Am liebsten war mir der Kudamm am Sonntagmorgen, kurz nach der Dämmerung. Dann war er menschenleer, und ich hatte ihn endlich einmal für mich allein. Wenn ich um diese Zeit nach Hause ging, war es so still, dass ich an der Ecke Fasanenstraße die Tauben gurren hörte, die um das Astor-Kino flogen. "Flesh" von Andy Warhol stand wochenlang auf dem Programm, und Joe Dallessandro erklärte darin einer Gruppe junger Streuner, es spiele gar keine Rolle, es komme darauf überhaupt nicht an: „Du tust, was du tun musst.“ In der Fasanenstraße, gegenüber von Kempinski, brannte an einem dieser Sonntage im Morgengrauen ein Nachtlokal aus, das als Treffpunkt von Haschischkonsumenten bekannt war. Damals lief am Lehniner Platz das Musical "Hair". Die Darsteller priesen die Liebe und die Drogen, den Frieden und den Wassermann, womit nicht der gleichnamige Test gemeint war, sondern das Sternzeichen. Ich war in diesem Zeichen geboren, und mich zog es normalerweise in eine andere Richtung: zu den Bars an der Kleiststraße. Da mein Zimmer an der Uhlandstraße lag, ging ich also zwei- oder dreimal in der Woche abends den Kudamm entlang, Richtung Tauentzien. Die Gedächtniskirche erstrahlte in einem mystischen Blau, das sehr nach meinem Geschmack war. Manchmal blieb ich stehen und tauchte für Minuten in diese intensive Strahlung ein, die bei aller Feierlichkeit seltsam anästhesierend wirkte. Konnte die Großstadt noch stärkere Reize bieten? Ich war gerade zwanzig und noch kein Jahr in Berlin.
Am Wittenbergplatz warf ich gewöhnlich einen Blick auf die Gedenktafel für die Opfer von Treblinka, Maidanek und Auschwitz: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen, stand auf ihr geschrieben. Fräulein S., unsere Wirtin, sei Jüdin und lebend aus einem Lager herausgekommen, vertraute mir in der Uhlandstraße eine Mitbewohnerin an. Die alte Dame, früher Sekretärin bei Wertheim, war nahe an die achtzig und herzleidend und hatte den größten Teil ihrer Riesenwohnung untervermietet. Rechts von mir lebte ein älteres Ehepaar; er war halbseitig gelähmt, ich hörte ihn einige Male am Tag an meiner Zimmertür vorüberstampfen, wenn er ins Bad geführt wurde. Selten begegnete ich ihm einmal auf dem Flur, dann grüßte er mich heftig grimassierend; er hatte die Sprache vollständig eingebüßt. Auf der anderen Seite logierte ein junger Mann, der nur wenig älter war als ich selbst. Unsere Zimmer waren durch eine Art Tapetentür getrennt, und ohne eigentlich zu lauschen, wenn er Herrenbesuch hatte, fand ich doch bald heraus, dass er homosexuell war. Fräulein S. bewohnte den Raum, der gegenüber von meinem Zimmer lag. Das sehr große und düstere Berliner Zimmer, in dem das Telefon stand und das wir auf dem Weg zur Küche passieren mussten, benutzten alle gemeinsam. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hinterhauses mitten in jenem Block, der von Kudamm, Uhlandstraße, Lietzenburger und Fasanenstraße umschlossen wird. Durch eine Gebäudelücke sah ich auf ein Nachtlokal im Parterre eines Hauses an der Fasanenstraße. Wenig aufdringlich und sozusagen eine trauliche Atmosphäre verbreitend, strahlte die rote Außenbeleuchtung der Bar schon in die trüben Berliner Winternachmittage hinein. Auch mein Zimmer war geräumig und sehr hoch und wies zum Teil schöne alte Möbel auf. Zwischen den beiden Fenstern hing ein hoher Spiegel, eingerahmt von bemaltem Schnitzwerk. Vergoldete Vögel pickten nach vergoldeten Früchten.
Inzwischen war der Homosexuelle übrigens ausgezogen. Sein Nachfolger, ein junger Vikar, zog mich an einem Samstagmorgen ins Gespräch. Auf irgendeine Weise kamen wir aufs Essen, und ich sagte ihm, dass ich samstags immer zu Aschinger ginge. Da lachte er und gab den unvermeidlichen Kommentar ab: „Brötchen grapschen!“ Jeder, der nicht bei Aschinger verkehrte, stellte sich das so vor; die Firma Aschinger und die Gratisbrötchen, deren man sich gierig bemächtigte, waren eine unauflösliche Ideenverbindung eingegangen. Mich verdross diese Art von Pawlowschem Reflex. Schon damals hasste ich es, wenn Gespräche nur aus den üblichen Plattheiten bestanden. (Übrigens trat ich um diese Zeit aus der Kirche aus.) Was nun Aschinger anging, so aß ich gar nicht in der Schwemme – und nur dort langte man nach den wohlfeilen Schrippen -, sondern stets nebenan im Restaurant. Beides befand sich damals noch in jener niedrigen Baracke an der Joachimstaler Straße, die einige Jahre später abgerissen wurde. Ich bestellte Schweinenierchen oder den köstlichen Milchreis mit Früchten, die in einem dunkelbraunen Buttersee schwammen. Einmal beobachtete ich während des Essens, wie einer vom Nebentisch aufstand und wegging, ohne bezahlt zu haben. Der Kellner hatte den Schaden und schien sich mein Gesicht bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu haben – als ich das nächste Mal dort aß, kassierte er bei mir sofort, was sonst nicht üblich war. Ein anderer Kellner wollte nach der Abrechnung rasch in der Küche verschwinden, der Gast rannte ihm hinterher und erwischte ihn am Kücheneingang, sein Wechselgeld fordernd. Eine Serviererin drohte dem Kollegen mit dem Finger: „Du Spitzbube!“
An Arbeitstagen trabte ich morgens um sieben zur Kreuzung Kudamm und Joachimstaler Straße, um einen Autobus nach Steglitz zu besteigen. Unterwegs fiel mein Blick häufig auf eine weitere Gedenktafel. Sie erinnerte neben dem Astor-Kino, da wo die Disconto-Bank ihre Filiale hatte, daran, dass Robert Musil Anfang der Dreißiger hier einige Zeit gewohnt hatte. Vom "Mann ohne Eigenschaften" waren hier große Teile geschrieben worden. Einige Häuser weiter stand ein Gebäude, das besser in eine von Kafkas Parabeln gepasst hätte: die chinesische Botschaft. Jedermann unzugänglich, von einem Berliner Hausmeisterpaar wie von einem Lindwurm der Sage gehütet, Gegenstand raunender Zeitungsberichte, dämmerte sie durch die Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte, bis die Republik China eines fernen Tages ihr Festland zurückerlangt haben würde …
Im Winter neunundsechzig auf siebzig lag morgens oft Neuschnee. Wenn ich zum Autobus ging, war noch nicht gefegt. Ich sank mit jedem Schritt ins Weiche, Pulverige, und die Luft roch ungewöhnlich sauber. Der Schneefall hatte oft am Morgen aufgehört, nur noch vereinzelte letzte Flocken trieben im kalten Ostwind, der allmählich einsetzte. Frierend sah ich die Joachimstaler hinauf und ließ, wenn noch kein Bus kam, den Blick eine Weile auf der strengen und dekorativen Fassade des Hotels "Frühling am Zoo" ruhen, das trotz seines Namens das ganze Jahr geöffnet hatte. Dann kam ein Pulk schmutzig gelber Doppeldecker über die Kreuzung zu mir herüber: hintereinander ein Zweier, ein Fünfundzwanziger, ein Einundachtziger und noch ein Fünfundzwanziger mit einem zusätzlichen E hinter der Liniennummer. Sie alle hatten eben am Bahnhof Zoo ihre schier unendliche Reise durch die monotonen Weiten des Berliner Südens angetreten. Irgendwann am Vormittag würden sie in Lichterfelde, Marienfelde oder Britz ankommen. Ich sprang rasch auf. Die meisten Wagen hatten damals hinten noch keine Türen. Vielleicht hatte die Außenfarbe doch etwas mit dem Nikotin zu tun, das auf dem Oberdeck im Übermaß konsumiert wurde. Einige Fensterklappen standen immer offen, es war gewöhnlich kalt, zugig und dennoch verräuchert. Nur stark gebückt konnte man oben eine der langen Viererbänke erreichen. Die Schaffner taten mir Leid. Sie mussten jedem Fahrgast hinterherkriechen und dann die schmale, steile Hühnerleiter wieder hinunter. Nach ein paar Jahren sah man jedem von ihnen die zweiundvierzig Stunden an, die er pro Woche Dienst hatte – am Buckel sah man sie wieder. Unten war es mir meist zu voll, deshalb saß ich dort nur selten. Einmal ließ eine junge Berlinerin eine Flasche zu Boden fallen, die dabei zerbrach. Eine gelbe Flüssigkeit rann auf die Fahrerkabine zu. Der Schaffner näherte sich mit unmutiger, Unheil kündender Miene. „Es ist nur Apfelsaft“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Schon verbreitete sich im ganzen Unterdeck der liebliche Duft.
Wir rollten an dem Haus vorüber, in dem Friedrich Ebert gestorben war; auch darüber belehrte eine Tafel den historisch Interessierten. Zweimal in der Woche stieg ich schon am Bundesplatz aus, um bei Doktor X oder Assessor Y Unterricht zu genießen. Er fand in einem neobarocken Büropalast statt. Wir fröstelten einen Vormittag lang in einem Saal, dessen Wände mit verblassten rotseidenen Tapeten bespannt waren. „Wir wollen uns warm arbeiten“, sagte Doktor X, „also zurück zum Paragraphen dreizehnhundert …“ Oder zu einem anderen.
In Steglitz ausgestiegen, hatte ich es nicht mehr weit ins Büro, nur einige Ecken zu Fuß. Ob mir wieder die Akte Messer-schmidt vorgelegt würde? Das war ein Fall nicht wie, sondern tatsächlich aus dem Leben gegriffen. Dieser Messerschmidt suchte das Büro aus Gründen, die mir entfallen sind, gern persönlich auf, und eine junge Kollegin, Frau O., schrieb dann viel sagende Aktenvermerke: „Herr M. sprach gemeinsam mit seinem ´Bruder´ hier vor …“ So oder so ähnlich begannen die offiziösen Notizen der Frau O., denn ihr war etwas aufgefallen, das vielleicht nicht gerade zur Sache gehörte und dennoch nach ihrem Gefühl unbedingt festgehalten werden sollte. „Vorsicht“, schrieb sie oder: „Achtung, § 175!“ Diesmal war keines der sonst von uns anzuwendenden Gesetze gemeint, sondern das Strafgesetzbuch, aus dem die einschlägige Vorschrift eben erst in der Hauptsache entfernt worden war. Somit war die löbliche Sachbearbeiterin in mehrfacher Hinsicht unzuständig: amtlich, historisch (da hinter ihrer Zeit herhinkend) und ihrem Geschlecht nach.
Für mich war damals in West-Berlin das Reich der Freiheit auch geographisch streng geschieden vom Reich der Notwen-digkeit. Alle meine Lust- und Erholungsorte lagen auf einer Achse, die west-östlich vom Lehniner Platz über die Uhland-straße zum "Kleist-Casino" verlief. Schauen, Träumen, Lieben, Schlafen … Dagegen erfolgten Nahrungsaufnahme sowie Lernen und Arbeiten nord-südlich. Die U-Bahn nach Steglitz war noch in Bau. Trotzdem begab ich mich manchmal in den Unter-grund, fuhr etwa mit der furchtbar rumpelnden S-Bahn vom Anhalter Bahnhof zum Gesundbrunnen. Ich brach dann mit dem beschriebenen funktionalen Koordinatensystem, ich bewegte mich nord-südlich, ohne Verpflichtung, nur zum Spaß. Nicht dass ich im Wedding irgendetwas verloren gehabt hätte. Es reizte mich nur, im Schritttempo durch den breiten unterirdischen Bahnhof Potsdamer Platz gefahren zu werden. Sämtliche Bahnsteige lagen öde und menschenleer da. Das Gewimmel, das hier einmal geherrscht haben musste, war im Verlauf des Geschichtsprozesses in sein Gegenteil umgeschlagen: die modrige Leere einer schwach beleuchteten Grabkammer, und die selten zu erblickenden Grenzpolizisten, die gemessenen Schrittes auf den Perrons patrouillierten, kamen mir wie Grabwächter vor, wie Bewacher eines bereits geplünderten und entleerten Pharaonengrabes. Noch mehr Melancholie verbreiteten, als es Frühling wurde, die von Birkenhainen überwucherten Gleisanlagen der Ringbahn am Gesundbrunnen. Frühling am Gesundbrunnen …
Im Sommer überraschte mich Fräulein S. mit der Kündigung. Sie löste ihre Wohnung auf und zog ins Süddeutsche, um dort auf ihren Tod zu warten. Ich fand ein winziges Appartement in der Keithstraße. Das Institut nannte sich Boardinghaus. Effi Briest hatte gewiss großzügiger gewohnt. Von meinem Vogelbauer sah ich auf das Hochhaus einer Werbeagentur und eine große Straßenkreuzung. Wenn eine Veranstaltung in der Urania zu Ende war, kamen Massen älterer Berliner aus dem Gebäude und strebten zu den Bahnen und Bussen. Zu denken, dass so gut wie alle von ihnen tot sein dürften …
Ich hatte es nun nicht mehr weit zum Kleist-Casino. Man sagte nur: KC. An der Garderobe erlebte ich einmal den Streit zwischen dem Garderobier und einem älteren, untypisch wirkenden Gast. Dieser bestand darauf, seine Aktentasche mit ins Innere der Bar zu nehmen. Er sei Schriftsteller, in der Mappe seien wertvolle Manuskripte, die er nicht aus der Hand geben könne. Er setzte sich durch. Sicher ist er längst tot. Ich folgte ihm und ging auch hinein. Was dann kam, ist eine andere Geschichte.
Am Wittenbergplatz warf ich gewöhnlich einen Blick auf die Gedenktafel für die Opfer von Treblinka, Maidanek und Auschwitz: Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen, stand auf ihr geschrieben. Fräulein S., unsere Wirtin, sei Jüdin und lebend aus einem Lager herausgekommen, vertraute mir in der Uhlandstraße eine Mitbewohnerin an. Die alte Dame, früher Sekretärin bei Wertheim, war nahe an die achtzig und herzleidend und hatte den größten Teil ihrer Riesenwohnung untervermietet. Rechts von mir lebte ein älteres Ehepaar; er war halbseitig gelähmt, ich hörte ihn einige Male am Tag an meiner Zimmertür vorüberstampfen, wenn er ins Bad geführt wurde. Selten begegnete ich ihm einmal auf dem Flur, dann grüßte er mich heftig grimassierend; er hatte die Sprache vollständig eingebüßt. Auf der anderen Seite logierte ein junger Mann, der nur wenig älter war als ich selbst. Unsere Zimmer waren durch eine Art Tapetentür getrennt, und ohne eigentlich zu lauschen, wenn er Herrenbesuch hatte, fand ich doch bald heraus, dass er homosexuell war. Fräulein S. bewohnte den Raum, der gegenüber von meinem Zimmer lag. Das sehr große und düstere Berliner Zimmer, in dem das Telefon stand und das wir auf dem Weg zur Küche passieren mussten, benutzten alle gemeinsam. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hinterhauses mitten in jenem Block, der von Kudamm, Uhlandstraße, Lietzenburger und Fasanenstraße umschlossen wird. Durch eine Gebäudelücke sah ich auf ein Nachtlokal im Parterre eines Hauses an der Fasanenstraße. Wenig aufdringlich und sozusagen eine trauliche Atmosphäre verbreitend, strahlte die rote Außenbeleuchtung der Bar schon in die trüben Berliner Winternachmittage hinein. Auch mein Zimmer war geräumig und sehr hoch und wies zum Teil schöne alte Möbel auf. Zwischen den beiden Fenstern hing ein hoher Spiegel, eingerahmt von bemaltem Schnitzwerk. Vergoldete Vögel pickten nach vergoldeten Früchten.
Inzwischen war der Homosexuelle übrigens ausgezogen. Sein Nachfolger, ein junger Vikar, zog mich an einem Samstagmorgen ins Gespräch. Auf irgendeine Weise kamen wir aufs Essen, und ich sagte ihm, dass ich samstags immer zu Aschinger ginge. Da lachte er und gab den unvermeidlichen Kommentar ab: „Brötchen grapschen!“ Jeder, der nicht bei Aschinger verkehrte, stellte sich das so vor; die Firma Aschinger und die Gratisbrötchen, deren man sich gierig bemächtigte, waren eine unauflösliche Ideenverbindung eingegangen. Mich verdross diese Art von Pawlowschem Reflex. Schon damals hasste ich es, wenn Gespräche nur aus den üblichen Plattheiten bestanden. (Übrigens trat ich um diese Zeit aus der Kirche aus.) Was nun Aschinger anging, so aß ich gar nicht in der Schwemme – und nur dort langte man nach den wohlfeilen Schrippen -, sondern stets nebenan im Restaurant. Beides befand sich damals noch in jener niedrigen Baracke an der Joachimstaler Straße, die einige Jahre später abgerissen wurde. Ich bestellte Schweinenierchen oder den köstlichen Milchreis mit Früchten, die in einem dunkelbraunen Buttersee schwammen. Einmal beobachtete ich während des Essens, wie einer vom Nebentisch aufstand und wegging, ohne bezahlt zu haben. Der Kellner hatte den Schaden und schien sich mein Gesicht bei dieser Gelegenheit eingeprägt zu haben – als ich das nächste Mal dort aß, kassierte er bei mir sofort, was sonst nicht üblich war. Ein anderer Kellner wollte nach der Abrechnung rasch in der Küche verschwinden, der Gast rannte ihm hinterher und erwischte ihn am Kücheneingang, sein Wechselgeld fordernd. Eine Serviererin drohte dem Kollegen mit dem Finger: „Du Spitzbube!“
An Arbeitstagen trabte ich morgens um sieben zur Kreuzung Kudamm und Joachimstaler Straße, um einen Autobus nach Steglitz zu besteigen. Unterwegs fiel mein Blick häufig auf eine weitere Gedenktafel. Sie erinnerte neben dem Astor-Kino, da wo die Disconto-Bank ihre Filiale hatte, daran, dass Robert Musil Anfang der Dreißiger hier einige Zeit gewohnt hatte. Vom "Mann ohne Eigenschaften" waren hier große Teile geschrieben worden. Einige Häuser weiter stand ein Gebäude, das besser in eine von Kafkas Parabeln gepasst hätte: die chinesische Botschaft. Jedermann unzugänglich, von einem Berliner Hausmeisterpaar wie von einem Lindwurm der Sage gehütet, Gegenstand raunender Zeitungsberichte, dämmerte sie durch die Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte, bis die Republik China eines fernen Tages ihr Festland zurückerlangt haben würde …
Im Winter neunundsechzig auf siebzig lag morgens oft Neuschnee. Wenn ich zum Autobus ging, war noch nicht gefegt. Ich sank mit jedem Schritt ins Weiche, Pulverige, und die Luft roch ungewöhnlich sauber. Der Schneefall hatte oft am Morgen aufgehört, nur noch vereinzelte letzte Flocken trieben im kalten Ostwind, der allmählich einsetzte. Frierend sah ich die Joachimstaler hinauf und ließ, wenn noch kein Bus kam, den Blick eine Weile auf der strengen und dekorativen Fassade des Hotels "Frühling am Zoo" ruhen, das trotz seines Namens das ganze Jahr geöffnet hatte. Dann kam ein Pulk schmutzig gelber Doppeldecker über die Kreuzung zu mir herüber: hintereinander ein Zweier, ein Fünfundzwanziger, ein Einundachtziger und noch ein Fünfundzwanziger mit einem zusätzlichen E hinter der Liniennummer. Sie alle hatten eben am Bahnhof Zoo ihre schier unendliche Reise durch die monotonen Weiten des Berliner Südens angetreten. Irgendwann am Vormittag würden sie in Lichterfelde, Marienfelde oder Britz ankommen. Ich sprang rasch auf. Die meisten Wagen hatten damals hinten noch keine Türen. Vielleicht hatte die Außenfarbe doch etwas mit dem Nikotin zu tun, das auf dem Oberdeck im Übermaß konsumiert wurde. Einige Fensterklappen standen immer offen, es war gewöhnlich kalt, zugig und dennoch verräuchert. Nur stark gebückt konnte man oben eine der langen Viererbänke erreichen. Die Schaffner taten mir Leid. Sie mussten jedem Fahrgast hinterherkriechen und dann die schmale, steile Hühnerleiter wieder hinunter. Nach ein paar Jahren sah man jedem von ihnen die zweiundvierzig Stunden an, die er pro Woche Dienst hatte – am Buckel sah man sie wieder. Unten war es mir meist zu voll, deshalb saß ich dort nur selten. Einmal ließ eine junge Berlinerin eine Flasche zu Boden fallen, die dabei zerbrach. Eine gelbe Flüssigkeit rann auf die Fahrerkabine zu. Der Schaffner näherte sich mit unmutiger, Unheil kündender Miene. „Es ist nur Apfelsaft“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Schon verbreitete sich im ganzen Unterdeck der liebliche Duft.
Wir rollten an dem Haus vorüber, in dem Friedrich Ebert gestorben war; auch darüber belehrte eine Tafel den historisch Interessierten. Zweimal in der Woche stieg ich schon am Bundesplatz aus, um bei Doktor X oder Assessor Y Unterricht zu genießen. Er fand in einem neobarocken Büropalast statt. Wir fröstelten einen Vormittag lang in einem Saal, dessen Wände mit verblassten rotseidenen Tapeten bespannt waren. „Wir wollen uns warm arbeiten“, sagte Doktor X, „also zurück zum Paragraphen dreizehnhundert …“ Oder zu einem anderen.
In Steglitz ausgestiegen, hatte ich es nicht mehr weit ins Büro, nur einige Ecken zu Fuß. Ob mir wieder die Akte Messer-schmidt vorgelegt würde? Das war ein Fall nicht wie, sondern tatsächlich aus dem Leben gegriffen. Dieser Messerschmidt suchte das Büro aus Gründen, die mir entfallen sind, gern persönlich auf, und eine junge Kollegin, Frau O., schrieb dann viel sagende Aktenvermerke: „Herr M. sprach gemeinsam mit seinem ´Bruder´ hier vor …“ So oder so ähnlich begannen die offiziösen Notizen der Frau O., denn ihr war etwas aufgefallen, das vielleicht nicht gerade zur Sache gehörte und dennoch nach ihrem Gefühl unbedingt festgehalten werden sollte. „Vorsicht“, schrieb sie oder: „Achtung, § 175!“ Diesmal war keines der sonst von uns anzuwendenden Gesetze gemeint, sondern das Strafgesetzbuch, aus dem die einschlägige Vorschrift eben erst in der Hauptsache entfernt worden war. Somit war die löbliche Sachbearbeiterin in mehrfacher Hinsicht unzuständig: amtlich, historisch (da hinter ihrer Zeit herhinkend) und ihrem Geschlecht nach.
Für mich war damals in West-Berlin das Reich der Freiheit auch geographisch streng geschieden vom Reich der Notwen-digkeit. Alle meine Lust- und Erholungsorte lagen auf einer Achse, die west-östlich vom Lehniner Platz über die Uhland-straße zum "Kleist-Casino" verlief. Schauen, Träumen, Lieben, Schlafen … Dagegen erfolgten Nahrungsaufnahme sowie Lernen und Arbeiten nord-südlich. Die U-Bahn nach Steglitz war noch in Bau. Trotzdem begab ich mich manchmal in den Unter-grund, fuhr etwa mit der furchtbar rumpelnden S-Bahn vom Anhalter Bahnhof zum Gesundbrunnen. Ich brach dann mit dem beschriebenen funktionalen Koordinatensystem, ich bewegte mich nord-südlich, ohne Verpflichtung, nur zum Spaß. Nicht dass ich im Wedding irgendetwas verloren gehabt hätte. Es reizte mich nur, im Schritttempo durch den breiten unterirdischen Bahnhof Potsdamer Platz gefahren zu werden. Sämtliche Bahnsteige lagen öde und menschenleer da. Das Gewimmel, das hier einmal geherrscht haben musste, war im Verlauf des Geschichtsprozesses in sein Gegenteil umgeschlagen: die modrige Leere einer schwach beleuchteten Grabkammer, und die selten zu erblickenden Grenzpolizisten, die gemessenen Schrittes auf den Perrons patrouillierten, kamen mir wie Grabwächter vor, wie Bewacher eines bereits geplünderten und entleerten Pharaonengrabes. Noch mehr Melancholie verbreiteten, als es Frühling wurde, die von Birkenhainen überwucherten Gleisanlagen der Ringbahn am Gesundbrunnen. Frühling am Gesundbrunnen …
Im Sommer überraschte mich Fräulein S. mit der Kündigung. Sie löste ihre Wohnung auf und zog ins Süddeutsche, um dort auf ihren Tod zu warten. Ich fand ein winziges Appartement in der Keithstraße. Das Institut nannte sich Boardinghaus. Effi Briest hatte gewiss großzügiger gewohnt. Von meinem Vogelbauer sah ich auf das Hochhaus einer Werbeagentur und eine große Straßenkreuzung. Wenn eine Veranstaltung in der Urania zu Ende war, kamen Massen älterer Berliner aus dem Gebäude und strebten zu den Bahnen und Bussen. Zu denken, dass so gut wie alle von ihnen tot sein dürften …
Ich hatte es nun nicht mehr weit zum Kleist-Casino. Man sagte nur: KC. An der Garderobe erlebte ich einmal den Streit zwischen dem Garderobier und einem älteren, untypisch wirkenden Gast. Dieser bestand darauf, seine Aktentasche mit ins Innere der Bar zu nehmen. Er sei Schriftsteller, in der Mappe seien wertvolle Manuskripte, die er nicht aus der Hand geben könne. Er setzte sich durch. Sicher ist er längst tot. Ich folgte ihm und ging auch hinein. Was dann kam, ist eine andere Geschichte.