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Großes Defilee auf einer Kellertreppe
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Erzählungen

Da er sich langweilte, verfiel er darauf, sich für einzelne Gäste weibliche Toiletten aus historischer Zeit auszudenken. Sie mussten zu ihren Körperhaltungen und den einzelnen Bewegungen passen. Einem hätte etwas Weißes, Weites, weich Fließendes nach der "griechischen" Mode des Direktoriums gut gestanden. Er konnte sich auch die Empiremöbel vorstellen, in denen er sich mit knappen und anmutigen Bewegungen ergangen hätte: ein Modell für Ingres. Zu einem anderen hätte nur die Krinoline gepasst. Auch für ein bayrisches Dirndl fand sich der ideale Träger: nicht mehr ganz jung, mäßig verfettet, schlaffe Haltung – so sahen sie doch in den Bierzelten aus. Und wie jener, jedes Mal wenn er die Keller-Bar verließ, um in die zu ebener Erde gelegene Diskothek zurückzukehren, sich treppauf mit immer derselben Handbewegung über den imaginären Petticoat strich – man begriff, die Bewegung des Nackens dabei sollte "aufreizend" wirken -: Es war Marilyn als Matrone.

Einer sah aus wie der "Zigeunerbaron" in einer Liebhaberaufführung. Er saß wie eine fleischige Pflanze auf einem Hocker und ließ die Blicke schweifen. Es bewachte ihn leider ein guter Fünfziger mit ergrauten Haaren in der Aufmachung eines Punkers, ein abscheulicher Drache. Da war nichts zu hoffen, das stand von vornherein fest. Dennoch musterte ihn Manfred weiter mit Vergnügen. Sein junges Gesicht, schon etwas üppig und vom martialischen Schnurrbart eben im Gleichgewicht gehalten, vermittelte eine Ahnung von irgendetwas Östlichem, Wildem – und zugleich hatte er einen zivilen Europäer von heute vor sich, der durch seine Ledermontur das Exotische an sich bewusst betonte. Das ergab eine fesselnde Mischung aus Sein und Schein, eine Melange, deren Bestandteile nicht wirklich auseinanderzuhalten waren. Der "Zigeunerbaron" ließ sich Manfreds enthusiastische Blicke aus fünf Metern Entfernung gern gefallen. Der Drache wurde nervöser und misstrauischer. Sie brachen bald auf. Manfred sah ihnen hinterher, wie sie die Treppe hinaufgingen, der Hübsche zuhinterst. Und natürlich drehte er sich oben an der Treppe noch einmal um, sich zu vergewissern, dass man ihm nachsah. Es war auch die Treppe des schmerzlich süßen Verzichts. Die Lust am Verrat war schon da, aber die Gelegenheit würde erst später kommen, vielleicht.

„Sie sind aus Belgien“, sagte der Barkeeper, der auch die Treppe hinaufsah. Um diese Zeit trafen neue Gäste nur noch in größeren Abständen ein.

„Flamen oder Wallonen?“

„Nein, es sind Belgier.“ Er wollte nichts richtigstellen. Wahrscheinlich wird er den jungen Mann niemals wieder sehen und vielleicht wird ihnen die kleine Szene jahrzehntelang nicht aus dem Kopf gehen, ihm nicht und dem anderen auch nicht; ungestilltes Verlangen, unbegrenzt haltbar. Erinnert man sich solcher Gesichter und Gestalten auf dem letzten Lager, das keiner mit einem teilt? Dann war so die nie erlangte Süße des Lebens beschaffen. Übrigens konnte der junge Belgier selbst Masochist sein.

Er starrt die wieder verlassen daliegende Kellertreppe hinauf. Oben geht es um eine Ecke in den offenen Hausflur, der erst auf der Straße endet. Niemand biegt um die Ecke und will zu ihnen herunterkommen.

Plötzlich ist ihm, als bevölkere sich die Treppe mit Gestalten vergangener Jahre. Das Publikum hier ist im abgelaufenen Jahrzehnt noch viel besser gewesen. Sie können ja nicht alle tot sein …

Zuerst ein hübscher Mann, ausgerechnet im dunklen Abendanzug. Er hatte einen Bauchansatz und schmuste mit einem anderen Gast – er sah sie nur einmal hier. Dann ein schlanker junger Mann mit Lymphknoten am Hals, so dick wie Taubeneier. Dann ein Tscheche, der Deutsch mit holländischem Akzent sprach; er züchtete Bluthunde zum Verkauf und hielt selbst einen Königspudel. Zwei Freunde, die Wilhelm Busch liebten. Ein Jude, der Sinologe war. Ein junger Südamerikaner mit einer Figur wie ein Bügelbrett und strahlendem Gesicht und leuchtenden Augen, Musiker wahrscheinlich. Ein attraktiver Araber, der nie ins Innere der Bar vordrang, immer nur mit Anzeichen sittlicher Entrüstung im Eingang stehen blieb. Ein Italiener, der ohne Vorwarnung den Barkeeper ohrfeigte, was keine Reaktion auslöste, seltsam. Später am Abend fragte der Italiener: Habe ich dich eben im Dunkelraum gefickt? (Nein, er war es nicht gewesen.) Ein sadistischer Friseur aus Zürich. Ein sehr vitaler Masochist aus Minden. Ein entschiedener Anhänger von Franz Josef Strauss. Einer, der einen Film gedreht hatte, für den er keinen Verleih fand. Einer, der an einem Roman schrieb und prophezeite, man werde beim Lesen an Dostojewski denken. Männliche Stripteasetänzer aus einem Club in der Nähe, zwischen zwei Vorstellungen. Drei Männer, die bei der Sparkasse arbeiteten. Zwei von der Bundesbahn. Ein Zugabfertiger der Hochbahn. Und einer erzählte jedem, er arbeite für einen Geheimdienst. Ein Ex-Polizist. Noch mehr Friseure. Recht unauffällig: ein früherer Intendant des Schauspielhauses.

Sie alle kamen und gingen … kamen und gingen … und die Treppe wuchs Jahr um Jahr unmerklich sowohl in die Tiefe wie auch himmelwärts.


Einstell-Datum: 2016-07-08

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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