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Reise, Reise
Autor: Christian Ertl · Rubrik:
Kurzgeschichten

Wäre ein Drachen aus dem Wald gekrochen oder ein Gnom mit einem Goldtopf unterm Arm durch das Bild, das sich Sara bot, gelaufen, dann hätte sie das nicht weiter verwundert. Der See lag inmitten eines nahezu undurchdringlichen Waldes und der Weg dahin war für sie und Erwin ein Abenteuer für sich, geprägt von unmenschlichen Mühen und Strapazen. Aber dieser Anblick eines glitzernden Juwels, eingebettet in herbstfarbenem Samt war fürs Erste Entschädigung genug.
„Ich würde sagen“ meinte Erwin, als er dem Blick seiner Freundin folgte und auch vom Zauber der Gegend endlich gefangen genommen wurde „wir haben eine ideale Stelle für unser Nachtlager gefunden.“ Ihr Blick war immer noch auf diese perfekte Idylle gerichtet. „Ja, es ist ideal. Wie weit ist es noch bis zur Höhle?“ Erwin lud den Rucksack ächzend von seiner Schulter „Ich würde sagen, noch ungefähr einen Tagesmarsch. Sag mal, wundert es dich nicht, das wir noch keinem begegnet sind?“ Sara konnte ihre Aufmerksamkeit endlich dem jungen Mann schenken. „Nein, ist ja nicht gerade ein All-Inclusive Urlaub, oder?“
Erwin musste schmunzeln. Natürlich nicht. Und wenn er es genau nahm, waren auch sie selber schon zwei zuviel in dieser unberührten Landschaft. Als Abenteuerurlauber war es nicht weiter verwunderlich, keinem Menschen über Tage hinweg zu begegnen. Aber hier, am anderen Ende der Welt, in dieser perfekten Umgebung, keine einzigen anderen Leute anzutreffen, machte ihn schon etwas nachdenklich. Heutzutage kann man als Individual-Tourist nie wirklich ganz alleine sein und dieser See und die Höhle dahinter waren seltene weiße Punkte auf der Landkarte dieses Inselreichs (oder eben auf den Karten der Abenteurer).
Als endlich die Schlafsäcke ausgelegt und der Grillplatz eingerichtet war, kuschelten sie in der warmen Abendsonne aneinander und genossen diese absolute Ruhe. Nicht einmal Flugzeuge waren zu sehen. Aber noch eigentümlicher kam ihnen vor, das nicht mal Tiere zu hören waren. Das letzte Vogelzwitschern lag schon einen Tag zurück, aber jetzt erst fiel es ihnen auf. „Seltsam“ meinte Sara „irgendwie ist hier alles perfekt, aber doch stimmt etwas nicht.“ „Ja, keine Tiere, keine Fische, keine Menschen.“ Erwin schaute sich beunruhigt um. „Ich habe noch nie einen so schönen Ort gesehen, aber gerade weil er so perfekt ist, verängstigt er mich auch.“ „Ich glaube“ lächelte sie ihn an „wir sind es einfach nur nicht gewohnt, in der heutigen Zeit einen so schönen Ort genießen zu können.“ „Mmh, ja, vielleicht hast du Recht, aber trotzdem, hier stimmt etwas nicht.“ „Ach Blödsinn.“ Sie gab ihm einen Knuff auf den Arm „Wirst schon nicht gleich von einem Waldgeist verschleppt werden.“
Sie genossen das Abendessen, löschten das Feuer, da es angenehm warm war (jetzt fiel Erwin auch auf, das die obligatorischen Mücken fehlten) und krochen in ihre Schlafsäcke. Sara hatte einen seit langer Zeit überfälligen tiefen, völlig entspannten Schlaf. Sie erwachte mit den ersten Sonnenstrahlen, blinzelte ein paar Mal und stellte zufrieden fest, das sie immer noch im Paradies war. Noch im Liegen schaute sie zu ihrem Freund rüber und schreckte hoch. Er war weg.
Nicht nur Erwin war weg. Auch sein Schlafsack und der Boden darunter. Da, wo letzte Nacht ihr Freund einschlief, war jetzt das Ufer des Sees. Für ihren Geschmack störten sie jetzt zwei Sachen: Nicht nur das Fehlen ihres Freundes beunruhigte sie. Nein, auch das der See plötzlich über Nacht so verdammt nahe an ihren Schlafplatz gerückt war, kam ihr äußerst seltsam vor. Und da fiel ihr noch etwas auf. Ihre Füße müssten eigentlich im Wasser baumeln, aber da, wo das untere Ende des Schlafsacks mitsamt ihren Füssen sein sollte, war der See und sonst nichts. Der See!!
Der See, schoss ihr durch die Gedanken, bevor der Schmerz einsetzte. Der See hat ihren Freund verschluckt, und das mit voller Absicht. Und als Nachspeise hat sich das Wasser auch noch ihre Füße gegönnt. Jetzt endlich musste sie vor Schmerzen aufschreien und gleich wieder verstummen, den mit Entsetzen beobachtete sie, wie in der Mitte des Sees irgendetwas knapp unter der Oberfläche eine Welle erzeugte, die auf sie zuraste und immer größer wurde. Sie begann erneut zu kreischen, versuchte verzweifelt, sich aufzurichten und weg vom Wasser zu kommen.
Sekunden später war es wieder still an diesem schönen Ort.


Einstell-Datum: 2005-02-08

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 333 (1 Stimme)

 

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