Es war stockfinster. Ich stand im Vorgarten wildfremder Leute und tastete im Dunkel nach einem weißen Topf der blaue streifen haben sollte. Darunter sollte der Schlüssel für ein Häuschen in Dublin für mich bereit gelegt worden sein. So kam ich in Irland an.
Doch – eigentlich hatte alles schon vorher begonnen, mit einem Bild, das sich unverblasst gegen das graue Einerlei abzeichnet, wie Rabenfedern im Schnee von Gestern. – Sie hatte in meiner Tür gestanden, die lockigen Haarsträhnen vom Wind verweht, wie auch ihr langes, weiches Chiffonkleid. Frau mit rotem Hut, unvergesslich wie das Gemälde von Vermeer, nur schöner, anrührender. Der Zufall hatte uns zusammen geführt – sie, ihren Mann und mich – für einen Abend und eine endlose Nacht.
Als sie gingen, luden sie mich ein, und es blieb etwas zurück. Alles was sein würde, lag schon in unseren Augen – in ihren, in seinen und wohl auch in meinen. Etwas war anders und eine Ahnung war geblieben – die Ahnung von einem Augenblick Unendlichkeit.
Das saftige Grün fetter Weiden verliert sich im Dunst der fernen morgenfeuchten Hügel im Townland von Grantstonwn, im Golden Vale. Bäume und Sträucher – Reihe um Reihe mehr ins blau-grau entrückt – wie auf einem Bild, über das man noch einmal mit dem feuchten Pinsel wischt.
Ein Rabe flattert schwer beladen dem unsichtbaren Nest entgegen. Sein einsames Krächzen zerreißt die Stille und hallt für einen Atemzug durch die Weite. Und, wie der Rabe, erinnert alles hier an Anfang, Werden und Ende, Tradition, unzertrennliche Freundschaft, an die Romantik des ersten Augenblickes, an das Wunder, jemanden lieben zu können und sei es um den Preis des Todes, aber auch an verblassende Farben und an den Schmerz aller Schmerzen – den brennenden Schmerz der Einsamkeit.
Heimweh nach weg von hier – ich bin geflohen, aus Deutschland und dem Moloch der Großstadt, dem ewigen Rausch und dem dauernden Rauschen. Wie kostbar ist Stille? Wie viel Zeit hat Einsamkeit? Was macht das Leben aus? Mich hatte das Bild fort getragen – Frau mit rotem Hut – und die Ahnung von etwas Unbekanntem an einem fernen, fremden Ort der Anderswelt.
Grantstown Castle liegt im Golden Vale, im County Tipperary. 60 Fuß hoch ragt der Turm in den wechselhaften Himmel. Wolken durchziehen das tiefe Blau und treiben ihr vielfarbenes Spiel von Licht und Schatten über die Weiden und jeden grünen Nachmittag aus Gras und Weite.
Es riecht fruchtbar und erdig, nur das Rauschen der Ahornblätter treibt durch die Stille und ein einsames Muuhhh, das der Wind herüber trägt. Der Wohnturm steht grau und angeschlagen, wie ein geplündertes Haus. Seine verlassene Seele heult mit dem Wind um efeuumrankte Werkstein-Mauern, durch schmale Spitzbogenfenster, den Wehrgang entlang, den Latrinenschacht hinauf und die Wendeltreppe bis in die Great Hall hinein.
Neben dem Tower stehen zwei Cottages, scheinbar gleich alt, nur etwas zu maßgenau und zu gut erhalten. Sie sind neu errichtet, in gotischem Stil. Darin verbaut, das Holz einer alten Thüringer Scheune und Butzenscheiben aus Wernburgs sterbendem Schloss.
Vor der schwarz-gähnenden Öffnung des Portals liegt eine zerbeulte Eingangstür aus rostrotem Stahl. Als ich darüber gehe, hallt sie nach wie eine Trommel. Drin ist es kühl und duster und eine beispiellose Stimmung legt sich über meine Neugier, wie immer in einer menschenleeren Ruine. Als könnten die Mauern Erlebtes speichern. Ich höre Becher, die aneinander schlagen, auf dass sie überschwappen und der Wein sich vermische, Harfenklänge und deftige Balladen - dem Gast zum Ruhme, dem Feind zur Schmach, Barn Dancers, die von überall her kamen und bis zum Morgengrauen musizierten, tanzten, scherzten und ungesund viel tranken.
Ich weiß, dass sie nicht da ist. Ich bin trotzdem gekommen – um ihn zu treffen. Als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnen sehe ich, dass jemand Grantstown Castle zu neuem Leben erweckt. Wuchtige Kanthölzer, Steine und allerhand Werkzeug stehen und liegen wohl geordnet aufgereiht. Tock, tock, tock. Ein Klopfen. Ich folge ihm – die gewedelte Steintreppe hinauf erschließt sich Blick für Blick und Raum für Raum, eine meterdicke Kalksteinmauer, gotische Spitzbogenfenster, gegen Vögel mit einem Drahtgitter geschützt, seit eine Schwalbe tot auf der Schwelle lag.
Tock, tock, tock. Ich folge ihm, gegen mein stampfendes Herz. Als sich ein Raum auftut halte ich inne. – Durch das eingebrochene Kaminloch fällt ein Sonnenbündel herein, wie Morgenlicht durch ein Bleiglasfenster im Kölner Dom. Ich sehe das Gesicht einer blutjungen Frau, die dadurch wie ins Rampenlicht rückt. In der finsteren Great Hall erstrahlt, wie auf einer Bühne, das Gesicht dieser Frau, so makellos, es auf einem Gemälde in Purpur zu hüllen – die Farbe der Königinnen. Doch diese hier hält Hammer und Meißel. Ihre Pelzweste gegen den garstigen Wind, wird von einem Nagel gehalten. Eine Kapuze über dem kastanienbraunen Haar, hockt sie auf ihren Füßen auf einem Baugerüst, in Steinmetz-Hosen und meint es ernst damit. Was soll ich denken? Ein Jammer, welche Verschwendung! – Oder: Recht so Fräulein, denen zeig´s!?
Dieser Ort hat viele Geschichten und doch nur eine – wie ein alter Fluss, der immer in Bewegung ist und doch immer derselbe.
Ich bin in einem Märchen in der Anderswelt! Als ich über die Wiese zu den Häusern hinüber gehe erklingt ein Violinenkonzert von Paganini. Der die Welt hier anders macht, steht in der Tür zu seinem Cottage und schaut zu den Hügeln, als sähe er sein Leben, und als kehrte es beglückt und zufrieden zurück. Aus graublauen Augen trifft mich sein fester, klarer Blick. Was er tut zelebriert er, das gemeinsame Essen und jedes Musikstück, das er auswählt an jenem Abend. Auf seinem Ring steht: Is foighdeagh an bean sίdhe.
Gegen Mitternacht weht ein silberhelles Lachen in meine Träume, wird deutlicher und immer lauter und ist plötzlich in der Kammer. Plötzlich sie ist hier - ihr schwarzes Haar und das lange, schwarze Chiffonkleid wehen wie im Wind. Über ihren torfbraunen Augen, die klare Stirn, ihr Kopf ist bedeckt von einer purpurnen Kappe. Und wieder kann ich alles in ihren Augen sehen: Sehnsucht und Hoffnung und Angst - die Angst vor jedem Anfang und Schoß, Erde und Heimat, Ankunft und Ursprung, Erblühen und Verwehen und die unvergängliche Liebe. All das ist in diesen Augen oder ich sehe es dort, weil es in mir ist, oder – weil ich danach suche ...
Und sie steht vor mir, wie schon einmal – an jenem Sonntag im Sommer 2004.
„Komm mit mir“, flüstert sie, einen Finger an die gewölbten Lippen gelegt. Vorsichtig löse ich mich aus seinen Armen. Den Armen dessen, der für immer zu ihr gehört, und folge ihr barfuss aus der kleinen Kammer, die hölzerne Leitertreppe hinunter, den mondbeschienen Kiesweg entlang zum Turm, die kühlen Stufen hinauf bis in die Grate Hall und höher, in einen Raum darüber, den ich am Tag nicht gesehen habe. Vor den Vollmond tritt eine Wolke und es wird finster, doch die Augen gewöhnen sich und allmählich zeichnen sich Gegenstände ab.
Eine Kamin, eine Truhe mit bauchigem Deckel, ein geräumiges Bett mit wuchtigen Säulen. Darin Felle und Decken und eine schlafende Frau, halb nur bedeckt. Als die Wolken aufreißen zeichnet das Mondlicht den Fensterbogen auf ihren nackten, schlanken Bauch, der schnell auf und ab geht, und auf ihre runden Brüste. Eine Hand fährt zwischen die bleichen Schenkel. Mein Herz pocht, als schlüge es gegen eine Tür. Sie scheint zu träumen und Spricht dabei. Ich kann nichts verstehen – nur verschlafenes Murmeln, zerrissene Silben in einer fremden Sprache.
Die Frau mit der roten Kappe nimmt mich bei der Hand und zieht mich weiter. Dann hält sie inne, sieht mich an und an mir vorbei zu dem Bett hinüber. Plötzlich verstehe ich und lausche gebannt und mit einem Mal bin ich Teil der Geschichte. Ich höre das silberhelle Lachen – dieses Lachen, und Mondlicht fällt auf einen Schriftzug am Kamin: Is foighdeagh an bean sίdhe – Geduldig ist die Banshee – und ohne zu wissen woher, weiß ich jetzt, welche Geschichte das ist.
Ein Krachen zerreißt die Stille des Augenblicks. – Nein! Ich will nicht erwachen! Oder, wenigstens will ich diesen wundervollen Traum in den Tag hinüber retten.
Fremde Stimmen, viele, trappelnde Füße! – Unwillig öffne ich einen Spalt breit meine Augen, reiße sie auf und sehe in ein rotzverschmiertes Kindergesicht. Mit, von zuviel TV-Sondermüll, gleichgültigen Augen starrt es mich ungerührt an und geht wortlos davon. Aus diesem Traum, will ich unbedingt erwachen! – Aber, das ist keiner.
Mit einigen Minuten Zeitverzögerung wird mir klar wo ich bin und was geschehen ist. – Die Frau mit der purpurnen Kappe war nicht wirklich hier – nur im Traum. Er ist hier, und ich mit ihm. Und, wir haben es gewusst, er und sie und ich, an jenem Sonntag im Sommer 2004. Was wir nicht wussten war, was sein wird und wie es sein wird. – Nun ist es da, tief und ehrlich und anziehend rein.
Und wir ringen um diese Unschuld jede Nacht, ohne zu verlieren und ohne letztlich Gewinner zu sein.
Er ist aufgestanden und begrüßt seine Gäste. Ich krieche aus dem Bett und sehe zum Fenster hin und durch die Scheibe hindurch hinunter, auf einen roten VW-Bus. Die Aufschrift trifft mich wie ein Schlag in den Magen: HARIBO TEAM – Wir lecken jeden BÄR -
Mir wird schlecht!
Ich schaue durch die Treppenluke nach unten und mein Blick prallt gegen die abgewirtschafteten Gesichtsreste einer Frau, von der Arbeit verhärmt und vom Geschrei der vielen Mäuler völlig abgestumpft. Sie steht im Eingang und starrt ungerührt in die Ferne.
Ich bin augenblicklich im Bilde ... Gäste aus Deutschland: Mutter mit Freund und vier Kindern. Binnen Sekunden verwandelt sich die wohlsortierte, stille Insel in ein Irrenhaus und ich frage mich, wie das möglich ist und wie ich dem Trubel best möglich entgehen kann. Der Gastgeber verbreitet liebenswert gedämpften Optimismus. Ergebnislos. -
Wie ein Schwarm hungriger Krähen fallen die Gäste über den Speisevorrat her. Das Jüngste sondert Schleim ab, den es über alle die liebevoll restaurierten Möbelstücke schliert. Die Mutter stiert auf die Krümel, als wolle sie darin ihre Zukunft lesen. Zu viele Hochglanzmagazine haben ihrem Verstand nicht aufhelfen können, wohl aber die Herrin in ihr geweckt. Ihr Blick löst sich von den Krümeln und wandert zu der Kammer der Hausherren hinauf: „Ich leg mich oben hin und schlaf erschtma!“ – Das ist atemberaubend! Distanzlos! Bei aller Gastfreundschaft – so geht das nicht! Nicht die Kammer, den stillen Rückzugsort, Enklave des Turmherren und seiner engsten Vertrauten - diesen erhabenen Raum der Räume. Ich verteidige ihn – mit allem gebotenen Egoismus.
Den gedeckten Tisch verlässt die erschöpfte Meute ungerührt unaufgeräumt, um direkt vor der Eingangstür den Unrat ihrer Zelte breit zu werfen. Die zwei älteren Ätzmolche bespielen das Baugerüst, während der Schleimer mit dem Hammer Xylophon auf frisch gestrichenen Zierleisten spielt. Nach mehreren schmerzverzerrten: “Bitte, nein!“, und einer unheilverkündenden Ruhephase, geht krachend Stein auf Stein nieder und ein besonders schönes Stück, das seinen Platz an exponierter Stelle finden sollte, zerfällt in tausend Stücke.
In dem hübschen kleinen Bad ist im Handumdrehen die Toilettenbrille vollgepinkelt. Als ich hinein will sehe ich, wie sich die Finger der spätpubertären Punk-Tochter mit abgebrochenen Nägeln in mein kostbares Helena Rubinstein Nachtkrem-Töpfchen graben: „Isch krem misch ma ein.“
Am Abend fällt er blass und erschöpft auf sein Bett: „Ich weiß genau, warum ich keine Kinder habe!“
Munter-mürrisches Geplapper dominiert fortan das Säuseln der Ahornblätter, das Krächzen des Raben, das sonst die Stille zerreißt und das glückliche Muuhhh, das einsam herüberweht von den saftigen Weiden ...
Drei Tage hängen die Wolken tief über Grantstown Castle. – Dann, so plötzlich wie sie eingefallen sind, flattern die Krähen am vierten Morgen davon.
Wir winken ihnen nach. Der Wind treibt eine schwarze Feder vorbei. Wir sehen uns still an und lächeln und wissen wie kostbar und vergänglich Einsamkeit und Stille sind. Er wählt friedliche Musik aus und jeder tut was er will.
Meine letzte Nacht ist mild und vollmondbeschienen - lughnasadh – das keltisches Sommerfest... Wir sitzen beieinander, Mirjam und Marcel, Anton, Jörg und ich.
Ohne zu wissen woher, erzähle ich die Geschichte von der unvergänglichen Liebe, die hier in den Mauern des Turmes wohnt von Anbeginn. Von der Schönen, die auf ihren Geliebten wartet von Vollmondnacht zu Vollmondnacht, denn nur bei Vollmond findet er den Weg zu ihr und wenn der Morgen komm, muss der fort, sonst wird sie ihn nie mehr wieder sehen. Das geht so eine Weile, aber man kennt ja die Frauen - Einmal will die Schöne ihren Geliebten überlisten. An lughnasadh ruft sie bean sίdhe, die Feenkönigin und Herrscherin der Anderswelt zu Hilfe. „Bean sίdhe”, fleht sie, “bitte hilf mir, ihn zu bezaubern, auf dass er bei mir bleibt für heute und für alle Zeit.”
„Ich kann dir helfen“ antwortet bean sίdhe „aber bedenke es wohl. Nichts währet ewig, nur die Vergänglichkeit. Wenn er für immer bei Dir bliebe, würde Dein Lachen vergehen wie seine Zärtlichkeit.“
In dieser Nacht betrachtete die Schöne lange ihren schlafenden Geliebten. Als die erste Schwalbe erwachte, dankte sie der Feenkönigin und schickte sie fort. Seit dem, erklingt manchmal ein silberhelles Lachen, denn die Schöne weiß nun, dass ihr Geliebter immer wieder kommt, immer wieder und nur zu ihr immer wieder, mit wem auch immer er sein mag in all der anderen Zeit.
Wir schauen ins Feuer und schweigen und denken an die unvergängliche Liebe. Man kann wenig tun. – Vielleicht kann man liebenswerte Menschen suchen und Orte, wo Gnome, Feen und Geister wohnen – um den Zauber der Tagwelt zu erfahren und eins zu werden, mit den Wundern der Nacht.
Mich hat die Ahnung von etwas Außergewöhnlichem nach Grantstown Castle geführt. Was ich gefunden habe, ist meine Leidenschaft für Stille, die unvergängliche Liebe zu den Menschen, die dieser Ort zusammengeführt hat und einen Augenblick Unendlichkeit.
Doch – eigentlich hatte alles schon vorher begonnen, mit einem Bild, das sich unverblasst gegen das graue Einerlei abzeichnet, wie Rabenfedern im Schnee von Gestern. – Sie hatte in meiner Tür gestanden, die lockigen Haarsträhnen vom Wind verweht, wie auch ihr langes, weiches Chiffonkleid. Frau mit rotem Hut, unvergesslich wie das Gemälde von Vermeer, nur schöner, anrührender. Der Zufall hatte uns zusammen geführt – sie, ihren Mann und mich – für einen Abend und eine endlose Nacht.
Als sie gingen, luden sie mich ein, und es blieb etwas zurück. Alles was sein würde, lag schon in unseren Augen – in ihren, in seinen und wohl auch in meinen. Etwas war anders und eine Ahnung war geblieben – die Ahnung von einem Augenblick Unendlichkeit.
Das saftige Grün fetter Weiden verliert sich im Dunst der fernen morgenfeuchten Hügel im Townland von Grantstonwn, im Golden Vale. Bäume und Sträucher – Reihe um Reihe mehr ins blau-grau entrückt – wie auf einem Bild, über das man noch einmal mit dem feuchten Pinsel wischt.
Ein Rabe flattert schwer beladen dem unsichtbaren Nest entgegen. Sein einsames Krächzen zerreißt die Stille und hallt für einen Atemzug durch die Weite. Und, wie der Rabe, erinnert alles hier an Anfang, Werden und Ende, Tradition, unzertrennliche Freundschaft, an die Romantik des ersten Augenblickes, an das Wunder, jemanden lieben zu können und sei es um den Preis des Todes, aber auch an verblassende Farben und an den Schmerz aller Schmerzen – den brennenden Schmerz der Einsamkeit.
Heimweh nach weg von hier – ich bin geflohen, aus Deutschland und dem Moloch der Großstadt, dem ewigen Rausch und dem dauernden Rauschen. Wie kostbar ist Stille? Wie viel Zeit hat Einsamkeit? Was macht das Leben aus? Mich hatte das Bild fort getragen – Frau mit rotem Hut – und die Ahnung von etwas Unbekanntem an einem fernen, fremden Ort der Anderswelt.
Grantstown Castle liegt im Golden Vale, im County Tipperary. 60 Fuß hoch ragt der Turm in den wechselhaften Himmel. Wolken durchziehen das tiefe Blau und treiben ihr vielfarbenes Spiel von Licht und Schatten über die Weiden und jeden grünen Nachmittag aus Gras und Weite.
Es riecht fruchtbar und erdig, nur das Rauschen der Ahornblätter treibt durch die Stille und ein einsames Muuhhh, das der Wind herüber trägt. Der Wohnturm steht grau und angeschlagen, wie ein geplündertes Haus. Seine verlassene Seele heult mit dem Wind um efeuumrankte Werkstein-Mauern, durch schmale Spitzbogenfenster, den Wehrgang entlang, den Latrinenschacht hinauf und die Wendeltreppe bis in die Great Hall hinein.
Neben dem Tower stehen zwei Cottages, scheinbar gleich alt, nur etwas zu maßgenau und zu gut erhalten. Sie sind neu errichtet, in gotischem Stil. Darin verbaut, das Holz einer alten Thüringer Scheune und Butzenscheiben aus Wernburgs sterbendem Schloss.
Vor der schwarz-gähnenden Öffnung des Portals liegt eine zerbeulte Eingangstür aus rostrotem Stahl. Als ich darüber gehe, hallt sie nach wie eine Trommel. Drin ist es kühl und duster und eine beispiellose Stimmung legt sich über meine Neugier, wie immer in einer menschenleeren Ruine. Als könnten die Mauern Erlebtes speichern. Ich höre Becher, die aneinander schlagen, auf dass sie überschwappen und der Wein sich vermische, Harfenklänge und deftige Balladen - dem Gast zum Ruhme, dem Feind zur Schmach, Barn Dancers, die von überall her kamen und bis zum Morgengrauen musizierten, tanzten, scherzten und ungesund viel tranken.
Ich weiß, dass sie nicht da ist. Ich bin trotzdem gekommen – um ihn zu treffen. Als meine Augen sich an das Dunkel gewöhnen sehe ich, dass jemand Grantstown Castle zu neuem Leben erweckt. Wuchtige Kanthölzer, Steine und allerhand Werkzeug stehen und liegen wohl geordnet aufgereiht. Tock, tock, tock. Ein Klopfen. Ich folge ihm – die gewedelte Steintreppe hinauf erschließt sich Blick für Blick und Raum für Raum, eine meterdicke Kalksteinmauer, gotische Spitzbogenfenster, gegen Vögel mit einem Drahtgitter geschützt, seit eine Schwalbe tot auf der Schwelle lag.
Tock, tock, tock. Ich folge ihm, gegen mein stampfendes Herz. Als sich ein Raum auftut halte ich inne. – Durch das eingebrochene Kaminloch fällt ein Sonnenbündel herein, wie Morgenlicht durch ein Bleiglasfenster im Kölner Dom. Ich sehe das Gesicht einer blutjungen Frau, die dadurch wie ins Rampenlicht rückt. In der finsteren Great Hall erstrahlt, wie auf einer Bühne, das Gesicht dieser Frau, so makellos, es auf einem Gemälde in Purpur zu hüllen – die Farbe der Königinnen. Doch diese hier hält Hammer und Meißel. Ihre Pelzweste gegen den garstigen Wind, wird von einem Nagel gehalten. Eine Kapuze über dem kastanienbraunen Haar, hockt sie auf ihren Füßen auf einem Baugerüst, in Steinmetz-Hosen und meint es ernst damit. Was soll ich denken? Ein Jammer, welche Verschwendung! – Oder: Recht so Fräulein, denen zeig´s!?
Dieser Ort hat viele Geschichten und doch nur eine – wie ein alter Fluss, der immer in Bewegung ist und doch immer derselbe.
Ich bin in einem Märchen in der Anderswelt! Als ich über die Wiese zu den Häusern hinüber gehe erklingt ein Violinenkonzert von Paganini. Der die Welt hier anders macht, steht in der Tür zu seinem Cottage und schaut zu den Hügeln, als sähe er sein Leben, und als kehrte es beglückt und zufrieden zurück. Aus graublauen Augen trifft mich sein fester, klarer Blick. Was er tut zelebriert er, das gemeinsame Essen und jedes Musikstück, das er auswählt an jenem Abend. Auf seinem Ring steht: Is foighdeagh an bean sίdhe.
Gegen Mitternacht weht ein silberhelles Lachen in meine Träume, wird deutlicher und immer lauter und ist plötzlich in der Kammer. Plötzlich sie ist hier - ihr schwarzes Haar und das lange, schwarze Chiffonkleid wehen wie im Wind. Über ihren torfbraunen Augen, die klare Stirn, ihr Kopf ist bedeckt von einer purpurnen Kappe. Und wieder kann ich alles in ihren Augen sehen: Sehnsucht und Hoffnung und Angst - die Angst vor jedem Anfang und Schoß, Erde und Heimat, Ankunft und Ursprung, Erblühen und Verwehen und die unvergängliche Liebe. All das ist in diesen Augen oder ich sehe es dort, weil es in mir ist, oder – weil ich danach suche ...
Und sie steht vor mir, wie schon einmal – an jenem Sonntag im Sommer 2004.
„Komm mit mir“, flüstert sie, einen Finger an die gewölbten Lippen gelegt. Vorsichtig löse ich mich aus seinen Armen. Den Armen dessen, der für immer zu ihr gehört, und folge ihr barfuss aus der kleinen Kammer, die hölzerne Leitertreppe hinunter, den mondbeschienen Kiesweg entlang zum Turm, die kühlen Stufen hinauf bis in die Grate Hall und höher, in einen Raum darüber, den ich am Tag nicht gesehen habe. Vor den Vollmond tritt eine Wolke und es wird finster, doch die Augen gewöhnen sich und allmählich zeichnen sich Gegenstände ab.
Eine Kamin, eine Truhe mit bauchigem Deckel, ein geräumiges Bett mit wuchtigen Säulen. Darin Felle und Decken und eine schlafende Frau, halb nur bedeckt. Als die Wolken aufreißen zeichnet das Mondlicht den Fensterbogen auf ihren nackten, schlanken Bauch, der schnell auf und ab geht, und auf ihre runden Brüste. Eine Hand fährt zwischen die bleichen Schenkel. Mein Herz pocht, als schlüge es gegen eine Tür. Sie scheint zu träumen und Spricht dabei. Ich kann nichts verstehen – nur verschlafenes Murmeln, zerrissene Silben in einer fremden Sprache.
Die Frau mit der roten Kappe nimmt mich bei der Hand und zieht mich weiter. Dann hält sie inne, sieht mich an und an mir vorbei zu dem Bett hinüber. Plötzlich verstehe ich und lausche gebannt und mit einem Mal bin ich Teil der Geschichte. Ich höre das silberhelle Lachen – dieses Lachen, und Mondlicht fällt auf einen Schriftzug am Kamin: Is foighdeagh an bean sίdhe – Geduldig ist die Banshee – und ohne zu wissen woher, weiß ich jetzt, welche Geschichte das ist.
Ein Krachen zerreißt die Stille des Augenblicks. – Nein! Ich will nicht erwachen! Oder, wenigstens will ich diesen wundervollen Traum in den Tag hinüber retten.
Fremde Stimmen, viele, trappelnde Füße! – Unwillig öffne ich einen Spalt breit meine Augen, reiße sie auf und sehe in ein rotzverschmiertes Kindergesicht. Mit, von zuviel TV-Sondermüll, gleichgültigen Augen starrt es mich ungerührt an und geht wortlos davon. Aus diesem Traum, will ich unbedingt erwachen! – Aber, das ist keiner.
Mit einigen Minuten Zeitverzögerung wird mir klar wo ich bin und was geschehen ist. – Die Frau mit der purpurnen Kappe war nicht wirklich hier – nur im Traum. Er ist hier, und ich mit ihm. Und, wir haben es gewusst, er und sie und ich, an jenem Sonntag im Sommer 2004. Was wir nicht wussten war, was sein wird und wie es sein wird. – Nun ist es da, tief und ehrlich und anziehend rein.
Und wir ringen um diese Unschuld jede Nacht, ohne zu verlieren und ohne letztlich Gewinner zu sein.
Er ist aufgestanden und begrüßt seine Gäste. Ich krieche aus dem Bett und sehe zum Fenster hin und durch die Scheibe hindurch hinunter, auf einen roten VW-Bus. Die Aufschrift trifft mich wie ein Schlag in den Magen: HARIBO TEAM – Wir lecken jeden BÄR -
Mir wird schlecht!
Ich schaue durch die Treppenluke nach unten und mein Blick prallt gegen die abgewirtschafteten Gesichtsreste einer Frau, von der Arbeit verhärmt und vom Geschrei der vielen Mäuler völlig abgestumpft. Sie steht im Eingang und starrt ungerührt in die Ferne.
Ich bin augenblicklich im Bilde ... Gäste aus Deutschland: Mutter mit Freund und vier Kindern. Binnen Sekunden verwandelt sich die wohlsortierte, stille Insel in ein Irrenhaus und ich frage mich, wie das möglich ist und wie ich dem Trubel best möglich entgehen kann. Der Gastgeber verbreitet liebenswert gedämpften Optimismus. Ergebnislos. -
Wie ein Schwarm hungriger Krähen fallen die Gäste über den Speisevorrat her. Das Jüngste sondert Schleim ab, den es über alle die liebevoll restaurierten Möbelstücke schliert. Die Mutter stiert auf die Krümel, als wolle sie darin ihre Zukunft lesen. Zu viele Hochglanzmagazine haben ihrem Verstand nicht aufhelfen können, wohl aber die Herrin in ihr geweckt. Ihr Blick löst sich von den Krümeln und wandert zu der Kammer der Hausherren hinauf: „Ich leg mich oben hin und schlaf erschtma!“ – Das ist atemberaubend! Distanzlos! Bei aller Gastfreundschaft – so geht das nicht! Nicht die Kammer, den stillen Rückzugsort, Enklave des Turmherren und seiner engsten Vertrauten - diesen erhabenen Raum der Räume. Ich verteidige ihn – mit allem gebotenen Egoismus.
Den gedeckten Tisch verlässt die erschöpfte Meute ungerührt unaufgeräumt, um direkt vor der Eingangstür den Unrat ihrer Zelte breit zu werfen. Die zwei älteren Ätzmolche bespielen das Baugerüst, während der Schleimer mit dem Hammer Xylophon auf frisch gestrichenen Zierleisten spielt. Nach mehreren schmerzverzerrten: “Bitte, nein!“, und einer unheilverkündenden Ruhephase, geht krachend Stein auf Stein nieder und ein besonders schönes Stück, das seinen Platz an exponierter Stelle finden sollte, zerfällt in tausend Stücke.
In dem hübschen kleinen Bad ist im Handumdrehen die Toilettenbrille vollgepinkelt. Als ich hinein will sehe ich, wie sich die Finger der spätpubertären Punk-Tochter mit abgebrochenen Nägeln in mein kostbares Helena Rubinstein Nachtkrem-Töpfchen graben: „Isch krem misch ma ein.“
Am Abend fällt er blass und erschöpft auf sein Bett: „Ich weiß genau, warum ich keine Kinder habe!“
Munter-mürrisches Geplapper dominiert fortan das Säuseln der Ahornblätter, das Krächzen des Raben, das sonst die Stille zerreißt und das glückliche Muuhhh, das einsam herüberweht von den saftigen Weiden ...
Drei Tage hängen die Wolken tief über Grantstown Castle. – Dann, so plötzlich wie sie eingefallen sind, flattern die Krähen am vierten Morgen davon.
Wir winken ihnen nach. Der Wind treibt eine schwarze Feder vorbei. Wir sehen uns still an und lächeln und wissen wie kostbar und vergänglich Einsamkeit und Stille sind. Er wählt friedliche Musik aus und jeder tut was er will.
Meine letzte Nacht ist mild und vollmondbeschienen - lughnasadh – das keltisches Sommerfest... Wir sitzen beieinander, Mirjam und Marcel, Anton, Jörg und ich.
Ohne zu wissen woher, erzähle ich die Geschichte von der unvergänglichen Liebe, die hier in den Mauern des Turmes wohnt von Anbeginn. Von der Schönen, die auf ihren Geliebten wartet von Vollmondnacht zu Vollmondnacht, denn nur bei Vollmond findet er den Weg zu ihr und wenn der Morgen komm, muss der fort, sonst wird sie ihn nie mehr wieder sehen. Das geht so eine Weile, aber man kennt ja die Frauen - Einmal will die Schöne ihren Geliebten überlisten. An lughnasadh ruft sie bean sίdhe, die Feenkönigin und Herrscherin der Anderswelt zu Hilfe. „Bean sίdhe”, fleht sie, “bitte hilf mir, ihn zu bezaubern, auf dass er bei mir bleibt für heute und für alle Zeit.”
„Ich kann dir helfen“ antwortet bean sίdhe „aber bedenke es wohl. Nichts währet ewig, nur die Vergänglichkeit. Wenn er für immer bei Dir bliebe, würde Dein Lachen vergehen wie seine Zärtlichkeit.“
In dieser Nacht betrachtete die Schöne lange ihren schlafenden Geliebten. Als die erste Schwalbe erwachte, dankte sie der Feenkönigin und schickte sie fort. Seit dem, erklingt manchmal ein silberhelles Lachen, denn die Schöne weiß nun, dass ihr Geliebter immer wieder kommt, immer wieder und nur zu ihr immer wieder, mit wem auch immer er sein mag in all der anderen Zeit.
Wir schauen ins Feuer und schweigen und denken an die unvergängliche Liebe. Man kann wenig tun. – Vielleicht kann man liebenswerte Menschen suchen und Orte, wo Gnome, Feen und Geister wohnen – um den Zauber der Tagwelt zu erfahren und eins zu werden, mit den Wundern der Nacht.
Mich hat die Ahnung von etwas Außergewöhnlichem nach Grantstown Castle geführt. Was ich gefunden habe, ist meine Leidenschaft für Stille, die unvergängliche Liebe zu den Menschen, die dieser Ort zusammengeführt hat und einen Augenblick Unendlichkeit.