Ich lag im schmalen Schattenband auf dem Balkon. Die trockene Haut leicht gerötet, langsam an der Zigarette ziehend. Der Tabak war trocken und scharf. Ich war entspannt und gut gelaunt, trotzdem noch einige Verpflichtungen offenstanden, vor denen ich mich sichtbar drückte. Gedankenfetzen, die sich schon lange vorher um das Wünschen gekreist hatten und um die Frage, warum wünschen sich die einen weniger, als die anderen, oder warum grenzen sie ihre Wünsche ein, es ist doch nichts dabei, sich Unmögliches zu wünschen, fügten sich langsam zu einem überschaubaren Gedankengebäude zusammen. Und die Antwort, die ich schon beim ersten Nachdenken über dieses Phänomen hatte, kam noch einmal klar und laut zu mir. Nur war sie noch etwas zerstückelt und mußte erst mal, wie Teig, zusammen geknetet werden, ein Teig, der keiner wäre ohne Mehl oder Flüssigkeit. Und das Rezept für einen ausgewogenen, schmackhaften Teig, der den Hunger befriedigend stillen und dazu noch schmecken sollte, bastelte ich aus diesen Teilantworten zusammen, die ich im Laufe meiner wiederholten Beschäftigungen mit der Frage nach dem Wünschen gemacht hatte und, da sie mir richtig schienen, nun zu einem brauchbaren Konstrukt zusammensetzen wollte, wobei mir alle gefundenen Ergebnisse zur Lösung dieser Frage keines einzigen entbehren sollte, wollte es ein guter Teig wie der eben beschriebene werden.
Da ich aus einer bescheidenen Bäckerei stamme, habe ich nicht nur gelernt mich mit Bescheidenem zufrieden zu geben, sondern auch hierin noch Ansprüche zu stellen, über die die Anspruchsvollen wohl nur mitleidig lächeln würden, während sie sich einen alten Kuchen aus einem vornehmen Café zwischen die Zähne schieben und im Glauben wähnen, daß der Kuchen aber heute besonders fein sei, nur weil er aus dem besagten Cafè stammt und 4,30 DM kostet.
Ich für meinen bescheidenen Teil ziehe ein frisches, mit Butter gebackenes Croissant, außen leicht gross und innen schön locker, aber nicht zu bröselig oder zu zäh, für bescheidene 1,50 DM einem Kuchengebilde vor, das aus undefinierbaren Ingredienzien besteht, die womöglich den Eßbarkeitstest nicht bestanden hätten, wäre das Gesundheitsamt rechtzeitig vor ihrer Verwendung aufgetaucht, um sie zur Untersuchung zu beschlagnahmen.
Genau so, wie ich es mit Eßbarem, Kleidbarem und sonstig Brauchbarem handhabte, so auch mit den Antworten zu irgendwelchen wichtigen oder unwichtigen Fragen und Antworten, die sich Dank meiner praktischen und rationellen Veranlagung, in einfacher Art bei mir einfanden und mein bescheidenes Gemüt vollauf zufriedenstellten, auch wenn mir gleichzeitig klar war, daß es genausogut die falsche Antwort hätte sein können und ich sie mal bei Gelegenheit revidieren müßte, sollte sie meinen Ansprüchen nicht mehr Genüge leisten.
Meistens verfuhr ich so, daß ich sie entweder mit neu Erfahrenem ergänzte, das mir Andere lieferten, die sich über dieselbe Frage auch schon ihre Gedanken gemacht hatten, oder das ich Ungenauigkeiten oder Teilwahrheiten abstrich und das Ganze verkürzte und auf Ergänzungen wartete, oder daß ich meine Gedanken über eine solche Frage ganz auslöschte, mir aber jederzeit die Möglichkeit offenhielt, die alte Antwort noch mal hochholen zu können, um sie noch mal durchzuchecken und mich ihres Sinns oder Unsinns erneut zu vergegenwärtigen, aber dadurch Raum hatte, auf neue Lösungen zu warten, ohne dabei die Geduld zu verlieren, hatte mir doch die Erfahrung gezeigt, daß die Antwort genau im rechten Moment kommt, wenn sie wirklich gebraucht ist.
Die Frage nun, die das Wünschen betraf, gehörte zu den unwichtigen in meinem Leben, dennoch beachtenswerten Fragen, die mir oft mit ihrer Befassung und vielleicht auch daraus resultierenden Antworten, große und wichtige Probleme gelöst hatten, zu denen ich manchmal noch nicht einmal die Frage gestellt hatte.
Drum empfand ich es durchaus nicht als vergeudete Zeit oder Energie, mich auch den kleinen Gedanken intensiv zu stellen, und sei es nur der philosophischen Etüde wegen, die durchaus amüsant und kurzweilig sein konnte, solange ich nicht die Mücke zum Elefanten machte und der Charakter der Unwichtigkeit sich plötzlich in den einer Bedrohung oder Belastung wandelte, und ich mich mit dem künstlich aufgeladenen Ballast herumärgern mußte, oder gar noch Depressionen bekam. Bedenkenswert ja, aber es mußte klar sein, ob lebensnotwendig oder aufschiebbar, d. h. gelegentlich mal einen Gedanken daran verlieren und wenn es wirklich keine Früchte trägt, dann forget it forever oder benutze ihn für ein Meditationsspiel oder zur sonstigen Unterhaltung.
Da wäre ich nun wieder bei meinem Teig angekommen, den ich noch immer nicht zubereitet hatte. Um es nun kurz zu machen, (es schien ein kleines Kaffeestückchen zu werden) gab ich mir schließlich die kleine Antwort auf die unbedeutende Frage, warum sich einige weniger als andere wünschen und warum sie nicht einfach alles Wünschenswerte wünschen, und sei es noch so größenwahnsinnig und unmöglich. Die Antwort war schon aus der Frage zu ersehen. Wer gibt schon gerne zu, größenwahnsinnig zu sein, wobei noch die Dunkelziffer beachtet werden mußte, derjenigen, die ihre unglaublichen Wünsche erst gar nicht zu äußern wagen, im Hinterkopf Frau Meier oder Herrn Müller, die deswegen mal für kurz oder länger aus dem Verkehr gezogen wurden, da sie eine unangemessene Haltung nach außen kehrten und dadurch eine Bedrohung für die normalen Bürger darstellten. Diejenigen, die nicht zur Dunkelziffer gehörten, waren entweder tief bescheiden, wobei mir ein solcher Mensch noch nie begegnet ist, oder hatten sich noch nie Gedanken über die mögliche Unmöglichkeit, bzw. die wahrscheinliche Unwahrscheinlichkeit gemacht.
Vielleicht interessierten sie sich auch nicht für ihre Wünsche, geschweige denn für die Wünsche anderer oder den Wunsch überhaupt. Vielleicht aber hielten sie schon ihre selbstverständlichen Wünsche nach einer Familie oder einem Auto, oder einem tollen Urlaub für unerfüllbar, was sie dann auch waren, und kamen erst gar nicht auf die Idee noch Tolleres zu wünschen, wobei es im Ermessen der Einzelnen liegt, was sie noch für toller ansehen könnten.
Der gravierendste Punkt aber zur Begründung der Andersartigkeit des Wünschens bei den Einzelnen, wäre wohl dieser, nämlich der Glaube oder Nichtglaube an seine Erfüllung. Das könnte dann zum einen so aussehen, daß, wenn ein Wunsch erfüllt würde, der nächste schon auf der Liste stünde und auch nach Erfüllung strebte, und so fort. Wenn aber keiner oder nur wenige erfüllt würden, entweder die Wünsche herabgeschraubt würden, um die Möglichkeit des Erfülltwerdens zu steigern oder schier unerfüllbare Wünsche zu hegen, um die Hoffnung zu nähren, daß vielleicht doch wenigstens etwas in der Richtung erfüllt würde. Wobei ich hierbei wiederum unterschied zwischen denen, die an die Erfüllung dieser Wahnsinnswünsche glaubten, die dennoch nie erfüllt zu werden schienen, eben weil sie es nicht bemerkten oder wahrhaben wollten, oder tatsächlich nicht erfüllt worden waren, trotz Glaube, der dann aber ein schwacher war, und denen, die auch daran glaubten und denen er erfüllt wurde, oft zu ihrem Schrecken. Denn wer hätte je geglaubt, daß so was tatsächlich wahr werden könnte? Und was hatten sie jetzt noch zu wünschen?
Ich kam zu dem Ergebnis, daß die besagte Dunkelziffer deswegen so hoch sein mußte, da im Grunde die Wenigsten an die Erfüllung ihrer Wünsche glaubten und somit Nahrung und Traumstoff bis an ihr Lebensende hatten und die entsprechende Würze für ihr eigentlich unerfülltes Leben.
Je mehr ich mich in diese Gedankengänge hineinsteigerte, desto klarer wurde mir, wie unklar eigentlich mein Antwortteig war und mich tröstete der Gedanke, daß es ja eine der unwichtigen Fragen sei, die erst mal ad acta gelegt werden konnte und zur Beantwortung noch Zeit hatte.
Eigentlich war es ja auch nicht diese Frage, die mich beschäftigte, sondern sie hatte einen ganz anderen Wunsch verdrängt, der mir plötzlich kam, als ich genüßlich an der Zigarette ziehend mich zurücklegte und mich entschloß, herauszubekommen, wie ich wohl von dieser Erde scheiden würde.
Als ich mich hierbei ertappte und mir bewußt wurde, wie jung ich noch bin, und daß ich faul in der Sonne brate und bestimmt Besseres zu tun gehabt hätte, als über mein Ende zu sinnieren, mußte ich laut lachen, und diese kurze Ablenkung ließ sofort den schon öfter gehabten Gedanken des Wünschens herein, der mich zunächst den ersteren vergessen ließ.
Da dann auch das Interesse für mein Ableben verblaßt war, legte ich dieses Thema ebenfalls beiseite und erinnerte mich noch mal an mein Vorhaben und an mein „mir-darüber-Sichersein“, daß ich ja eh einhundertunddrei Jahre alt werden würde und logisch daraus folgern könnte, daß dann mein Tod ein natürlicher sein müßte, immer die Tatsache im Auge behaltend, daß natürlich auch alles anders kommen könnte.
Damit war für mich der kleine Ausflug beendet und ich widmete mich wieder profaneren Dingen. Das aber auch nur, weil ein Anruf für mich kam, der mich noch mal auf die Erde zurückholte.
Und plötzlich fielen mir all die unerledigten Dinge noch mal ein, die ich seit Tagen schon vor mir hergeschoben hatte. Ich kann nur immer wieder staunen mit welch plausiblen Ausreden und Tröstungen ich mich um diese Arbeit herumdrücken konnte, und das mit wenig schlechtem Gewissen.
Ich raffte mein bischen Energie zusammen, die ich lieber für Angenehmeres gebraucht hätte und quälte mich durch die Italienischlektionen. Ein bischen Energie deshalb, weil ich mit Sparflamme arbeitete, denn ich wollte sie mir für genußreichere Dinge aufheben, die ich im Moment im Nachsinnen und Verwerten meiner Inspirationen finden konnte. Als ich mich nämlich notgedrungen an den Schreibtisch setzte, um mein Soll zu erfüllen,
stieß mir das Wörtchen „Muß“ unangenehm auf, wie nach einer knoblauchreichen Mahlzeit, die ich noch Stunden später nachschmecken kann, wenn sich langsam die Gase nach oben hinaus ihren Weg bahnen.
Insbesondere erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich kurz vorher mit Bernd geführt hatte, der mir darin seine Sichtweise dem „Müssen“ gegenüber unterbreitete. Ein Thema, das mich schon seit längerem mehr oder weniger in Beschlag nahm und das ich auf möglichst humane Weise zu klären versuchte, und zwar kurz und bündig, gerade wie ich`s brauchte. Ich sah ein, daß dies auf Dauer keine Lösung war. Irgendwann müßte ich mich mit dem „Müßte“ mal auseinandersetzen. (Ich ärgerte mich, daß ich schon wieder mußte und erlaubte mir mal zu dürfen.) Schließlich sollte dieser Störenfried ja langsam aus meinem Wortschatz eliminiert werden. Wenn ich es in der wörtlichen Sprache auch nicht mehr so oft gebrauchte, so doch in Gedanken, die ich meist in Worte faßte.
Aber nicht mal Worte waren nötig, um mir gedanklich das „Muß“ auszudrücken. Diese sogenannten Blitzgedanken bedurften nämlich schon keiner Worte mehr, sie zeigten nur noch, was anstand, und das so schnell, daß ich sie schließlich erst bei einer Rekonstruktion bis zurück zu ihrem Anfang, in Worte fassen konnte.
Da ich diese Zurückverfolgung aber nicht gerade oft anwandte, konnte ich an körperlichen Reaktionen genausogut mitbekommen, was da grade in meinem Kopf ablief. Bei Herzklopfen oder flauem Magen, wobei das Letztere recht oft vorkam, wußte ich, daß ich irgendwas mußte, wovor ich mich mal wieder gedrückt hatte, eben weil ich es mußte, wovon ich übrigens mein Leben lang der Überzeugung war.
Die Gewißheit schließlich, daß ich gar nichts zu müssen hatte und haben würde, außer den existentiellen Bedürfnissen, die nun einmal da waren, und die ich noch recht gerne erledigte, denn ich wollte ja schließlich alt werden, weil mir klar war, daß ich mich wohl kaum um den irdischen Tod drücken konnte, der immer näher rückte, je älter ich wurde, und den ich als das einzige „Muß“ noch akzeptieren wollte. Und nicht einmal dieses war sicher; wer sagte denn, daß ich zu sterben hatte, nur weil es alle taten? Bei dieser Frage war ich froh, daß ich irgendwann einmal sterben durfte, denn länger als einhundertunddrei Jahre würde ich es wohl hier nicht aushalten wollen.
„Eigentlich“, so fuhr ich fort, „ ist es ja dann ein Gnadenakt sterben zu dürfen.“
Nachdem ich nun dieses Wörtchen ad absurdum geführt hatte, war mein Gemüt etwas beruhigter und ich durfte mich an meine Lektionen heranwagen. Und es fiel mir sogar leicht, hierfür meine Kräfte zusammenzunehmen und voll konzentriert einzusteigen.
Und als ich schließlich meine Pflicht getan hatte, brannte mir nur noch auf der Seele, mich mit der Pflicht auseinanderzusetzen und inwieweit sie mit dem „Muß“ verwandt ist. Das mußte ich jetzt noch tun und ärgerte mich über den Zwangscharakter, den das Ganze anzunehmen schien und der durch einen lächerlichen Gedanken ausgelöst worden war. Ich konnte und wollte auch nicht aufgeben.
Wenigstens die Pflicht wollte ich mir noch zum Pflichtgedanken machen und dann wirklich wieder der äußeren Welt mein Gesicht zukehren. Dummerweise schlichen sich beim Gedanken an die Pflicht natürlich Gedanken über die Freiheit ein. Aber die wollte ich jetzt mal ganz weglassen, denn dann würde eine nur noch größere Lawine ausgelöst werden, die dann schließlich zum freien Willen, zur Liebe und über Gott und den Teufel, das Böse schlechthin, über Sinn und Unsinn von der Welt, der Natur und ins Unendliche sich ausbreiten würde. Es war nur eine Ahnung, aber ich wußte, daß es zwangsläufig dahin führen würde und beschränkte mich darum absichtlich auf die noch offenstehende Pflicht.
Außerdem hatte ich Zeit und Muße und es würde sicherlich bereichernd sein, meine konkrete Einstellung zum Pflichtbewußtsein, in Ausklammerung des „Muß“ herauszukristallisieren. Da ich nun so weit war, ohne das „Muß“ auskommen zu können , zumindest wußte ich, daß es nicht zu sein brauchte, konnte ich die Pflicht als solche, freier sehen, d. h. , daß sie ein Muß ist, Menschen und Handlungen gegenüber, das ich mir frei auferlegen darf, um zur Harmonie in meiner Umgebung und in mir beizutragen, die ich anstrebe.
Ich könnte mich auch für das Gegenteil entscheiden, so dachte ich weiter, und mich von jeglicher Pflicht fernhalten. Dies hätte aber ein Chaos zur Folge, dem ich mich nicht hätte aussetzen wollen, war es doch auch so schon unordentlich genug, und die wenigen Pflichten, die ich mir auferlegt hatte, wollte ich auf keinem Fall aufgeben, wenn ich nicht meine Struktur verlieren wollte.
Und diese Struktur war es, die mich aufbaute, aufrechterhielt und stützte. Innerhalb dieser Struktur stand es mir frei, mich zu bewegen wohin ich wollte und dank meines Pflichtbewußtseins auch, war es mir möglich über dieses hinauszugehen , wenn ich es gewollt hätte, da ich das Vertrauen derjenigen hatte, denen gegenüber ich mich verpflichtet hatte. Das Thema war somit schnell abgehandelt.
Das Muß und die Pflicht waren nötig, um eine Stabilität in meinen Lebenswandel zu bringen. Mit dem Unterschied, daß ich auf alle Fälle meine Pflichten beibehalten wollte, weil sie mir sichtlich gut taten und auch mein Selbstwertgefühl erhöhten, kam ich ihnen verantwortungsvoll nach, und das ich das Muß möglichst vermeiden wollte, um mir meiner Freiheit mehr bewußt zu werden und sie dementsprechend großzügiger genießen zu können, mit der gleichzeitigen Erkenntnis allerdings, daß es schwer sein würde, ganz ohne dieses Muß auszukommen, solange ich noch Gefangene meiner selbst war.
Trostreich war für mich, daß es durchaus machbar ist, ohne Muß zu leben, und daß halt ein bestimmter Reifegrad hierzu vonnöten sein mußte, um gänzlich davon wegzukommen. Jedenfalls empfand ich es nun durchaus nicht mehr als lästig, sondern als hilfreich müssen zu dürfen und dankte der Pflicht, die mich durch diesen kurzen Ausflug ein bischen dem Muß freundschaftlich nähergebracht hatte.