Veränderung und Stillstand
Von Lara L.
Sofie hockte zusammengesunken am Küchentisch. Ihr Blick fixierte einen Brötchenkrümel auf der Holzplatte. Sie starrte ihn an und sah ihn doch nicht. Sie verlor sich in der Stille der Wohnung. Am liebsten hätte sie geweint.
Ihre Hand griff nach Kaffeetasse und umschloss sie. Das Porzellan war kalt. Der Kaffee war kalt. Sie trank ihn trotzdem.
Die braune Flüssigkeit schwappte über, als sie die Tasse zurück auf den Tisch stellte. Ein Tropfen traf den Krümel. Er sog sich augenblicklich voll. Sofie schloss die Augen.
Alles, was geschehen war, kam ihr unwirklich vor. Und doch rief es in ihr ein Gefühl hervor, das noch nie in ihrem Leben wirklicher gewesen war. Sie hatte es erfolgreich verdrängt. Für Jahre. Jetzt kam es hoch und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube.
Sofie stand auf. Der Stuhl schabte über die Fliesen. Sie trat an die Anrichte und drehte das Radio an. Urplötzlich dröhnte die Stimme des Moderators durch die einsame Wohnung. Sie klang fröhlich und aufgekratzt.
Sofie stellte das Radio wieder ab und sah aus dem Fenster.
Es regnete. Von draußen knallten dicke Tropfen gegen die Scheibe und liefen daran herab. Wie Tränen, dachte Sofie.
Der Tag hatte gut angefangen. Obwohl es geregnet hatte. Annika hatte sie zum Frühstück in ein kleines Café eingeladen. Sofie hatte sich gefreut. In letzter Zeit hatten sie wenig zusammen gemacht.
Doch als Sofie Annika an dem Tisch sitzen sah, mit einer ernsten Miene und schmalen Lippen, da hatte sie schon etwas geahnt. Mit einem unguten Gefühl hatte sie sich zu ihrer Freundin gesetzt.
„Alles klar? Du siehst bedrückt aus.“ Sofie hatte ein Lächeln aufgesetzt.
„Ich muss mit dir reden, Sofie.“ Annikas Stimme war leise und klang gepresst.
„Wollen wir nicht erst etwas bestellen?“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Aha.“ Sofie begann nervös zu werden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie begann, mit ihrer Serviette zu spielen. Annika senkte den Blick und schwieg. Die Kellnerin trat an den Tisch. Sofie bestellte einen Milchkaffee.
„Schieß los“, sagte Sofie. Danach sagte sie nicht mehr fiel. Sie saß nur da und hörte ihrer Freundin zu. Das Café um sie herum begann in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Sie sah nur noch Annika. Annika, die redete. Annika, die einen Keks auf ihrer Untertasse zerkrümelte. Annika, die ihrem Blick auswich.
„Ich weiß, dass wir lange eng befreundet waren“, sagte Annika. „Über Jahre hinweg. Aber in letzter Zeit kommt es mir so vor, dass ich dir nicht mehr so viel zu sagen habe. Diese Verbundenheit ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Vielleicht liegt es daran, dass es mir zu einseitig geworden ist. Es ist nett, mit dir einkaufen zu gehen oder ins Kino. Aber es reicht mir nicht mehr. Es ist mir zu brav. Ich brauche etwas anderes, etwas Neues.
Ich habe diese Gruppe von Leuten kennen gelernt. Nette Leute. Ich bin von Anfang an total gut mit ihnen klar gekommen. Wir gehen abends weg, wir haben Spaß zusammen. Ich fühle mich total wohl. Ich habe mich mit einem Mädchen sehr gut angefreundet. Mit Stina. Und da ist dieser Student. Timo. Ich habe mich in ihn verliebt, Hals über Kopf, und wir sind seit zwei Wochen zusammen.“
„Wieso hast du mir das nicht erzählt?“, fragte Sofie. Es war nur ein Flüstern, ein ungläubiges, hilfloses Flüstern.
„Weil ich nicht das Gefühl hatte, dass du mich verstehen würdest. Unsere Leben gehen auseinander, Sofie. Ich habe mich verändert. Und du bist so geblieben, wie du immer warst. Ich habe jetzt Stina und Timo. Sie sind mir sehr wichtig. Unsere Beziehung ist langsam immer oberflächiger geworden. Hast du das nicht auch gemerkt? Ich will nicht, dass wir uns streiten, dass es eine Kluft zwischen uns gibt. Wir können ab und zu etwas miteinander unternehmen. Ich mag dich, Sofie, ich mag dich wirklich. Aber in meinem Leben ist etwas anderes ins Zentrum gerückt.“
Sofie sah ihre Freundin an. Sie wartete, dass noch etwas kam. Doch Annika schwieg.
„Du wirst unsere Freundschaft also weg? Einfach so?“, fragte Sofie. Ihre Stimme bebte.
„Nein, ich habe doch gesagt, dass..“
Doch Sofie hörte nicht mehr. Sie sprang auf, griff nach ihrer Handtasche und floh aus dem kleinen Café. Kalt traf der Regen ihre Wangen und mischte sich mit heißen Tränen. Ihre Wimperntusche lief ihr über die Wangen. Sie wusste, dass die Leute sie anstarrten, doch es war ihr egal. Sie wollte weinen. Für immer. Nur noch weinen.
Sofie presste ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Vor dem Wohnblock standen große Pfützen auf dem Asphalt. Sie spiegelten den grauen Himmel.
Noch immer konnte sie es nicht glauben. Noch immer lauschte sie aufs Telefon. Sie hoffte, dass Annika anrief. Dass sie sich entschuldigte. Doch nichts geschah.
Langsam zupfte sie vertrocknete Blätter von der Geranie ab, die auf der Fensterbank stand. Sie raschelten in ihrer Hand.
Es tat so schrecklich weh. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Sie fühlte sich wertlos. Sie fühlte sich betrogen.
Ihre Faust schloss sich um die verwelkten Blätter. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht erneut zu weinen.
Es tat so schrecklich weh.
Jahrelang waren sie befreundet gewesen. Jahrelang hatten sie alles zusammengemacht. Und das machte Annika so einfach kaputt? Trat es mit Füßen? Ließ es in der Ecke liegen? War Sofie ihr nie wirklich wichtig gewesen?
Sofie schmiss die Blätter in den Kompost und trat in den Flur. Neben der Garderobe hing ein großer Ganzkörperspiegel. Sofie stellte sich davor. Ihr Spiegelbild starrte sie an. Es hatte rotgeweinte Augen. Die Haare hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und hingen herunter. Die Lippen waren bleich.
Sie sah schrecklich aus.
„Ich habe mich verändert. Und du bist so geblieben, wie du immer warst.“
Sofie trat dichter an den Spiegel und legte die Hand ans Glas.
Annika hatte recht. Sie war noch genauso wie vor ein paar Jahren. Ruhig, verletzlich, unsicher. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch die selbe.
Sie hatte Veränderungen nie geliebt. Noch nie. Sie fühlte sich nur in Abläufen, die sie schon kannte, geborgen.
Deshalb war sie auch nie eine Beziehung mit Jonathan eingegangen. Sie mochte ihn und doch hatte sie es nicht über sich gebracht. Sie hatte Angst, dass er ihre kleine Welt durcheinander brachte. Ihre Wohnung, ihre Bilder, Annika, ihr Studium. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. Das reichte vollkommen. Sie konnte auf Jonathan verzichten.
Annika hatte das nie verstanden. Annika mit ihren tausend Verehrern.
„Magst du ihn nicht?“
„Doch, sogar sehr.“
„Und was ist dein Problem?“
„Ich... ich weiß nicht. Es ist wie Platzangst, wenn ich mir vorstelle, dass er in mein Leben kommt. Und wenn ich ihn einige Zeit nicht sehe, dann vermisse ich ihn. Ich verstehe mich selbst nicht.“
Sofie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und trat ein. Auf dem Tisch hatte sie ihre Bücher ausgebreitet und ihre Skizzen. Auf der Staffelei wartete ein Bild auf seine Vollendung.
Ihre Welt. Ihre kleine Welt.
Aus einem Foto im Regal sah Annika sie lachend an.
Ihre Welt. Sie zerbrach.
Sofie kuschelte sich in einen Sessel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Sie würde ihr Studium beenden. Einen Job suchen. Eine neue Freundin finden. Irgendwann eine Familie gründen.
Doch woher sollte eine Familie kommen, wenn sie vor Beziehungen zurückschreckte?
Ihr entfuhr ein Seufzer. Er verhallte in der Wohnung.
Wenn sie heute sterben würde, wäre sie dann mit ihrem Leben zufrieden? Wäre sie das?
Sie sah aus dem Fenster. Nein, das wäre sie nicht.
Sie ließ den Blick durchs Wohnzimmer sein. Das hier als ihr Leben? Für immer? Wollte sie in zehn Jahren auch in diesem Sessel sitzen? Allein? Als ewige Jungfer, deren Lebensinhalt ihre Arbeit ist?
Nein, das wollte sie nicht.
Sicherheit und Geborgenheit waren gut. Aber nicht so.
Ihr Leben sollte nicht zu Ende sein, bevor es angefangen hatte.
Es lag in ihrer Hand.
Sofie stand auf. „Fürchte nicht die Veränderung sondern den Stillstand“, sagte sie. Und sie fühlte sich besser.
Wieder stand Sofie vor dem Spiegel. Sie hatte sich umgezogen. In der Küche lief das Radio. Vorsichtig tuschte sie ihre Wimpern und puderte ihre Nase. Sie zupfte ihren Rock zurecht und musterte ihr Spiegelbild. Sie sah nicht schlecht aus. Sie sah gut aus.
Sofie lächelte.
Plötzlich fühlte sie sich stark. Plötzlich schien jeder Muskel voller Kraft.
Sie griff nach ihrem Portemonnaie.
Die Haustür fiel hinter ihr zu. Leise summend ging sie den Flur entlang. Herr Hof kam ihr entgegen. Er war mit seinem Hund draußen gewesen. Der Köter tropfte auf die Fliesen und knurrte leise, als Sofie grüßend vorbeiging.
Herr Hof antwortete nicht.
Sofie hielt in der Bewegung inne. Normalerweise wäre sie jetzt einfach weitergegangen. Doch heute war kein normaler Tag. Sie holte tief Luft.
„Herr Hof?“
Widerwillig drehte er sich zu ihr um. „Hm?“
„Sie sind diese Woche an der Reihe, die Treppe zu wischen. Sie haben das schon letztes Mal nicht gemacht. Ich will sie nur noch einmal daran erinnern. Sollten Sie diesmal wieder nicht wischen, muss ich das dem Hausmeister melden.“
Herr Hof schien den Mund zu einer patzigen Bemerkung öffnen zu wollen, doch Sofie fuhr dazwischen.
„Einen schönen Tag noch, Herr Hof“, wünschte sie strahlend und sprang leichtfüßig die Treppen hinab. Hinter ihr fluchte Herr Hof unsittlich vor sich hin. Doch Sofie hörte es nicht. Das war gar nicht so schwierig gewesen.
Mit dem Bus fuhr sie in die Stadt. Die Fußgängerzone schien wie ausgestorben. Im Eingang eines Restaurants lehnte ein Kellner und wartete auf Kunden. Sofie lächelte ihm zu. Er erwiderte das Lächeln erstaunt.
Sofie betrat eine kleine Boutique. Normalerweise
kaufte Sofie so billig wie möglich ein und mied Läden wie diesen. Doch heute war kein normaler Tag.
Es waren keine anderen Kunden im Laden. Ein Schauer von Unsicherheit erfasste sie, doch Sofie schüttelte ihn ab. Sie hob das Kinn ein bisschen höher und begrüßte die Verkäuferin.
Sofie nahm sich Zeit, die Kleiderständer durchzusehen. Sie suchte nicht nach Teilen, die denen ähnelten, die fein säuberlich in ihrem Schrank lagen. Sie suchte Stücke, die anders waren. Neu. Stücke, die sie normalerweise nicht einmal anprobiert hätte.
Sofie verzog sich mit mehrere Oberteilen in bunten Farben, mit Pailletten und tiefen Ausschnitten in die Umkleide. Die Verkäuferin wartete davor und stieß jedes Mal Verzückungsschreie aus, wenn Sofie sich präsentierte. Sofie gefiel es. Und ihr Spiegelbild gefiel ihr auch.
Mit vollen Tüten verließ sie die Boutique und setzte sich in ein Café. An dem Tisch neben ihr löffelte ein junger Mann eine Suppe. Sie lächelte ihm fröhlich zu, während sie Platz nahm.
Er grinste zurück. „Das war ein guter Tag heute, nicht wahr?“, er deutete auf die Tüten.
Sie lachte. „Und er ist noch nicht zu Ende.“
„Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?“, fragte er.
Sie nickte, als wäre es das normalste der Welt. Früher hätte sie ihn nicht einmal angesehen, ihren Kaffee getrunken und vor sich hingeträumt. Früher..
Sie plauderten und lachten. Der junge Mann gab ihr ihren Kaffee aus und bewunderte die Teile, die sie eingekauft hatte. Als er gehen musste, bat er sie nach ihrer Telefonnummer.
Sie zögerte kurz, doch dann gab sie sie ihm. Es konnte ja nicht schaden.
Als sie ihre Wohnung wieder betrat, fühlte sie sich glücklich. Es war später Nachmittag. Und dieser Tag war so neu gewesen. So traurig, so schrecklich, so neu und so fröhlich.
Ihr Kopf brummte.
Sofie räumte ihre Einkäufe in den Schrank, griff sich das Telefon und setzte sich aufs Sofa. Sie überkreuzte die Beine, lehnte sich entspannt zurück und wählte.
Aufregung ließ ihr Herz schneller schlagen. Aber sie hatte heute so viel gemeistert. Wieso dann nicht auch das?
Das Freizeichen dröhnte in ihren Ohren. Sie schloss die Augen und versuchte ihren Atem zu kontrollieren. Langsam atmete sie aus und ein.
„Jonathan Brinck?“
Ihr Herz machte einen Hüpfer. Wärme durchströmte sie.
„Jonathan? Hier ist Sofie.“
„Sofie?“, er klang erstaunt.
„Ja.“
„Ich dachte nicht, dass ich noch mal was von dir höre. Ich dachte, du hättest mich abgeschrieben“, er klang verletzt.
„Es tut mir leid.“ Sie griff ein Kissen und presste es an sich.
„Du hast mich nicht nett behandelt, Sofie. Das weißt du doch hoffentlich. Du hast mir wehgetan.“
„Ich weiß. Ich war dumm; so dumm. Verzeih mir, Jonathan.“
Sie holte tief Luft und versuchte die Enge in ihrer Brust zu bekämpfen. Sie krallte ihre Finger ins Kissen. Sei stark, Sofie. Du kannst das.
„Jonathan?“
„Ja?“
„Ich liebe dich!“
Die Worte kamen ganz leicht über ihre Lippen. Und mit ihnen die Tränen. Sie schloss die Augen und ließ sie laufen. Es tat so gut.
„Sofie?“
„Ja?“
„Weinst du?“
„Ja.“
„Soll ich vorbeikommen?“
Sie lächelte unter Tränen. „Ja, das sollst du. Ich brauche dich.“
„Ich brauche dich auch, Sofie“, sagte er leise.
Von Lara L.
Sofie hockte zusammengesunken am Küchentisch. Ihr Blick fixierte einen Brötchenkrümel auf der Holzplatte. Sie starrte ihn an und sah ihn doch nicht. Sie verlor sich in der Stille der Wohnung. Am liebsten hätte sie geweint.
Ihre Hand griff nach Kaffeetasse und umschloss sie. Das Porzellan war kalt. Der Kaffee war kalt. Sie trank ihn trotzdem.
Die braune Flüssigkeit schwappte über, als sie die Tasse zurück auf den Tisch stellte. Ein Tropfen traf den Krümel. Er sog sich augenblicklich voll. Sofie schloss die Augen.
Alles, was geschehen war, kam ihr unwirklich vor. Und doch rief es in ihr ein Gefühl hervor, das noch nie in ihrem Leben wirklicher gewesen war. Sie hatte es erfolgreich verdrängt. Für Jahre. Jetzt kam es hoch und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube.
Sofie stand auf. Der Stuhl schabte über die Fliesen. Sie trat an die Anrichte und drehte das Radio an. Urplötzlich dröhnte die Stimme des Moderators durch die einsame Wohnung. Sie klang fröhlich und aufgekratzt.
Sofie stellte das Radio wieder ab und sah aus dem Fenster.
Es regnete. Von draußen knallten dicke Tropfen gegen die Scheibe und liefen daran herab. Wie Tränen, dachte Sofie.
Der Tag hatte gut angefangen. Obwohl es geregnet hatte. Annika hatte sie zum Frühstück in ein kleines Café eingeladen. Sofie hatte sich gefreut. In letzter Zeit hatten sie wenig zusammen gemacht.
Doch als Sofie Annika an dem Tisch sitzen sah, mit einer ernsten Miene und schmalen Lippen, da hatte sie schon etwas geahnt. Mit einem unguten Gefühl hatte sie sich zu ihrer Freundin gesetzt.
„Alles klar? Du siehst bedrückt aus.“ Sofie hatte ein Lächeln aufgesetzt.
„Ich muss mit dir reden, Sofie.“ Annikas Stimme war leise und klang gepresst.
„Wollen wir nicht erst etwas bestellen?“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Aha.“ Sofie begann nervös zu werden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie begann, mit ihrer Serviette zu spielen. Annika senkte den Blick und schwieg. Die Kellnerin trat an den Tisch. Sofie bestellte einen Milchkaffee.
„Schieß los“, sagte Sofie. Danach sagte sie nicht mehr fiel. Sie saß nur da und hörte ihrer Freundin zu. Das Café um sie herum begann in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Sie sah nur noch Annika. Annika, die redete. Annika, die einen Keks auf ihrer Untertasse zerkrümelte. Annika, die ihrem Blick auswich.
„Ich weiß, dass wir lange eng befreundet waren“, sagte Annika. „Über Jahre hinweg. Aber in letzter Zeit kommt es mir so vor, dass ich dir nicht mehr so viel zu sagen habe. Diese Verbundenheit ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Vielleicht liegt es daran, dass es mir zu einseitig geworden ist. Es ist nett, mit dir einkaufen zu gehen oder ins Kino. Aber es reicht mir nicht mehr. Es ist mir zu brav. Ich brauche etwas anderes, etwas Neues.
Ich habe diese Gruppe von Leuten kennen gelernt. Nette Leute. Ich bin von Anfang an total gut mit ihnen klar gekommen. Wir gehen abends weg, wir haben Spaß zusammen. Ich fühle mich total wohl. Ich habe mich mit einem Mädchen sehr gut angefreundet. Mit Stina. Und da ist dieser Student. Timo. Ich habe mich in ihn verliebt, Hals über Kopf, und wir sind seit zwei Wochen zusammen.“
„Wieso hast du mir das nicht erzählt?“, fragte Sofie. Es war nur ein Flüstern, ein ungläubiges, hilfloses Flüstern.
„Weil ich nicht das Gefühl hatte, dass du mich verstehen würdest. Unsere Leben gehen auseinander, Sofie. Ich habe mich verändert. Und du bist so geblieben, wie du immer warst. Ich habe jetzt Stina und Timo. Sie sind mir sehr wichtig. Unsere Beziehung ist langsam immer oberflächiger geworden. Hast du das nicht auch gemerkt? Ich will nicht, dass wir uns streiten, dass es eine Kluft zwischen uns gibt. Wir können ab und zu etwas miteinander unternehmen. Ich mag dich, Sofie, ich mag dich wirklich. Aber in meinem Leben ist etwas anderes ins Zentrum gerückt.“
Sofie sah ihre Freundin an. Sie wartete, dass noch etwas kam. Doch Annika schwieg.
„Du wirst unsere Freundschaft also weg? Einfach so?“, fragte Sofie. Ihre Stimme bebte.
„Nein, ich habe doch gesagt, dass..“
Doch Sofie hörte nicht mehr. Sie sprang auf, griff nach ihrer Handtasche und floh aus dem kleinen Café. Kalt traf der Regen ihre Wangen und mischte sich mit heißen Tränen. Ihre Wimperntusche lief ihr über die Wangen. Sie wusste, dass die Leute sie anstarrten, doch es war ihr egal. Sie wollte weinen. Für immer. Nur noch weinen.
Sofie presste ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. Vor dem Wohnblock standen große Pfützen auf dem Asphalt. Sie spiegelten den grauen Himmel.
Noch immer konnte sie es nicht glauben. Noch immer lauschte sie aufs Telefon. Sie hoffte, dass Annika anrief. Dass sie sich entschuldigte. Doch nichts geschah.
Langsam zupfte sie vertrocknete Blätter von der Geranie ab, die auf der Fensterbank stand. Sie raschelten in ihrer Hand.
Es tat so schrecklich weh. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Sie fühlte sich wertlos. Sie fühlte sich betrogen.
Ihre Faust schloss sich um die verwelkten Blätter. Sie biss sich auf die Lippe, um nicht erneut zu weinen.
Es tat so schrecklich weh.
Jahrelang waren sie befreundet gewesen. Jahrelang hatten sie alles zusammengemacht. Und das machte Annika so einfach kaputt? Trat es mit Füßen? Ließ es in der Ecke liegen? War Sofie ihr nie wirklich wichtig gewesen?
Sofie schmiss die Blätter in den Kompost und trat in den Flur. Neben der Garderobe hing ein großer Ganzkörperspiegel. Sofie stellte sich davor. Ihr Spiegelbild starrte sie an. Es hatte rotgeweinte Augen. Die Haare hatten sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und hingen herunter. Die Lippen waren bleich.
Sie sah schrecklich aus.
„Ich habe mich verändert. Und du bist so geblieben, wie du immer warst.“
Sofie trat dichter an den Spiegel und legte die Hand ans Glas.
Annika hatte recht. Sie war noch genauso wie vor ein paar Jahren. Ruhig, verletzlich, unsicher. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch die selbe.
Sie hatte Veränderungen nie geliebt. Noch nie. Sie fühlte sich nur in Abläufen, die sie schon kannte, geborgen.
Deshalb war sie auch nie eine Beziehung mit Jonathan eingegangen. Sie mochte ihn und doch hatte sie es nicht über sich gebracht. Sie hatte Angst, dass er ihre kleine Welt durcheinander brachte. Ihre Wohnung, ihre Bilder, Annika, ihr Studium. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. Das reichte vollkommen. Sie konnte auf Jonathan verzichten.
Annika hatte das nie verstanden. Annika mit ihren tausend Verehrern.
„Magst du ihn nicht?“
„Doch, sogar sehr.“
„Und was ist dein Problem?“
„Ich... ich weiß nicht. Es ist wie Platzangst, wenn ich mir vorstelle, dass er in mein Leben kommt. Und wenn ich ihn einige Zeit nicht sehe, dann vermisse ich ihn. Ich verstehe mich selbst nicht.“
Sofie öffnete die Tür zum Wohnzimmer und trat ein. Auf dem Tisch hatte sie ihre Bücher ausgebreitet und ihre Skizzen. Auf der Staffelei wartete ein Bild auf seine Vollendung.
Ihre Welt. Ihre kleine Welt.
Aus einem Foto im Regal sah Annika sie lachend an.
Ihre Welt. Sie zerbrach.
Sofie kuschelte sich in einen Sessel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Sie würde ihr Studium beenden. Einen Job suchen. Eine neue Freundin finden. Irgendwann eine Familie gründen.
Doch woher sollte eine Familie kommen, wenn sie vor Beziehungen zurückschreckte?
Ihr entfuhr ein Seufzer. Er verhallte in der Wohnung.
Wenn sie heute sterben würde, wäre sie dann mit ihrem Leben zufrieden? Wäre sie das?
Sie sah aus dem Fenster. Nein, das wäre sie nicht.
Sie ließ den Blick durchs Wohnzimmer sein. Das hier als ihr Leben? Für immer? Wollte sie in zehn Jahren auch in diesem Sessel sitzen? Allein? Als ewige Jungfer, deren Lebensinhalt ihre Arbeit ist?
Nein, das wollte sie nicht.
Sicherheit und Geborgenheit waren gut. Aber nicht so.
Ihr Leben sollte nicht zu Ende sein, bevor es angefangen hatte.
Es lag in ihrer Hand.
Sofie stand auf. „Fürchte nicht die Veränderung sondern den Stillstand“, sagte sie. Und sie fühlte sich besser.
Wieder stand Sofie vor dem Spiegel. Sie hatte sich umgezogen. In der Küche lief das Radio. Vorsichtig tuschte sie ihre Wimpern und puderte ihre Nase. Sie zupfte ihren Rock zurecht und musterte ihr Spiegelbild. Sie sah nicht schlecht aus. Sie sah gut aus.
Sofie lächelte.
Plötzlich fühlte sie sich stark. Plötzlich schien jeder Muskel voller Kraft.
Sie griff nach ihrem Portemonnaie.
Die Haustür fiel hinter ihr zu. Leise summend ging sie den Flur entlang. Herr Hof kam ihr entgegen. Er war mit seinem Hund draußen gewesen. Der Köter tropfte auf die Fliesen und knurrte leise, als Sofie grüßend vorbeiging.
Herr Hof antwortete nicht.
Sofie hielt in der Bewegung inne. Normalerweise wäre sie jetzt einfach weitergegangen. Doch heute war kein normaler Tag. Sie holte tief Luft.
„Herr Hof?“
Widerwillig drehte er sich zu ihr um. „Hm?“
„Sie sind diese Woche an der Reihe, die Treppe zu wischen. Sie haben das schon letztes Mal nicht gemacht. Ich will sie nur noch einmal daran erinnern. Sollten Sie diesmal wieder nicht wischen, muss ich das dem Hausmeister melden.“
Herr Hof schien den Mund zu einer patzigen Bemerkung öffnen zu wollen, doch Sofie fuhr dazwischen.
„Einen schönen Tag noch, Herr Hof“, wünschte sie strahlend und sprang leichtfüßig die Treppen hinab. Hinter ihr fluchte Herr Hof unsittlich vor sich hin. Doch Sofie hörte es nicht. Das war gar nicht so schwierig gewesen.
Mit dem Bus fuhr sie in die Stadt. Die Fußgängerzone schien wie ausgestorben. Im Eingang eines Restaurants lehnte ein Kellner und wartete auf Kunden. Sofie lächelte ihm zu. Er erwiderte das Lächeln erstaunt.
Sofie betrat eine kleine Boutique. Normalerweise
kaufte Sofie so billig wie möglich ein und mied Läden wie diesen. Doch heute war kein normaler Tag.
Es waren keine anderen Kunden im Laden. Ein Schauer von Unsicherheit erfasste sie, doch Sofie schüttelte ihn ab. Sie hob das Kinn ein bisschen höher und begrüßte die Verkäuferin.
Sofie nahm sich Zeit, die Kleiderständer durchzusehen. Sie suchte nicht nach Teilen, die denen ähnelten, die fein säuberlich in ihrem Schrank lagen. Sie suchte Stücke, die anders waren. Neu. Stücke, die sie normalerweise nicht einmal anprobiert hätte.
Sofie verzog sich mit mehrere Oberteilen in bunten Farben, mit Pailletten und tiefen Ausschnitten in die Umkleide. Die Verkäuferin wartete davor und stieß jedes Mal Verzückungsschreie aus, wenn Sofie sich präsentierte. Sofie gefiel es. Und ihr Spiegelbild gefiel ihr auch.
Mit vollen Tüten verließ sie die Boutique und setzte sich in ein Café. An dem Tisch neben ihr löffelte ein junger Mann eine Suppe. Sie lächelte ihm fröhlich zu, während sie Platz nahm.
Er grinste zurück. „Das war ein guter Tag heute, nicht wahr?“, er deutete auf die Tüten.
Sie lachte. „Und er ist noch nicht zu Ende.“
„Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?“, fragte er.
Sie nickte, als wäre es das normalste der Welt. Früher hätte sie ihn nicht einmal angesehen, ihren Kaffee getrunken und vor sich hingeträumt. Früher..
Sie plauderten und lachten. Der junge Mann gab ihr ihren Kaffee aus und bewunderte die Teile, die sie eingekauft hatte. Als er gehen musste, bat er sie nach ihrer Telefonnummer.
Sie zögerte kurz, doch dann gab sie sie ihm. Es konnte ja nicht schaden.
Als sie ihre Wohnung wieder betrat, fühlte sie sich glücklich. Es war später Nachmittag. Und dieser Tag war so neu gewesen. So traurig, so schrecklich, so neu und so fröhlich.
Ihr Kopf brummte.
Sofie räumte ihre Einkäufe in den Schrank, griff sich das Telefon und setzte sich aufs Sofa. Sie überkreuzte die Beine, lehnte sich entspannt zurück und wählte.
Aufregung ließ ihr Herz schneller schlagen. Aber sie hatte heute so viel gemeistert. Wieso dann nicht auch das?
Das Freizeichen dröhnte in ihren Ohren. Sie schloss die Augen und versuchte ihren Atem zu kontrollieren. Langsam atmete sie aus und ein.
„Jonathan Brinck?“
Ihr Herz machte einen Hüpfer. Wärme durchströmte sie.
„Jonathan? Hier ist Sofie.“
„Sofie?“, er klang erstaunt.
„Ja.“
„Ich dachte nicht, dass ich noch mal was von dir höre. Ich dachte, du hättest mich abgeschrieben“, er klang verletzt.
„Es tut mir leid.“ Sie griff ein Kissen und presste es an sich.
„Du hast mich nicht nett behandelt, Sofie. Das weißt du doch hoffentlich. Du hast mir wehgetan.“
„Ich weiß. Ich war dumm; so dumm. Verzeih mir, Jonathan.“
Sie holte tief Luft und versuchte die Enge in ihrer Brust zu bekämpfen. Sie krallte ihre Finger ins Kissen. Sei stark, Sofie. Du kannst das.
„Jonathan?“
„Ja?“
„Ich liebe dich!“
Die Worte kamen ganz leicht über ihre Lippen. Und mit ihnen die Tränen. Sie schloss die Augen und ließ sie laufen. Es tat so gut.
„Sofie?“
„Ja?“
„Weinst du?“
„Ja.“
„Soll ich vorbeikommen?“
Sie lächelte unter Tränen. „Ja, das sollst du. Ich brauche dich.“
„Ich brauche dich auch, Sofie“, sagte er leise.