine Platzkarte, gewöhnlich bin ich vorsorgend. Doch die Bahn hat statt des Normalzuges, für den ich eine Reservierung besitze, einen Ersatzzug eingesetzt. Ich muss das nicht verstehen …
Von denen, die stehen müssen, bin ich noch am besten dran. Ich stehe in einer geräumigen Nische, früher einmal mit Telefon ausgestattet, es ist inzwischen abmontiert. An der Außenwand lädt mich ein beinahe üppiges Polster zum Anlehnen ein. So hingegossen könnte ich mir wie ein neuer Heiliger Sebastian vorkommen – wenn ich etwas jünger wäre. Unangenehmer Gedanke …
Ich lese lieber im "Kin Ping Meh" weiter, das ich jetzt meistens dabei habe. Der junge Tschen treibt es zur gleichen Zeit mit Goldlotos und Lenzpflaume? Hm, pikant. Und Mondfrau lärmt im Palast der Abend- und Morgenröte …
In meiner Nische sehe ich nichts von der vorbeifliegenden Mark und bin überrascht, dass wir schon in Spandau halten. Die weitere Stadt schiebt sich dann ebenso unsichtbar draußen vorüber. Ich denke vierzig Jahre zurück, an meine erste Reise hierher. Vor der Landung in Tempelhof sind wir über die Neuköllner Mietskasernen geflogen und dann, schon sehr tief, über die Friedhöfe neben dem Flughafen. Fensterkreuze und Grabkreuze - ist das nicht schon ein Sinnbild für Leben und Tod in der Großstadt gewesen? Wenige Wochen später bin ich spontan nach Berlin umgezogen. Unwiederholbar. Vierzig Jahre sind eine lange und vierzig Jahre sind eine kurze Zeit. Banal, aber wahr.
Heute sehe ich überhaupt nichts, schon gar nicht die mir von früher vertrauten Orte in der Stadt. Ich bin sechsundzwanzig Jahre nicht mehr hier gewesen und würde mich gern erinnern lassen. Vielleicht würde mir das daheim, fern von Berlin, besser gelingen? Ist auch diese Einfahrt wieder ein Sinnbild? Damals bin ich gewissermaßen aus dem Himmel meiner Ahnungslosigkeit gefallen, heute steige ich vielleicht aus der Tiefe meines begrabenen Vorlebens zur Oberwelt empor.
Jetzt fährt der Zug ins Dunkle, in den neuen Tunnel hinein. Er hält auf dem unterirdischen Bahnsteig. Berlin Hauptbahnhof – ich steige aus, bereit, eine neue Stadt kennenzulernen.
II. BERLIN – DREHBÜHNE DES LEBENS
Am zweiten Tag in Berlin rief ich ihn an, meinen ältesten Freund überhaupt. Wir hatten uns länger als zwanzig Jahre nicht gesehen und ich schlug ihm vor, uns vor dem Eingang des KaDeWe zu treffen.
„Damit du mich erkennst: Ich habe einen schwarzen Rucksack und in der rechten Hand ein kleines rotes Buch.“ – „Und ich habe jetzt einen Irokesen-Haarschnitt“, sagte er. Ich unterdrückte ein Erstaunen.
Dann stieg er aus dem 19er Bus, der inzwischen geadelt war und nun M 19 hieß. Ich erkannte ihn, den Freund von früher, gleich wieder und begann auch die Bedeutung der Frisur zu erahnen. Wir fuhren im Kaufhaus nach oben, wo es beste heiße Schokolade zu trinken gebe, wie er sagte. Ich nahm trotzdem einen Café crème. Unterwegs kamen wir an den Stätten zweier Episödchen vorbei, die ich mal in „Fischverkäufer wird Geheimagent“ beschrieben habe. Gott, war das lange her … Und das ist eine Phrase.
Nachher machte er eine Führung mit mir. Alle diese Straßen und Plätze in Schöneberg kannte ich von früher, ich hatte die meiste Zeit in Berlin in der Nähe gewohnt. Auch ich war hier in vielen Nächten unterwegs gewesen. Er führte mich rasch zu immer neuen Geschäften, Bars, Cafés. Wir sahen meistens nur kurz hinein und an vielem gingen wir bloß draußen vorbei. Nur in zwei Buchhandlungen und in einem Café verweilten wir länger. Mir kamen diese Stunden mit ihm wie ein Akt der Desensibilisierung vor. Es war ja so: Ich hatte dieser Welt vor langer Zeit schon den Rücken gekehrt und mich seitdem je länger, je mehr vor einem erneuten Blick in sie hinein ein wenig gefürchtet. Würde es mich noch beunruhigen?
Die Szene war breiter und vielfältiger geworden. Ich prüfte mich: Es war kein Neid, was ich empfand – ich gönnte es den Jüngeren von heute. Ich freute mich für sie und staunte über ihre Möglichkeiten, über die Ausstattung der Kneipen, die bunte Warenwelt der Läden. Wir gingen durch ein Geschäft, das Uniformen fast jeder Art anbot, darunter auch echte Polizeiuniformen. Wir lachten über das darüber angebrachte Schild: Verkauf zulässig nur an Polizisten und Schauspieler!
Er hatte zum Schluss noch eine Überraschung für mich. Wir standen vor dem Eingang einer früheren Disco, meiner allerersten Stammkneipe. Damals war ich blutjung gewesen und hatte klingeln müssen und sie hatten mich zuerst nicht hineinlassen wollen … Jetzt stand die Tür schon am frühen Abend für jeden weit offen. Im Übrigen schien alles unverändert. Wir bogen um die Ecke und ich hatte den Tresen vor mir. Auf einmal griff meine Hand nach meiner Herzgegend. Die Brieftasche! Hier war sie mir damals gestohlen worden, dann hatte ich sie per Post geplündert zurückerhalten. Meine alte Brieftasche und ich, wir trieben uns noch immer herum, wir waren jetzt an diesen Ort zurückgekehrt …
Die Szene verwandelte sich wie in jenen Träumen, in denen die Orte unserer Erinnerungen sich überlagern, ineinander fließen. Der Tresen erschien mir plötzlich verkürzt und wo die Tanzfläche gewesen war, begannen jetzt dunkle Höhlen. Mein Freund zog mich ein Stück hinein. Unheimlich, es war unheimlich. Nicht dass mir dunkle Räume wie diese Angst machen konnten – ich hatte sie erlebt und hinter mir gelassen. Unheimlich war vielmehr dieses Zusammenziehen aufeinander folgender Abschnitte des Lebens an einem einzigen Ort. Die Schauplätze unserer Geschichte verwandeln sich also nicht nur, sie haben ihr Eigenleben und folgen selbst verspätet unseren Vorlieben? Wieder kam mir das Wort von Hans Henny Jahnn in den Sinn: Wir sind nur die Schauplätze von Ereignissen. Und die Schauplätze verlagern sich eben, autonom sind allein die Ereignisse.
Ich ging schnell auf die Straße. Der Barmann rief uns etwas hinterher, ironisch bedankte er sich für unseren kurzen Besuch.
III. BERLIN – DA HAB ICH MAL GEWOHNT …
Nach Berlin habe ich mich mit neunzehn selbst verpflanzt. Erst dort bin ich geworden, was ich seither mehr oder weniger geblieben bin. Ich war jetzt neugierig auf die Häuser, in denen ich seinerzeit gelebt hatte. Zweierlei Vergleiche waren zu ziehen: die Gegenwart der Vergangenheit gegenüberzustellen und die Erinnerung an die Orte den Orten selbst.
Ich habe zum Beispiel nicht mehr gewusst, wie prächtig die neobarocke Hausfassade meiner ersten Unterkunft an der Uhlandstraße aussieht. Nun, ich hatte da nur ein Zimmer im Hinterhaus, das natürlich Gartenhaus hieß – doch von Garten damals keine Spur. Ich weiß noch, dass ich vom Zimmerfenster gern durch eine Häuserlücke in die Fasanenstraße hineinsah. Dabei fiel mein Blick auf die rote Außenbeleuchtung einer Bar, die ich nie betreten habe. Ich ging jetzt um den Block und fand zwar die Bar nicht mehr, dafür einen schönen Garten in der Baulücke und mitten im Garten das heutige Literaturhaus. In Bulgakows „Der Meister und Margarita“ spielt ein solches Literatenhaus eine große Rolle, dieses hier scheint mir für eine Verfilmung des Stoffs bestens geeignet. Vielleicht haben auch sie eine gute Küche.
Von der Charlottenburger Uhlandstraße bin ich an den Anfang der Keithstraße in Schöneberg gezogen, in ein Institut, das sich Boardinghaus nannte. Die Gebräuche dort muten heute seltsam an: In den winzigen Appartements gab es kein Telefon nach draußen. Wer zu sprechen gewünscht wurde, den rief die Concierge per Hausapparat an den großen in ihrer Loge. Und dann fasste man sich lieber kurz. Die Mieter oder vielmehr Gäste besaßen auch keinen Haustürschlüssel. Wenn ich um vier morgens aus den Bars nach Hause kam, musste ich klingeln. Oft hatte die Concierge selbst die ganze Nacht mit Freunden durchzecht und öffnete mir mit schrillem Lachen. Lachte sie über mich? Das Haus, obwohl erst in den Sechzigern gebaut, steht nicht mehr. Das erfüllt mich jetzt mit Befriedigung.
Bleibe Nr. 3 war ein großes Zimmer im obersten Stock eines Gründerzeithauses nahe am Wilmersdorfer Hohenzollernplatz. Die großen Wohnungen waren fast alle aufgeteilt und jedes Zimmer mit eigener Kochecke ausgestattet, nur die Parterrewohnung komplett an eine große Familie vermietet. Von allen Berliner Vierteln, in denen ich mal untergekommen bin, gefällt mir dieses heute am besten. Es ist eine auf bequeme, unaufdringliche Weise noble Gegend. Am Haus stellte ich außen keine größeren Veränderungen fest. Doch vermute ich stark, dass keiner der damaligen Bewohner noch dort lebt. Und selbst wenn – jene stattlichen jungen Familiensöhne aus dem Erdgeschoss wären heute selbst alte Männer.
Von Wilmersdorf bin ich dann nach Moabit gezogen, in meine erste richtige Wohnung. Allerdings hätte ich da gar nicht wohnen dürfen. Diese verzwickte Geschichte kursiert unter dem Titel „Drei Zimmer, Küche, Bad“ schon länger im Internet. Leider musste ich jetzt hören, dass jener, der mir die Wohnung damals überlassen hat, weder in Berlin noch überhaupt unter den Lebenden mehr weilt. Ich stand vor der frisch renovierten Fassade und wunderte mich: Das Haus war höher, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Gewöhnlich geht es uns doch umgekehrt.
Dann meine letzte Berliner Wohnung, wieder in der Keithstraße, in einem damals neuen Haus, dicht am Landwehrkanal. Vier Jahre habe ich dort gewohnt, fast die Hälfte meiner Zeit in der Stadt. Bis auf eine leichte Aufhellung der Fassade erschien mir alles unverändert – als schrieben wir noch das Jahr 1976. Ich stand vor dem Hauseingang, genau da, wo uns damals, mich und meinen amerikanischen Freund, ein Unbekannter eines Morgens fotografiert hatte und dann rasch weggefahren war. Ich habe nie erfahren, wer es war und was er damit bezweckte. Auch diese Geschichte habe ich beschrieben: „Soldatenliebe“ heißt der Text.
Ich mache mir jetzt klar, dass der Großteil meines Lebens sich schon in Literatur verwandelt hat oder sich noch laufend darin verwandelt. Texte bleiben übrig, wenigstens eine Weile, Texte und Zeichen.
(Geschrieben 2009)