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Reise nach Usedom
Autor: Thomas Kempken · Rubrik:
Reiseberichte

Heute, am ersten Tag unseres Aufenthaltes, Flanieren entlang der Strandpromenade in Heringsdorf, einem der so genannten "Drei Kaiserbäder". Villa an Villa reihen sich hier aneinander, vielfach von parkähnlichen Gärten umstanden. Herrliche Anblicke - wenn man es seinem Auge gestattet, es auf diese Weise zu betrachten - und sich-zurück-versetzt-fühlen in eine längst vergangene Zeit; in die wilhelminische Zeit, in die Zeit Heinrich und Thomas Manns, der Theodor Fontanes und Maxim Gorkis. Es fehlt nicht an Erinnerungstafeln, Skulpturen und Büsten, die den Betrachter an die alten, prominenten Besucher erinnern sollen.
Diese Bäderarchitektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die man an diesem Ort (trefflich restauriert und instand gesetzt) bewundern kann, bleibt auf mich nicht ohne Wirkung.

Wir haben unser Domizil im Gartenhaus der "Villa Elisabeth", einer Wohnung mit drei stilvoll eingerichteten, hohen Zimmern, deren Wände teilweise mit herrlichem (echtem) Stuck verarbeitet sind und deren Flügeltür den Weg vom Wohnzimmer zur Freitreppe eröffnet, über die man den Garten erreicht.

Der Weg zum Strand ist kraftfahrzeugbefreit und binnen zwei Minuten zu bewältigen; ein schier unglaublicher Luxus, wie uns scheint. Der wohnungseigene Strandkorb, der uns für die Dauer des Aufenthaltes zur Verfügung steht, vervollkommnet das Bild des Gelungenen und des Anspruchsvollen. Wie einst Thomas Mann (wenn auch nicht im leichten Sommeranzug) wähnt man sich, in diesem (Strandkorb) Platz nehmend, die Zeitung oder die Urlaubslektüre lesend, von Zeit zu Zeit die See, ihre Wellen, die Schiffe, die sich erholenden Menschen betrachtend.
Der Gang über die neue Seebrücke (erbaut 1995; die laut Reiseführer längste Seebrücke des Kontinentes, 503 m - ich zweifle!) mit ihrem schmucken Restaurant gehört selbstverständlich zum Pflichtprogramm des Besuchers.

Abends Rekapitulation dieses Tages. Zufriedenheit. Vorfreude. Skepsis.

Draussen tobt ein Gewitter.

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Heute Peenemünde - Historisch-Technisches Informationszentrum, ehemals die sogenannte Heeresversuchsanstalt (HVA) der Nationalsozialisten. Ein gewaltiges Areal, obwohl man bereits kurz nach Ende des Krieges circa siebzig Bauten gesprengt oder demontiert hatte, ist noch vieles "erahnbar", da Ruinen davon erhalten...
Das Kohlekraftwerk mit der Bekohlungs-Krananlage und dem Förderband - ganz im Stile der Industriebauten der dreissiger Jahre - auf seine Weise imponierend, beklemmend. Dieses Kraftwerk war die Voraussetzung für den enormen Energie- und Wärmebedarf zur Raketenforschung, sowie für die Entwicklung und den Bau der A-4 Aggregate (besser bekannt als die durch Joseph Goebbels so benannten Vergeltungswaffen).

Viel Informationsmaterial über Wernher von Braun, der angeblich das abgelegene Gebiet des nördlichen Teiles der Insel Usedom höchstselbst als Standort der Forschungsanlage ausfindig gemacht hatte. Wie üblich (siehe Obersalzberg), zwangsenteigneten die Nationalsozialisten Mitte der dreissiger Jahre ein riesiges Areal, erklärten es zum Sperrgebiet, machten das alte Fischerdorf Peenemünde dem Erdboden gleich und bebauten das Gebiet mit den neuen Anlagen. Dazu rekrutierten sie Tausende von Arbeitern, zum Teil auch KZ-Insassen, um dieses Mammutwerk in kürzester Zeit auf die Beine zu stellen.

Darüber hinaus wurde ein Flughafen in allernächster Nähe aus dem Boden gestampft, Raketenabschussrampen erstellt und Gelände für Testsprengungen hergerichtet. Befährt man heute den Greifswalder Bodden, zeugen immer noch zwei aufgelassene alte Leuchtfeuer, die den im Anflug befindlichen Maschinen den Weg zur Piste wiesen, mitten in der See aus dieser Zeit.

In Teilen des Kraftwerkbaus (ca. 100 mal 65 m gross) befindet sich heutzutage das Museum mit einer Menge Original-, Bild- und Tondokumenten. Auch ein Vorführraum ist integriert, das den Besucher mit entsprechendem Filmmaterial versorgt.

Auf dem Aussengelände Hubschrauber und Kampfflugzeuge aus sowjetischen und NVA-Beständen, sowie eine Original-V 2 Rakete.

Obwohl das Gelände heutzutage von Besuchern geradezu überschwemmt wird (der Museumsführer bestätigt 300000 Besucher/Jahr), kann man sich der düsteren Atmosphäre dieses Ortes kaum entziehen. Für den Rundgang sollte man sich mindestens drei Stunden Zeit nehmen, da es meines Erachtens wenig von Nutzen ist, durch die Ausstellungsräume bzw. -hallen zu eilen, ohne für einen Moment inne zu halten und die Dinge auf sich wirken zu lassen.

Wie vorhergesehen, diesen Ort in nachdenklicher Stimmung wieder verlassen.

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Gestern am Gnitz. Sehr einsam, erwartet man, weltentrücktes Gestade am Ufer des Achterwassers - doch das Gegenteil ist der Fall; Schwaden von Einheitstag-Spaziergängern bevölkern den schmalen Pfad um die Südspitze des Gnitz. Ich staune. Es ist dennoch schön hier; Natur, soweit das Auge reicht; Weiden, Schilf, Rohrkolben, Pappeln, Ulmen, allerlei dichtes Gesträuch im Auwald.
Am "Weißen Berg" (32 m) eine Alm - umzäuntes Weideland, durch rot-weiß bemalte Drekkreuze zu betreten; blickt man Richtung Berg, glaubt man sich in eine andere Welt versetzt. Der "Steig" führt steil hinan in Kiefernwälder, schlängelt sich über Wurzeln und um gestürzte Stämme unwegsam, bis man nach Minuten des schweißtreibenden Aufstiegs die Bank über den gelblichen, westlichen Abstürzen des "Weißen Berg" erreicht, und sich erleichtert niederläßt, um die Aussicht auf das zurückgelassene Achterwasser mit der Halbinsel Lieper Winkel im Hintergrund beziehungsweise die Krumminer Wiek zu genießen!
Vom Gipfel in östlicher Richtung die Höhe beinahe haltend durch Kiefernhochwald und pilzbestandenes Unterholz (Fliegenpilze, sehr schöne Exemplare!) am Naturcamping vorüber und endlich abwärts Richtung Lütow, dem Ausgangspunkt der "Bergwanderung".
Im "Galeriegarten-Cafe" (sehr idyllisch gelegen; künstlerische Gartengestaltung) lockt der weltliche Genuß von Süßem, Deftigem, Heißem oder Kühlem. Von allem kosten wir, und wollen diesen Ort gar nicht mehr verlassen. Auch das ist Usedom.

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Will man so wie einst Herr Mann (der Berühmtere) die Greifswalder Oie besuchen, muß man sich früh aus den Federn bemühen - vor allem, wenn das zu verlassende Bett in Heringsdorf steht, vierzig Kilometer von dem Ort entfernt, von dem das kleine Ausflugsboot MS Seeadler ablegt, um in etwa einhundert Minuten das oben genannte Eiland zu erreichen.

Das Naturschutzgebiet wird von einer Handvoll Idealisten bewohnt - was keineswegs abwertend zu verstehen ist - die, dem Verein "Jordsand" angehörend, sich zu Forschungszwecken die heimische Ornithologie betreffend unter spartanischen Bedingungen das ganze Jahr über hier aufhalten.

Die kleine Insel beherbergt kein Kraftfahrzeug, sondern als Fortbewegungsmittel für ihre wenigen menschlichen Bewohner lediglich ein paar Fahrräder - und einen modernst ausgestatteten Seenotrettungskreuzer der DGzRS, der hier stationiert ist.

Neben einer scheinbar unberührten Natur beherbergt die Oie (gesprochen: "Oi", plattdt. für "Insel") großzügige Weiden und einen kleinen Wald mit herrlichem Mischbestand: Ahorn, Esche und Ulme trifft man hier an, also Bäume, die recht anspruchsvoll in Bezug auf den Boden sind, in dem sie gedeihen, und von daher üblicherweise in unseren "durchkultivierten" Forsten eher selten anzutreffen sind. Schlehen und Brombeersträucher im Überfluß habe ich gesehen und mich an den vielen bunten Beeren erfreut.

Auf dem höchsten Punkt der Insel (18 m) steht der im Jahr 1855 erbaute Leuchtturm; ein achteckiger Backsteinbau, also nicht mit der sonst gängigen rot-weißen Bemalung versehen. Von dessen Außenbalkon in etwa 38 m Höhe Sicht auf alle umliegenden Inseln, wie zum Beispiel Rügen, Ruden und Usedom. Auch das Festland eben noch erkennbar.

Weltentrückter noch als auf dem Gnitz fühlt man sich hier; gerade als man sich mit diesem Umstand anzufreunden beginnt, ist die Besuchszeit (täglich maximal fünfzig Personen für maximal zwei Stunden - was zum Kurzvortrag im Infozentrum des Vereines sowie Turmbesteigung und Inselumwanderung gerade ausreicht) schon wieder vorüber. Es gibt auf der Oie kein Wirtshaus, keine Autorität, ja, noch nicht einmal eine öffentliche Toilette. Der freundliche Kapitän unseres kleinen Ausflugdampfers erinnert seine zumeist ältlichen Passagiere circa 45 Minuten vor dem Anlegen daran - woraufhin das einzige Schiffsklosett für den Rest der Fahrt von drängelndem Volk umstanden ist!

Nach dem Ablegen unseres "Seeadlers" stehen die beiden freundlichen Mädchen von Jordsand e.V. in bunten Fleecepullis am verlassenen Kai und winken zum Abschied...ich beobachte sie, bis unser Schiff die Mole passiert hat...danach drehen sie ab und steigen wieder zu ihrem rotbeschindelten Vereinshaus auf...Was sie wohl dabei beredet haben, frage ich mich?

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Ein Tag am Strand. Weißes Gesände. Wonach ich so lange strebte. Weltentrückt. Der Alltag hinfort. Blauer Himmel, etwas Wind. Ein Buch. Klatschende Wellen, etwas unerwartet.
Burgbauen auf Anforderung; kein Zögern, kein Einwand: Wir bauen; es klebt an den Fingern, was jedoch niemanden stört, trieft schwerfällig auf das bereits vorgefertigte Fundament - eine solide Sand-Wand! Ich bastle diverse Burgfriede (Türme) - und denke - wie Phalli!
Und fragte mich eine der Passierenden - ich hätte geantwortet: "Wonach sieht es denn aus?" Aber niemand hat gefragt, obwohl Blicke.
Dann Toben in den Wellen. Kreischendes Kindergeschrei, ich wollte es so - es gefällt mir. Dann Fischbrötchen, nicht knusprig wie gestern im Laden, etwas pappig - aber: was soll´s? Selbst pappige Fischbrötchen schmecken uns! Lecker, in jeder Hinsicht - das Strandleben hier! Wie bei Thomas Mann auf Sylt oder in Nidden, denke ich - nur andersrum!
Abends nach dem Essen im "Kaiser´s Pavillon" (Zander - sehr gut und etwas deftig mit Bratkartoffeln) Rückkehr zum Gestade, zu AK´s Strandkörben und Kiosk: Es gibt Lübzer - von dem wir reichlich ordern - und das Meer rauscht, und der Blick in die Weite entschädigt für vieles! Immer noch Leben am Strand, viel junges Volk, die Lichter auf Wollin schon sichtbar - am Horizont seit Längerem schon mehrere Frachter - ich sitze und schaue und schaue, welche Objektstudien ohne Unterlaß. Ich bin jetzt da. Ich bin jetzt angekommen. Erinnere mich, an das Leben und anderes. Und Vorfreude.

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Am gestrigen Tage Swinemünde. Erstmalig polnischer Boden unter den Füßen des Verfassers. Erwartung einer Art Fortführung der gewohnten Kaiserbäder.
Eine einzige Enttäuschung. "Swinoujscie", so wie die Stadt im Polnischen genannt wird, ist hektisch, laut und überwiegend verkommen. Die Front der fünf- bis achtstöckigen Bauten aus den Sechzigern und Siebzigern, die uns beim Anlegen am Hafenkai gegenübersteht, ist wenig einladend.
Wir machen uns auf in Richtung Kurpark und Promenade. Ein Sirenengeheul, wie man es in den Straßen von San Francisco vermutet, liegt permanent über der Stadt.
Die durchweg an Persönlichkeiten der polnischen Geschichte erinnernden Straßennamen studierend, durchmessen wir die Innenstadt. Langsam wird es grüner, die Alleen sind mit mächtigen Linden bestanden, und es erinnern die anliegenden Bauten vereinzelt, ich wiederhole: vereinzelt an bessere Zeiten. Es wirkt heruntergekommen, vieles, sehr vieles.
Die Promenade in der Nähe des gleichwohl von hier nicht sichtbaren Ostseestrandes gleicht einem Jahrmarkt, einem Basar. Es reihen sich Dönerbuden, Frittenschmieden, Bierzelte, Spielhallen und Ramschläden aneinander. Wir stehen staunend vor einem Schnellrestaurant, in dem die Gäste auf einer Plattform an Tischen sitzend, dieselbe mit einem Hebel in Schaukelbewegungen versetzen können... (bon appetit!)
Grauenhaft. Wir verlassen die Promenade über die ul. Matejki, das "Amphitheater" passierend (eine Freilichtbühne), dann über die ul. Chopina zurück Richtung Hafen. Besonders die ul. Chopina ist umsäumt von einem parkartigen Gelände mit sehr schönen, alten Baumbeständen. Eine andere Seite von Swinemünde, denken wir.
Bald erreichen wir den großen Kreisverkehr, der an das Hafengebiet angrenzt. Hier lassen wir uns in einem Straßencafe nieder und genießen Capuccino, den eine freundliche und sehr hübsche junge Bedienung serviert.

Drei Stunden nach unserer Ankunft verlassen wir die Stadt nachdenklich und erleichtert.


Einstell-Datum: 2008-07-11

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (2 Stimmen)

 

Kommentare


Das ist almebo
Kommentar # 1: Sehr schön beschrieben
Autor: almebo, 12.07.2008 um 22:06 Uhr


Ich glaube ich habe Dir schon mal attestiert, dass an Dir ein Reiseschriftsteller verloren gegangen ist.

Hab`s mit viel Interesse gelesen. Meine Frau hat mir dabei mit etas Wehmut über die Schulter geschaut. Du weisst schon warum!

Warst Du - oder kommst Du noch nach STETTIN ?

Lieben Gruss

AL



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