Dienstags war anstelle der ersten Unterrichtsstunde Schulgottesdienst, nach Konfessionen getrennt. Ich hatte mich schon vom Religionsunterricht abgemeldet und nahm dann einen Zug später. Mit mir strömten viele andere Gymnasiasten aus dem Bahnhof. Da war auch Sigi, einer meiner besten Freunde. Am Dienstag hatten wir mehr Zeit und nahmen nicht den direkten Weg durch den Park, sondern einen Umweg durch die Altstadt.
An der ersten Ecke war M... zu Hause. Seine Leute hatten eine Maschinenbaufirma. M... war groß, schwarzlockig, dunkeläugig, lachlustig. Unter seiner Munterkeit sah man einen ernsthaften, guten Charakter durchschimmern, etwas wie natürliche Güte. Sein Bemühen, wahrhaftig zu sein und dem anderen gerecht zu werden, war so stark, dass er sich beim hastigen Sprechen leicht verhaspelte und vor Eifer errötete. Von ihm ist ein selten reiner Eindruck in mir zurückgeblieben. Warum habe ich nie versucht, ihm näher zu kommen?
Hundert Meter weiter stand in einem kleinen Park, eingezwängt zwischen Fluss und Bundesstraße, das in meinen Augen wichtigste Gebäude der Stadt. Nein, nicht die Schule - in dem kleinen Barockpalais war die Kreisbücherei untergebracht. Mit fünfzehn betrat ich sie zum ersten Mal. Nach zwei Jahren war die Jugendsparte ausgelesen und der Bibliothekar ließ mich in die Lesewelt der Erwachsenen. Bald bat ich ihn um "Der Mann ohne Eigenschaften". Er holte das Buch aus dem Archiv, staubte es andächtig ab und sagte mit beinahe religiösem Ernst: "Eines der besten Bücher, die wir haben." Ob er mir auch "Fluss ohne Ufer" ausgehändigt hätte? Da ich die Ausleihfrist von vier Wochen einhalten wollte, hatte ich pro Abend etwa fünfzig Seiten von Musil zu bewältigen. Es lief auf kursorische Lektüre hinaus. Erst später habe ich ihn gründlich gelesen.
Wir überquerten die Bundesstraße und standen vor einer Geschäftsauslage. Wann immer wir, Sigi und ich, dort vorbeikamen, stritten wir uns, wer die schwarze und wer die ockergelbe Lederjacke kaufen dürfe. Wir taten immer so, als würden wir bald das Geld dafür besitzen. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Jahrelang stachen uns Material und Schnitt in die Augen.
Dann kam ein langes, hohes Gebäude, das Schlosstheater. Ein Schloss stand hier schon lange nicht mehr, das Theater war aus unserem Jahrhundert. Die Landesbühne gab in ihm für die oberen Schulklassen Vorstellungen, denen nicht leicht zu folgen war. Das lag weniger an den Stücken als an den vielen Lkws, die draußen vorbeidonnerten und die Dialoge in Fragmente zerhackten. Einmal gab es "Die schmutzigen Hände" von Sartre. Ein anderes Mal sang hier bei einer Schulfeier Frau Dr. S..., Lehrerin für Latein und Deutsch, Kunstlieder, ich glaube, auch etwas von Schubert. Der Busen wölbte sich, zierlich presste sie die Fingerspitzen gegeneinander. Wie es scheint, waren wir noch nicht reif für ihren vollen, wohl klingenden Mezzosopran. Einige gackerten boshaft: "Der Spatz von O...!" Nachher wurde lange und frenetisch geklatscht und getrampelt. Die Künstlerin ließ sich nicht täuschen und gebot mit ärgerlicher Handbewegung Ruhe.
An der Marktplatzecke lag die Buchhandlung, die einen Winter lang von meinen Kameraden beklaut wurde. Es waren gerade die am wenigsten an Büchern Interessierten, die es als Mutprobe und Sport betrieben. Als die Inventur den Umfang des Schadens offenbarte, trat der Buchhändler bekümmert den Gang zum Schuldirektor an. Die Klassenlehrer redeten Tacheles in den Stunden. Die Täter machten sich öffentlich. Sie ersetzten den Schaden. Polizei wurde nicht eingeschaltet. Dann war es ausgestanden und wurde allmählich vergessen. Unter den Bücherdieben war einer, der jahrelang mein Denken und Fühlen beherrschte. Schon lange ist er mir gleichgültig.
Noch eine enge Altstadtgasse, dann eine breitere Geschäftsstraße mit Giebelfronten, alle im Zopfstil des 18. Jahrhunderts. Und nun der sehr steile Anstieg den Berg hinauf, auf dem unsere Schule thronte - das Institut, die Anstalt. Unterwegs konnte man in einer kleinen Grünanlage verschnaufen und über die roten Dächer der alten Häuser blicken. Die Schule oben, ursprünglich ein Lehrerseminar aus dem 19. Jahrhundert, hatte zu Nachbarn das finstere Amtsgericht und die kleine Brauerei, deren malzige Abluft oft den ganzen Hügel einhüllte.
Viele standen jetzt mit uns vor dem Haupttor. In der Aula mussten die Evangelischen bald fertig sein. Die Katholiken kamen gerade auch den Berg herauf, sie hielten Schulmesse unten in der Kirche. Einer von uns sagte: "Also ab in den Bau!" Wir ließen uns wieder für einen Vormittag einschließen, sozusagen.
Vierzig Jahre ist das schon her? Nein, dieser Weg hört nie auf.
An der ersten Ecke war M... zu Hause. Seine Leute hatten eine Maschinenbaufirma. M... war groß, schwarzlockig, dunkeläugig, lachlustig. Unter seiner Munterkeit sah man einen ernsthaften, guten Charakter durchschimmern, etwas wie natürliche Güte. Sein Bemühen, wahrhaftig zu sein und dem anderen gerecht zu werden, war so stark, dass er sich beim hastigen Sprechen leicht verhaspelte und vor Eifer errötete. Von ihm ist ein selten reiner Eindruck in mir zurückgeblieben. Warum habe ich nie versucht, ihm näher zu kommen?
Hundert Meter weiter stand in einem kleinen Park, eingezwängt zwischen Fluss und Bundesstraße, das in meinen Augen wichtigste Gebäude der Stadt. Nein, nicht die Schule - in dem kleinen Barockpalais war die Kreisbücherei untergebracht. Mit fünfzehn betrat ich sie zum ersten Mal. Nach zwei Jahren war die Jugendsparte ausgelesen und der Bibliothekar ließ mich in die Lesewelt der Erwachsenen. Bald bat ich ihn um "Der Mann ohne Eigenschaften". Er holte das Buch aus dem Archiv, staubte es andächtig ab und sagte mit beinahe religiösem Ernst: "Eines der besten Bücher, die wir haben." Ob er mir auch "Fluss ohne Ufer" ausgehändigt hätte? Da ich die Ausleihfrist von vier Wochen einhalten wollte, hatte ich pro Abend etwa fünfzig Seiten von Musil zu bewältigen. Es lief auf kursorische Lektüre hinaus. Erst später habe ich ihn gründlich gelesen.
Wir überquerten die Bundesstraße und standen vor einer Geschäftsauslage. Wann immer wir, Sigi und ich, dort vorbeikamen, stritten wir uns, wer die schwarze und wer die ockergelbe Lederjacke kaufen dürfe. Wir taten immer so, als würden wir bald das Geld dafür besitzen. Davon konnte jedoch keine Rede sein. Jahrelang stachen uns Material und Schnitt in die Augen.
Dann kam ein langes, hohes Gebäude, das Schlosstheater. Ein Schloss stand hier schon lange nicht mehr, das Theater war aus unserem Jahrhundert. Die Landesbühne gab in ihm für die oberen Schulklassen Vorstellungen, denen nicht leicht zu folgen war. Das lag weniger an den Stücken als an den vielen Lkws, die draußen vorbeidonnerten und die Dialoge in Fragmente zerhackten. Einmal gab es "Die schmutzigen Hände" von Sartre. Ein anderes Mal sang hier bei einer Schulfeier Frau Dr. S..., Lehrerin für Latein und Deutsch, Kunstlieder, ich glaube, auch etwas von Schubert. Der Busen wölbte sich, zierlich presste sie die Fingerspitzen gegeneinander. Wie es scheint, waren wir noch nicht reif für ihren vollen, wohl klingenden Mezzosopran. Einige gackerten boshaft: "Der Spatz von O...!" Nachher wurde lange und frenetisch geklatscht und getrampelt. Die Künstlerin ließ sich nicht täuschen und gebot mit ärgerlicher Handbewegung Ruhe.
An der Marktplatzecke lag die Buchhandlung, die einen Winter lang von meinen Kameraden beklaut wurde. Es waren gerade die am wenigsten an Büchern Interessierten, die es als Mutprobe und Sport betrieben. Als die Inventur den Umfang des Schadens offenbarte, trat der Buchhändler bekümmert den Gang zum Schuldirektor an. Die Klassenlehrer redeten Tacheles in den Stunden. Die Täter machten sich öffentlich. Sie ersetzten den Schaden. Polizei wurde nicht eingeschaltet. Dann war es ausgestanden und wurde allmählich vergessen. Unter den Bücherdieben war einer, der jahrelang mein Denken und Fühlen beherrschte. Schon lange ist er mir gleichgültig.
Noch eine enge Altstadtgasse, dann eine breitere Geschäftsstraße mit Giebelfronten, alle im Zopfstil des 18. Jahrhunderts. Und nun der sehr steile Anstieg den Berg hinauf, auf dem unsere Schule thronte - das Institut, die Anstalt. Unterwegs konnte man in einer kleinen Grünanlage verschnaufen und über die roten Dächer der alten Häuser blicken. Die Schule oben, ursprünglich ein Lehrerseminar aus dem 19. Jahrhundert, hatte zu Nachbarn das finstere Amtsgericht und die kleine Brauerei, deren malzige Abluft oft den ganzen Hügel einhüllte.
Viele standen jetzt mit uns vor dem Haupttor. In der Aula mussten die Evangelischen bald fertig sein. Die Katholiken kamen gerade auch den Berg herauf, sie hielten Schulmesse unten in der Kirche. Einer von uns sagte: "Also ab in den Bau!" Wir ließen uns wieder für einen Vormittag einschließen, sozusagen.
Vierzig Jahre ist das schon her? Nein, dieser Weg hört nie auf.