Eine Flut bricht über Deutschland herein, die Dämme sind längst gebrochen. Fast alle jungen Leute machen wieder Gedichte. Unser Land ertrinkt in Lyrik. Der Verfasser dieses Textes hat zeitlebens Gedichte gelesen, doch selbst nie eines verfasst. Er war sich sicher: Du kannst das nicht, es fehlt dir das nötige Gefühl für Musikalität, für Melodie und Rhythmus im strengen Sinn. Sein Deutschlehrer raunzte früher schon mal einen Schüler so an: Sprachgefühl wie eine asiatische Sumpfschildkröte!
Heute machen die Sumpfschildkröten Gedichte. Seriösen Schätzungen zufolge werden im deutschen Sprachraum jährlich fast 500.000 Gedichte ins Netz gestellt. Ich habe in letzter Zeit etwa ein Promille der Jahresproduktion gelesen. Was mich dabei am meisten verblüffte, war die Zeitlosigkeit vieler dieser Werke. Sie erinnerten mich nicht nur an das Poesiealbum meiner Mutter (geb. 1924), sie wirkten oft wie daraus abgeschrieben. Schon gut, der Mensch ändert sich nicht, die großen Themen bleiben dieselben: Herzeleid und Liebesfreud. Doch die Sprache ändert sich mit jeder Generation, dachte ich. Nun, das Herzschmerzgedicht von heute entspricht allzu oft einem lyrischen Versuch von 1938.
Was kommt heraus, wenn man gebrochene Herzen mit eingestürzten Brücken kreuzt? Gebrochene Brücken! Sieben davon präsentierte uns eine junge Lyrikerin im Netz, ungelogen. Ich wollte schon kommentieren: Mann, da hat der Zahnarzt aber zu tun – als mich eine Hemmung überkam. Unter dem Gedicht bekannte eine dichtende Kollegin: Ja, so geht es mir auch immer, ich bin dann ganz wirr im Kopf, nur Chaos … Darf man sich da noch lustig machen?
Eine Unterabteilung des dichtenden Alt-Deutschland von heute ist die politisierende Lyrik. Auch reifere Jahrgänge fallen diesem speziellen Furor Teutonicus zum Opfer, und nicht nur schlichte Gemüter. Dabei reagieren sie ihr König Ludwig-Syndrom ab, unwiderstehlich der Drang zum Regredieren. Welche Lust, sich jetzt antielitär zu geben, in dumpfer Masse aufzugehen. Sie lieben geradezu die Versager, die krassen Vereinfacher, die plumpen Fälscher – man kennt die Namen. Dann stellen sie sie als Plastik-Märtyrer auf ein ideelles Vertiko: Polit-Kitsch anno 2012. Aber wir anderen blicken nicht auf, sondern hinab auf bloß Ungestaltet-Unreflektiertes, eine schwarzbraune schwabbelnde Masse. Wär’s wenigstens Anti-Materie, es ist nur Anti-Geist. Genug von diesem Wühltisch-Irrationalismus, ich hab heut schon vomiert.
Wer fürs Erste genug gedichtet hat, verfasst noch rasch einen Aphorismus. Man glaubt nicht, wie schnell das geht – kein Kunststück. Auch Aphorismen sind in Mode, besonders wenn sie die Dichtkunst reflektieren. „Dichten ist Juwelierarbeit mit Sprache“, lässt uns eine wissen. Aphorismen traue ich mir eher zu als Lyrik. Also setze ich eins drauf: „Wenn Dichten Juwelierarbeit ist, warum ähneln dann so viele Produkte 08/15-Modeschmuck? Liegt’s am Material oder an der Fertigkeit?“ Das fand nicht den ungeteilten Beifall der Lyriker und Lyrikerinnen.
Ich weiß noch einen: „Brücken bauen: Der geschickteste Brückenbauer ist der Zahnarzt. Auch er baut auf Pfeilern auf, nämlich Stümpfen.“ Auweia … Weh tut es ja in beiden Fällen, dem Patienten wie dem Leser.
Ach was, ich fange doch lieber mit Lyrik an. Und mein erstes Gedicht bekommt den Titel: Eingestürzte Herzen.
Heute machen die Sumpfschildkröten Gedichte. Seriösen Schätzungen zufolge werden im deutschen Sprachraum jährlich fast 500.000 Gedichte ins Netz gestellt. Ich habe in letzter Zeit etwa ein Promille der Jahresproduktion gelesen. Was mich dabei am meisten verblüffte, war die Zeitlosigkeit vieler dieser Werke. Sie erinnerten mich nicht nur an das Poesiealbum meiner Mutter (geb. 1924), sie wirkten oft wie daraus abgeschrieben. Schon gut, der Mensch ändert sich nicht, die großen Themen bleiben dieselben: Herzeleid und Liebesfreud. Doch die Sprache ändert sich mit jeder Generation, dachte ich. Nun, das Herzschmerzgedicht von heute entspricht allzu oft einem lyrischen Versuch von 1938.
Was kommt heraus, wenn man gebrochene Herzen mit eingestürzten Brücken kreuzt? Gebrochene Brücken! Sieben davon präsentierte uns eine junge Lyrikerin im Netz, ungelogen. Ich wollte schon kommentieren: Mann, da hat der Zahnarzt aber zu tun – als mich eine Hemmung überkam. Unter dem Gedicht bekannte eine dichtende Kollegin: Ja, so geht es mir auch immer, ich bin dann ganz wirr im Kopf, nur Chaos … Darf man sich da noch lustig machen?
Eine Unterabteilung des dichtenden Alt-Deutschland von heute ist die politisierende Lyrik. Auch reifere Jahrgänge fallen diesem speziellen Furor Teutonicus zum Opfer, und nicht nur schlichte Gemüter. Dabei reagieren sie ihr König Ludwig-Syndrom ab, unwiderstehlich der Drang zum Regredieren. Welche Lust, sich jetzt antielitär zu geben, in dumpfer Masse aufzugehen. Sie lieben geradezu die Versager, die krassen Vereinfacher, die plumpen Fälscher – man kennt die Namen. Dann stellen sie sie als Plastik-Märtyrer auf ein ideelles Vertiko: Polit-Kitsch anno 2012. Aber wir anderen blicken nicht auf, sondern hinab auf bloß Ungestaltet-Unreflektiertes, eine schwarzbraune schwabbelnde Masse. Wär’s wenigstens Anti-Materie, es ist nur Anti-Geist. Genug von diesem Wühltisch-Irrationalismus, ich hab heut schon vomiert.
Wer fürs Erste genug gedichtet hat, verfasst noch rasch einen Aphorismus. Man glaubt nicht, wie schnell das geht – kein Kunststück. Auch Aphorismen sind in Mode, besonders wenn sie die Dichtkunst reflektieren. „Dichten ist Juwelierarbeit mit Sprache“, lässt uns eine wissen. Aphorismen traue ich mir eher zu als Lyrik. Also setze ich eins drauf: „Wenn Dichten Juwelierarbeit ist, warum ähneln dann so viele Produkte 08/15-Modeschmuck? Liegt’s am Material oder an der Fertigkeit?“ Das fand nicht den ungeteilten Beifall der Lyriker und Lyrikerinnen.
Ich weiß noch einen: „Brücken bauen: Der geschickteste Brückenbauer ist der Zahnarzt. Auch er baut auf Pfeilern auf, nämlich Stümpfen.“ Auweia … Weh tut es ja in beiden Fällen, dem Patienten wie dem Leser.
Ach was, ich fange doch lieber mit Lyrik an. Und mein erstes Gedicht bekommt den Titel: Eingestürzte Herzen.