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Das erste Mal
Autor: Christian Heinke · Rubrik:
Kurzgeschichten

Die Kälte war dieses Jahr ganz plötzlich über das Land gekommen. Von einem Tag auf den anderen wurde es Herbst. Ich weiß nicht wie es ihnen geht, aber mich beunruhigt das Kommen der Kälte immer ein wenig. Es erinnert einen daran, das sie eines Tages kommt - und dann nicht mehr gehen wird.
Eines Tages wird sie einen mit sich nehmen.
Sie sehen schon, der Herbst macht mich immer etwas melancholisch. Doch diese Jahreszeit hat auch etwas für sich. Alles wird weniger hektisch und die Menschen handeln und denken ein wenig bedächtiger und mit mehr Ruhe. So fand ich mich auf meiner, mir seit Jahren vertrauten Bank im Stadtpark wieder und genoss diesen angenehmen Herbsttag. Mütter schoben ihre Kinder in kleinen Kinderwagen vor sich her. Die Luft war noch mild und roch nach fallenden Blättern.
Da setzte sich ungefragt ein Mann zu mir auf die Bank.
Sofort fühlte ich mich unbehaglich. Über die Jahre ist diese Bank irgendwie zu meiner Bank geworden. Doch wenn sie in ein gewisses Alter kommen, vermeiden sie jedwede unnötige Auseinandersetzung. Sollte der ältere Herr doch auch ein wenig die Sonne genießen! Also faltete ich meine Zeitung zusammen und schickte mich an aufzustehen. Doch dann tat der Mann etwas, was mich inne halten ließ:
Er kramte eine kleine gefaltete Papiertüte aus seiner riesigen Manteltasche, öffnete seine freie Hand und streute sich aus dem Tütchen ein paar Vogelkörner auf die Handfläche. Dann wartete er geduldig.
Was mich daran faszinierte, war, mit welcher Eleganz er die Bewegungen seiner Handlungen vollführte.
Und von noch etwas war ich sehr beeindruckt. Seine ausgestreckte Hand zitterte nicht. Er hielt vollkommen ruhig, wie eingefroren in der Zeit.
Plötzlich flatterte ein Sperling heran und ließ sich auf der Hand des Mannes nieder. Kurz darauf ein zweiter - dann ein dritter. Die Hand des alten Mannes blieb absolut ruhig. Nachdem alle Körner verspeist waren, flogen die kleinen Kerle wieder davon.
»Faszinierend.« sagte ich. Der Mann nickte leicht.
»Ja, die Sperlinge mögen mich.«
»Ist da irgendein Trick dabei?«
Der Mann lächelte. »Nein. Die Sperlinge mögen mich einfach, das ist alles.«
Ich war auf diesen alten Mann neugierig geworden. Ich streckte die Hand aus um mich vorzustellen.
»Heinrich.«
»Schmitt.«
Er  nahm meine Hand und drückte sie. Sein Griff war fest. Seine Hand kühl.
»Und, was machen Sie so, Herr Schmitt?« fragte ich.
»Bitte?« fragte Schmitt, als hätte er die Frage nicht verstanden.
»Nun, was tun Sie? Sind sie Rentner?«
Er sah mich ruhig an und lächelte.
»So gut wie.« Ich runzelte die Stirn. Offenbar war Herr Schmitt kein sehr gesprächiger Zeitgenosse. Er lehnte sich gegen die Bank und sah blinzelnd zur Sonne hinauf.
»Ich töte Menschen.« sagte er ruhig. Dann streute er sich wieder etwas Sperlingsfutter auf die Hand.
»Ähm, entschuldigen Sie... Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden. Was machen Sie noch einmal?« Wieder lächelte der Mann freundlich.
»Sie haben mich ganz richtig verstanden. Ich nehme Menschen ungewollt ihr Leben.«
Ich wusste nicht recht, wie ich darauf reagieren sollte. Der Mann musterte mich.
»Sie glauben mir nicht. Ich sehe es in Ihren Augen.«
Ich musste schlucken. Dieses Gespräch entwickelte sich in eine merkwürdige Richtung.
»Nun, natürlich glaube ich Ihnen nicht, Herr... Herr...«
»Schmitt«, sprang er ein.
Eigentlich höre ich ganz gut, aber ich glaubte der alte Herr hätte seinen Namen wie ›Schnitt‹ ausgesprochen. Ich überlegte mir, was in diesem Mann wohl vorging. Vielleicht spielte er gern Spiele. Ich beschloss, mitzuspielen. Mal sehen, wohin das führen würde...
»Sie behaupten also, dass Sie Menschen umbringen.« sagte ich.
»Ganz recht.«
Das ist doch einfach lächerlich. Ich musste Lachen.
»Und tun Sie das so zum Spaß, oder... des Geldes vielleicht?«
»Geld spielt überhaupt keine Rolle. Das Entscheidende ist die Liebe, mit der ich es tue.«
Na, das wurde ja immer schöner.
»Ah«, sagte ich. »Und wie lange machen Sie das jetzt schon so?«
»Oh, eine Weile.«
Dieser Mann war nicht zu knacken. Einerseits schien er ein Gespräch zu suchen und andererseits erging er sich in diesen seltsamen, rätselhaften Antworten. Im Radio hatten sie angekündigt, dass dies eines der letzten schönen Herbsttage sein würde. Ich beschloss den Rest davon mit angenehmeren Tätigkeiten zu füllen.
Ich stand auf.
»Bitte...« sagte der Mann und hob beschwichtigend die Hand. »Bleiben Sie. Nur noch einen Moment.«
Ich sah ihn an. Nur ein harmloser und freundlicher Herr.
»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich möchte Ihre Zeit nicht weiter...« begann ich.
»Nun, Sie sind es« fiel er mir ins Wort.
»Bitte?«
»Sie sind unhöflich.«
Ich war gelinde gesagt ein wenig baff.
»Gut. In Ordnung. Dann bin ich halt unhöflich.« entgegnete ich achselzuckend und wandte mich zum gehen.
»Sie bleiben.« forderte der ältere Herr. Mittlerweile schon etwas aufgebracht, drehte ich mich wieder zu ihm.
»Warum sollte ich das Ihrer Meinung nach wohl tun?« fragte ich ihn herausfordern.
»Weil Sie müssen.« sagte der Mann schlicht. Überrascht hob ich eine Braue.
»So, muss ich das?!«
Ich weiß nicht was geschehen wäre, wenn ich in diesem Augenblick gegangen wäre. Vielleicht nichts. Vielleicht alles. Aber ich ging nicht, sondern setzte mich wieder hin.
»Also schön. Hier bin ich wieder. Was haben Sie auf dem Herzen?«
Der Mann lächelte mich an. Dann sah er wieder in den Himmel.
»Ich bin müde, wissen Sie.«
»Tja, Menschen zu töten ist sicherlich ermüdend.« entgegnete ich. Ich sah auf die Uhr und suchte nach einem weiteren Grund dieses Gespräch endlich zu beenden.
Der Mann folgte meinen Blick.
»Keine Sorge. Wir haben noch etwas Zeit.«
»Zeit, wofür?«
»Nun, für das erste Mal.«
»Ich habe nicht die blasseste Ahnung wovon Sie da reden, guter Mann« Er drehte den Kopf.
»Sehen Sie das kleine Mädchen da drüben?« fragte er und deutete in die Richtung. Etwas fünfzig Meter entfernt setzte sich gerade ein kleines Mädchen mit ihrem Großvater auf eine Bank und schleckte ein Eis.
»Was ist mir ihr?« fragte ich.
Der Mann betrachtete das Mädchen und schüttelte leicht mit dem Kopf.
»Wissen Sie, wenn sie so jung sind, zerreißt es mir immer fast das Herz.«
Ich sah von ihm zu dem Mädchen und musste schlucken. Meinte er etwa...?
»Oh, nein. Das wagen Sie nicht.«, sagte ich.
Der ältere Herr sah mich fragend an.
»Sie wollen mir doch nicht weiß machen, dass Sie jetzt da rüber zu dem kleinen Mädchen gehen und es umbringen, oder?«
Er sah mich an. Plötzlich begann er lauthals zu Lachen. Es war herzhaft - und ansteckend. Ich lachte mit ihm. Also war alles doch nur ein dummer, makabrer Scherz gewesen!
»Einen Moment  lang, hatten Sie mich!«, sagte ich und wischte mir eine Träne aus den Auge.
»Nur keine Sorge, ich werde dem Kind nichts zu leide tun...«
Plötzlich war seine Stimme wieder sachlich und kühl:
»Sie werden.«
Ich erstarrte.
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich darauf entgegen sollte.
»Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?«
»Natürlich. Sie werden derjenige sein, der das Mädchen tötet.«
»Sie sind verrückt. Vollkommen meschugge!« stieß ich lachend hervor.
In meinem ganzen Leben hatte ich einem Menschen nicht auch nur ein Haar gekrümmt!
Der Mann schien wenig beeindruckt. Gelangweilt strich er eine Falte in seiner Hose glatt. In einem ruhigen, ernsten Ton begann er zu sprechen:
»Verstehen Sie denn nicht? Meine Zeit ist abgelaufen. Jetzt sind Sie an der Reihe, die Arbeit zu tun.«
Er holte eine altmodische Taschenuhr hervor. Der Deckel sprang auf .
»Oh, es ist Zeit.«
»Zeit?«, fragte ich.
Seine Augen waren erfüllt von Ernst -  tödlichem Ernst.
»Nun, für Ihr erstes Mal.«
Mir wurde schwindlig.
Langsam begann es in mir zu dämmern, wem ich da gegenüber saß. Aber das konnte nicht sein. Nein...
»Aber wie... Das ist doch unmöglich!«
»Es ist einfach so. Am Anfang habe ich es auch nicht glauben wollen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran.«
Ich sah zu dem Mädchen. Sie wirkte jung, gesund und fröhlich.
»Ich... ich kann das nicht tun.« sagte ich tonlos.
»Oh, doch, Sie können.«
Ich schluckte.
»Nun, auf Fälle werde es nicht tun.« sagte ich entschlossen.
Der Mann stand auf und berührte mich mitfühlend an meiner Schulter.
»Oh doch, das werden Sie.«
Dann ging er. Noch einmal drehte er sich um:
»Und denken Sie daran, Heinrich. Tun Sie es immer mit Liebe.«
Dann war er fort.

Ich weiß nicht, wie lang ich auf der Bank saß. Es konnte nicht viel Zeit verstrichen sein, denn das Mädchen saß noch immer auf ihrer Bank.
Es leckte vergnügt an ihrem Eis und strahlte ihren Großvater an. Ein herrlicher Anblick. So voller Leben.
Warum sollte sie sterben? Eine Träne rollte meine Wangen hinab. Sie war kalt und schmeckte nach Nichts.
Der Großvater holte ein Butterbrot heraus und aß es. Ein paar Krümel gab er den Spatzen. Die Kleine hatte etwas Eis am Mundwinkel.
Was hatte Schmitt noch gesagt?
Tun Sie es mit Liebe.
Ich hatte immer geglaubt, wenn letztlich die Kälte kommen würde, nähme sie mich mit sich.
Ich hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, wohin sie mich führen würde.
»Gott vergib mir«, murmelte ich. Dann stand ich auf und ging zu ihr...

Ich machte es ganz ordentlich...

... für mein erstes Mal.


Einstell-Datum: 2005-04-19

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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