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Der Einmannstreik
Autor: ArnoAbendschoen · Rubrik:
Kurzgeschichten

Nach dem Mittagessen bin ich gleich auf meine Etage gefahren, ins Zimmer gelaufen und habe mich aufs Bett geworfen. Ich habe diesen Vormittag von mir abschütteln wollen wie ein Hund die Nässe. Es hat nicht funktioniert, ich bin wieder aufgestanden und sitze nun da und schreibe es mir von - nein, doch nicht von der Seele. Das wäre einfach nur lächerlich. Und ich befürchte auch nichts.

Beck hat heute Morgen, wie angekündigt, seine BGB-Klausur schreiben lassen, über Schuld- und Sachenrecht. Eine Woche lang hatte er uns juristische Frischlinge durch diesen Riesenstoff gehetzt. Wir waren ja gewarnt. Kollegen erkundigten sich bei anderen Kollegen daheim und hörten, wie es früher bei Beck schon einmal abgelaufen war. Da verabredeten wir uns, zu Beginn der Klausur gemeinsam zu prüfen, ob wir uns seinen Aufgaben gewachsen fühlten … Mit wir meine ich zwei oder drei Dutzend von uns. Wir standen gestern Morgen im Hof zusammen und beratschlagten. Und im äußersten Fall wollten wir streiken.

Dieser Beck wird die Hyäne genannt. Es ist durchgesickert, dass er beste Chancen hat, Dr. Friedrichsen als Leiter der Akademie zu beerben. Das hieße allerdings, der Inkompetenz in Person die Krone aufzusetzen. Beck ist unfähig, Lehrstoff zu vermitteln. Er trägt bloß in wahnwitzigem Tempo vor, einen Vormittag lang, ohne ein einziges Mal Kontakt auch nur zu einem von uns aufzunehmen. Keine Rückfragen bei den Hörern, keine Gelegenheit, Fragen an ihn zu stellen. Er sieht uns kaum an.

Wir sahen heute Morgen die hektographierten Blätter durch und waren uns schnell einig: viel zu schwer. Und wir alle (glaubte ich zunächst), die wir uns verabredet hatten, und noch einige mehr, standen auf und trugen ihm die Bögen nach vorn. War ich ihr Sprecher, als ich die Aktion kurz begründete? Dann war ich es spontan geworden.

Beck, ohnehin immer käseweiß, konnte nicht noch bleicher werden. Er schien mir nur etwas nervöser als sonst. Er sagte, er akzeptiere es nicht. Das sei ja Boykott, er werde es unseren Betrieben melden. Ich hörte ihm schon nicht mehr zu, ich drehte mich um und kehrte zu meinem Platz zurück. Während ich durch die Reihe nach hinten ging, fiel mir Weber auf – das ist einer von denen aus Frankfurt. Er und Heinz stecken viel zusammen, sie sitzen im Kasino am gleichen Tisch. Weber ist einer von den Gescheitesten hier, immer munter, immer vorlaut. Ich finde alles an ihm hässlich, sein dürftiges schwarzes Bärtchen, sein schief geschnittenes Gesicht, seine ganze hervorsprudelnde, unverschämte Art …

Weber klopfte Beifall. Er trommelte ihn mit der linken Faust auf die Arbeitsplatte seiner Bank, auf diese Weise unterstützte er uns. Und gleichzeitig begann er mit rechts schon zu schreiben, fing bereits mit der Lösung der ersten Aufgabe an. Ich hätte ihn am liebsten am Bart oder sonst wo gerissen – ausgerechnet er hatte am Vortag am lautesten für den Boykott geworben.

Vielleicht hätte ich jetzt mehr auf Beck hören sollen. Er schien Eindruck zu hinterlassen. Die Ersten von uns standen schon auf und gingen nach vorn und holten sich in der Haltung von geprügelten Hunden ihre Bögen zurück. Es wurden immer mehr. Dann waren noch acht oder neun übrig, die sich ansahen und sitzen blieben.

Beck nahm die restlichen Bögen an sich und begann sie an die verbliebenen Streikenden zu verteilen. So erhielt auch ich als Letzter von allen meine Aufgabenstellung zurück. Ich sah mich um – jetzt traf ich auf keinen Blick mehr. Vor mir nur noch über die Bänke gebeugte Hinterköpfe. Was für Nieten, nur lauter Nieten hier … Und Heinz? Er hatte sich uns von Anfang an nicht angeschlossen.

Beck sagte, ich müsse in jedem Fall dableiben.

Da nahm ich die Bögen wieder an mich und begann erst im Kopf, dann auf dem Papier zu formulieren. Nach ein paar Minuten hatte ich den Text fertig. "Nach meiner Überzeugung", schrieb ich, "war es objektiv unmöglich, in nur einer Woche das zur Lösung der hier gestellten Aufgaben erforderliche Wissen zu erwerben. Ich lehne es daher ab, den zwangsläufigen Nachweis eines unzureichenden Unterrichts zu liefern, und verweise gleichzeitig auf die Ergebnisse in der vorangegangenen Klausur zu Erb- und Familienrecht. Dort standen Aufgabenstellung und Qualität des Unterrichts im angemessenen Verhältnis zueinander."

Ja, vor Beck war Schliemann gekommen, einer der wenigen guten Dozenten bisher. Und bei ihm habe ich in der Klausur mit „Sehr gut“ abgeschnitten.

Ich schob die Blätter von mir weg und begann, aus dem Fenster zu schauen. Ringsum wurde abwechselnd gegrübelt und geschrieben. Ihr werdet euch bewähren, Beamtenseelen, die ihr seid … Ich musste mich auf andere Gedanken bringen.

Beck ging viel die Gänge auf und ab. Gelegentlich fasste er mich ins Auge. Ich versuchte, mein Gesicht Gleichmut ausdrücken zu lassen. Doch war ich in Wahrheit sehr angespannt. Nicht wegen Beck, nein, ich hatte nur ein deutliches Bewusstsein davon, dass die anderen auch eines von mir hatten, während sie sich den Kopf übers BGB zerbrachen. Wahrscheinlich war ich bei den meisten jetzt nur im Hinterkopf vorhanden, als einer, den es auch noch gibt, und zwar jenseits eines aus dem Bewusstsein nicht ganz ausblendbaren Grabens zwischen uns.

Weber schrieb jetzt mit hastigen, eckigen Armbewegungen. Eine zehnte oder elfte Muse schien ihn geküsst zu haben. Da hatte ich ja einen Abteilungsleiter von morgen vor mir … In seiner Nähe kam Heinz nur stockend voran, natürlich. Er wird der ewige Untergebene sein – geht mich nichts an. Ich machte mir klar, dass auch er nur einer von diesen anderen ist, und dabei überkam mich allmählich ein Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit. Alles kam wieder in seine rechte Ordnung.

Ich musste wirklich an etwas anderes denken, ich zwang mich also dazu, so wie ich jetzt gern meinen dummen Solostreik hier verlasse und zu meiner Erholung zu anderem übergehe …

In Berlin war ich am Freitagabend im MC Gunnar über den Weg gelaufen und er hatte mich für den Abend darauf zu einer Fete eingeladen. Ich kannte alle, die zu ihm kamen, nur Gunnars Mutter noch nicht. Sie ist eine von diesen grässlich aufdringlichen alleinstehenden älteren Frauen, die vor Alles-verstehen-wollen überfließen und dabei rein gar nichts begreifen. Es war also nicht sehr amüsant, und ich war froh, als ich endlich mit dem Nachtbus vom Wedding zum Zoo fahren konnte. In der Rio-Bar stieß ich gleich auf Rufus. Er schleppte mich ins MC, und wir tanzten dort viel zusammen. Dann schwatzten wir uns fest und saßen bis zum Morgengrauen herum. Ich versuchte ihm klarzumachen, wie nötig gerade er es habe, sich mit Kinsey und noch mehr mit Adorno zu befassen. Darüber gerieten wir in heftigen Streit. Als wir beide erschöpft, doch immer noch etwas erbost, schwiegen, fühlte ich auf einmal, wie dumm das alles von mir gewesen war. Wie sehr mochte ich ihn verletzt haben? Aber da gestand er von sich aus schon überraschend ein, er sei sehr froh, mit mir solche Diskussionen führen zu können. Am Theater sei das geistige Niveau allgemein so niedrig, dass er dort kaum einmal Gelegenheit zu ernsthaften Gesprächen finde. Ich war verdutzt: Obwohl ich mich nicht besonders zum Theater hingezogen fühle, habe ich doch eine recht hohe Meinung von der Bühne und den Theatermenschen.

Berlin war also wie immer gewesen, sehr gesellig, ohne im Mindesten befriedigend zu sein.

Die Zeit war noch immer nicht um. Ich fühlte mich schon besser, ruhiger. Und plötzlich dachte ich über den Banküberfall neulich in München nach, die Geiselnahme in der Deutschen Bank. Es ist jetzt herausgekommen, dieser Räuber Rammelmayr, der mit dem Motorrad, der war schwul. Und wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, hat er für den Kauf seiner Maschine sogar einen ordentlichen Bankkredit bekommen. Jetzt posiert der Freund des toten Rammelmayr in schwarzer Lederjacke und Blue Jeans mit dem Motorrad des Toten für die Presse. Der Freund sagt, der Rammelmayr habe einmal Priester werden wollen und immer die griechischen Philosophen gelesen. Merkwürdig, dass man auch unter Gewaltverbrechern, ich meine, unter den wirklich kapitalen, so oft Homosexuelle findet. Traut man uns das vielleicht nicht zu?

Die Hyäne sagte, die Zeit sei um, verlangte, dass die beschriebenen Bögen abgegeben würden. Ich beobachtete meine lieben Kollegen, wie sie teils resigniert abbrachen oder sich zu einem letzten Kraftakt beschleunigten Kritzelns zwangen. Wie verschieden die Menschen sind … Das ist eine Phrase, ich weiß. Binnen zwei Minuten waren sie alle auf den Beinen, froh, es hinter sich zu haben, und stauten sich vor dem Podium.

Ich mischte mich unter die Letzten und machte kein Aufhebens mehr von der Sache. Beck nahm mir meine Arbeit mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie bei allen anderen ab.

Sie strömten dann in die Waschräume und hinüber ins Kasino. Ich ließ mich mittreiben, als ob ich einer von ihnen wäre. Tatsächlich sahen mich die meisten jetzt anders an als früher, sie sahen mich genauer an, interessierter, freundlicher. Ich hörte hier und da aufmunternde Bemerkungen. Taten sie mir gut? Ich weiß nicht … Zum Anführer eigne ich mich in keiner Weise, ich bin da ganz ohne Ambitionen. Mir ist auch der lächerliche Aspekt am Ablauf der Ereignisse dieses Morgens nicht entgangen.

Paetzold behandelte mich bei Tisch noch vorsichtiger als gewöhnlich. „Sie haben“, sagte er, „das getan, was Sie für richtig hielten …“ – „Richtig“, antwortete ich und sonst nichts. Dann kam die Suppe und wir tauchten die Löffel ein.

Während der ganzen Mahlzeit sah ich kein einziges Mal zu Heinz hinüber. Ich unterließ es nicht aus Vorsatz, es unterblieb wie von selbst. Er scheint mich nicht mehr zu interessieren. Ich glaube, es ist vorbei.


Einstell-Datum: 2018-08-19

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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