Hope Evans saß auf einer der Bänke im 'The Grove' Einkaufszentrum, nahe dem Springbrunnen, und weinte.
Die Kühle des Pazifiks kroch langsam von der Küste heran. Hope fröstelte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie blickte auf die spiegelglatte Wasserfläche vor sich. Es war schon weit nach Mitternacht und das lustige Fontänenspiel des Brunnens schon lange verebbt.
(Wohin soll ich gehen, wohin soll ich fliehen?)
Ihre Gedanken kreisten seit Stunden nur um diese Frage.
Nett, Hope. Wirklich nett.
Und wenn wir schon mal dabei sind WOHER kommst Du? flüsterte die Stimme in ihr.
Sie kam aus New York. Soviel wusste sie.
Okay, Hope. Du kommst aus New York. The Big Apple, The city that never sleeps. Aber aus welchem Bezirk? Queens Brooklyn? Das Village? Upper Westside?
Ich weiß nicht, antwortete Hope ihrer inneren Stimme wahrheitsgemäß.
Na schön, Hope. Man kann schon mal vergessen woher man kommt. Ich meine, verdammt... Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben damit, zu vergessen, woher sie kommen.
Aber ich will mich doch erinnern!
So? Willst du das wirklich, Hope? Und was machst du dann hier in L.A.?
"Ich lebe hier", flüsterte sie leise.
Ahso, Darling. Du lebst hier. Nun, was hat dich denn hier in das sonnige Kalifornien geführt? Möchtest du dieses Geheimnis vielleicht mit deiner inneren Stimme teilen?
Du kennst die Antwort, entgegnete Hope der Stimme.
Natürlich, kenne ich die Antwort, aber ich möchte, dass du es aussprichst.
Hope begann wieder zu weinen.
Ich will nicht.
Oh, da kullern wieder die Tränchen! Scheint so, als kämen wir der Sache langsam auf den Grund, findest du nicht? Also, warum bist Du hier?
"Wegen der Stille.", flüsterte Hope. "Der weißen Stille."
Bevor sie wagte die Augen zu öffnen, lauschte sie.
Nichts.
Die Welt war still.
Schließlich öffnete sie ihre Augen und bereutes es sofort.
Dunkelheit umfing sie. Ihr Atem rasselte. Keine Luft. Sie hustete. Mehliger Staub verklebte ihr Rachen und Nase und brannte in den Augen. Sie hustete erneut und hatte einen metallenen Geschmack im Mund. Mühsam versuchte sie, unter dem Taxi hervor zu kriechen und stieß sich den Kopf. Der Fahrer hatte die Wagentür aufgelassen. Sie wand sich unter dem Taxi hervor. Der Fahrer war nicht mehr da. Sie rieb sich vorsichtig die verklebten, juckenden Augen, machte es durch das Reiben aber erst einmal nur schlimmer.
Als das Brennen nachließ versuchte sie sich zu orientieren.
Die Welt war weiß und still. Nicht ein einziger Laut war zu hören.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, was gerade geschehen war.
Die Türme. Sie hatten in Flammen gestanden. Und dann... dann waren sie eingestürzt. Erst der Eine, dann der Andere. Einfach so.
Du musst hier weg.
Ja. Du hast Recht, Stimme. Ich muss hier weg.
Nein. Ich meine, Du musst hier weg! Du musst die Stadt verlassen. Sofort.
Warum? Was ist los?
Du bist in Gefahr.
Ich bin noch am Leben. Zählt das nicht? Die ganze Welt ist weiß und still und ich bin noch am Leben.
Ja. Noch. Aber jetzt musst Du gehen. Los. Geh. Beweg Deinen süßen Hintern aus der Stadt.
Wer bist Du?
Dieselbe Frage könnte ich Dir stellen, Babe. Kennst Du die Antwort darauf?
Sie versuchte sich zu erinnern. Natürlich kannte sie die Antwort. Ihr Name war...
"Mein Gott...", flüsterte sie. "Wer bin ich?"
Jetzt reden wir tacheles, Mädchen.
Sie konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber dafür an etwas, dass in ihrem Inneren etwas rührte. Eine sanfte Resonanz wie bei einer Gitarrensaite. Es war der Widerhall eines Gedichts. Oder vielleicht war es auch ein Lied. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es wichtig war.
"Wohin soll ich, wohin flieh ich?" Sie sagte es leise. Ihre Stimme war noch kratzig vom Staub. Dann machte sie einen Schritt nach vorn. Ihre Sneaker versanken darin.
Das alles passiert nicht wirklich, dachte sie. Ich träume. Ich träume ich bin auf dem Mond. Vielleicht auf der dunklen Seite des Mondes, in einer vergessenen, verlorenen Stadt.
Doch sie war nicht auf dem Mond. Sie sah ein Straßenschild.
Trinity.
Nein. Auf dem Mond gab es keine Straßen mit dem Namen Trinity. Sie war in New York City. Riesige Schmetterlinge regneten vom Himmel. Es dauerte einen Augenblick, bis sie realisierte, dass es nur hunderte lose Papierblätter waren. Ein neongelber Post-It Zettel landete vor ihren Füßen, wie ein verirrter Zitronenfalter. In schnörkeliger Handschrift stand darauf:
"Hope." flüsterte sie. Ein schöner Name. Nicht nur wegen seiner Bedeutung.
Hoffnung...
Ihre Augen brannten, doch es kamen keine Tränen. Sie betrachtete den Zettel eine Weile. Dann ging sie weiter. Richtung Süden. Vielleicht fuhr noch eine der Fähren.
Außerdem hatte die Stimme Recht. Sie musste hier weg. Sie war in Gefahr. Vielleicht sollte sie wirklich die Stadt verlassen. Doch wohin sollte sie dann gehen? Sie kramte in den Taschen ihrer Jeans. Sie trug nichts bei sich. Keinen Schlüssel, kein Handy, keine Brieftasche - Nichts. Dann ertaste sie einen kleinen, festen Gegenstand in ihrer rechten Hosentasche. Sie holte in hervor.
Es war ein kleiner Schlüssel mit einer eingravierten Nummer. Ein Schließfach-Schlüssel. Doch zu welchem Schließfach gehörte er? Plötzlich wusste sie es. Sie konnte sich nicht an ihren eigenen Namen erinnern, doch sie wusste jetzt, wohin sie gehen musste. Weitläufig umging sie das Trümmerfeld, das schon bald als 'Ground Zero' ins Gedächtnis der Welt eingeschrieben werden würde, und marschierte nach Norden in Richtung Midtown.
Vom Financial District war sie den Broadway hinauf bis zur Fith gelaufen. Dann hatte sie sich Richtung Osten gehalten und über die 42. Straße das Grand Central Terminal erreicht.
Die Stimmung in der Central Station war gedämpft und ängstlich. Eine Kathedrale der Trauer. Trauben von Menschen hatten sich um die Großbildschirme versammelt und vereinzelt wurde geschluchzt und geweint. In all den Jahren die sie (vermutlich) in New York verbracht hatte, war sie nie Zeuge von einer solchen Szenerie geworden.
Die New Yorker standen dicht in Gruppen gedrängt. Viele weinten. Einige hielten sich verloren aneinander fest. Alle wirkten sie wie gelähmt.
Hope, wie sie beschlossen hatte sich temporär zu nennen, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und ging zu dem Bereich der Schließfächer. Nach einigem Suchen fand sie schließlich das Richtige.
E103.
Sie zitterte. Vielleicht würde sie hier eine Antwort auf ihre Fragen finden.
Vorsichtig öffnete mit dem Schlüssel das Fach und sah hinein. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Ein brauner Briefumschlag. Letter Size. Sie nahm ihn, riss ihn auf sah hinein.
Ein dickes Bündel Dollarnoten. Eine Kreditkarte. Visa Card. Ein Sozialversicherungsausweis. Ein kalifornischer Führerschein. Das Passbild zeigte eine lächelndes, junge Mädchen. Man könnte sie schön nennen.
Eigenlob stinkt, dachte sie.
Das Foto zeigte ihr Gesicht. Große, wache Augen, eine feine Nase und schmale, aber wohlgeformte Lippen.
Sie sah auf den Namen und ihr wurde schwindelig.
Hope Evans.
(Bin kurz weg, Hope.)
(Wohin soll ich, wohin flieh ich?)
"In was bin ich hier hineingeraten?", dachte sie laut. Sie griff nach dem Bündel Dollarnoten. Es war dick. Sie zählte kurz durch. Sie kam auf knapp dreiundzwanzigtauend Dollar. Wer immer dieses Schließfach gemietet hatte, er sorgte vor.
Und wenn du es selbst warst?, dachte sie. Sie konnte sich nicht erinnern. Aber sie war sich sicher, noch nie soviel Geld auf einem Haufen gesehen, geschweige denn besessen zu haben. Sie würde es herausfinden. Doch jetzt musste sie erst einmal weg von hier
(Wohin soll ich, wohin flieh ich?)
Die Stimme hatte Recht. Sie ging zum Ticketschalter und kaufte sich kurzentschlossen eine Fahrkarte nach Kalifornien.