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Linie 2 - Endstation Tod
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

- In Memoriam Jürgen F. (1949 - 2004) -

Tagtraumreise durch eine versunkene Stadt ... Diese Stadt gibt es nicht mehr. Ihre Häuser sind abgerissen und an ihrer Stelle andere neu erbaut. Die Straßenbahn ist stillgelegt, die Identität der Stadt ausgewechselt.

HAUPTBAHNHOF: Ich steige in die Zwei. Sie ist eine von noch zwei Linien. Wir rollen in die Unterstadt und ohne Halt an einer Privatklinik vorbei. Oma Erna wird hier einmal sterben. Sie ist eine Oma zweiter Klasse, nicht vorzeigbar in ihren alten Röcken. Die Kinder rufen ihr "Hexe" nach. Mein Vater hat sie in einer Baracke abseits von unserem Haus untergebracht. Wenn sie sich für eine Konditorei fein macht, benutzt sie die Brennschere. Ich habe einmal gesehen, wie sie die Brennschere auf der glühend heißen Ofenplatte erhitzt. Wenn sie sie dann benutzt, riecht es nach versengtem Haar. Eines Tages wird Oma Erna auf die heiße Ofenplatte fallen und nachts allein in der Klinik sterben. Ich werde sie kaum gekannt haben.

HAUPTPOST: Hier fängt das Geschäftsviertel an. Hinter der Brücke steht das älteste Hochhaus der Stadt. Der Fluss stürzt neben der Brücke einen Katarakt hinunter. Auf und neben der Brücke ist es so laut, dass man kein Wort verstehen kann. Und es stinkt gewaltig: die Abwässer von Hütte und Stahlwerk.

DENKMAL: Er ist nicht der Gründer der Stadt, aber er schaut von seinem Sockel, als wäre er es. Ein Fürst in seinem Reich - Königreich Stumm. Ein Bankhaus steht im Schatten der dröhnenden Hochöfen auf dem Hügel. Zwischen den hohen runden Türmen mit ihren ewigen Feuern und dem Walzwerk auf der anderen Seite kommen langsam schmutzig gelbe Trolleybusse heruntergefahren. Es gibt nur ein Kaufhaus. Meine richtige Oma geht in ein kleines Haus mit einem Tabakladen. Sie führt daheim die Haushaltskasse und sagt zu Opa: "Ein Laster darfst du auch haben." Sie vergisst nie, Schnitttabak aus der Stadt mitzubringen. Sie sagt über den Tabakhändler und seine Leute: "Es sind Juden. Sie sind zurückgekommen." Wir fahren steil bergauf.

MARIENKIRCHE: Sie ist wuchtig, groß wie ein romanischer Dom, und ihre Fassade und das Dach starren vor Schmutz. Zentimeterdick der graubraune Eisenhüttenstaub. Der evangelische Dom ist genauso groß, steifleinen gotisch und steht unterhalb der Marienkirche. Die konfessionelle Kluft ist fast ein Abgrund, wie später in Nordirland, nur dass keine Bomben hochgehen. Wenn die Tagesschau beginnt, werden die Glocken der Marienkirche geläutet, mit Absicht so laut, dass keiner im Viertel die Nachrichten versteht. Es geht weiter bergauf.

OBERER MARKT: Auf dem freien Platz hat einmal die Synagoge gestanden. Das Rathaus hat eine blassblaue Steinfassade. Manchmal fallen kleine Steine heraus. Eines Tages stehen wir als Gymnasiasten davor und skandieren Parolen. Der OB kommt nicht heraus. Jahre später wird er an einer Mandeloperation sterben. Man stirbt doch nicht an einer Mandeloperation. Wir fahren wieder bergab.

STADTBAD: Dahinter liegt das Stadion. Der Verein spielt vorübergehend in der Bundesliga. Bei den Punktspielen wird ER auch aufgestellt. Sein Schulfreund wohnt gegenüber vom Stadtbad, in einer der Mietskasernen. Einmal habe ich die beiden in einer Grünanlage liegen sehen, auf dem Rasen, die beiden Körper in entgegengesetzter Richtung lang ausgestreckt, jeder seinen Kopf auf einer Schulter des anderen gebettet. Sie haben in ihren Himmel gesehen. Für mich kein Platz. Das Bild in mir noch da.

ENDSTATION: Wir sind noch einmal bergauf gefahren. Da ist der Waldrand, da ist die Rotkreuzsiedlung. Die kleinen Häuser sind für die Überlebenden einer Gasometerexplosion erbaut, darunter meine Großtante und meine Uroma. Ich sehe die Uroma jetzt bei der Hochzeit der Großtante. Als Fünfzigerin verheiratet sie sich ein zweites Mal und bekommt einen Stiefsohn. Er will mir die Bundeswehr schmackhaft machen, aber ich weiß schon: So ein Kerl wie er will ich nicht werden. Die Uroma ist der früheste Mensch, den ich je kennen lerne. Sie ist vom Leben erschöpft. Sie sagt fast nie etwas und sitzt still auf dem Sofa. Nimmt sie mich überhaupt als Einzelwesen wahr? Wir sind so viele. Die Großtante sagt: "Sie hat Krebs. Ich lasse sie nicht mehr operieren."


Die ewigen Feuer sind längst erloschen.


Einstell-Datum: 2014-03-14

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

Bewertung: 22 (1 Stimme)

 

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