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12. Die Normopathie
Autor: Raimund Fellner · Rubrik:
Erzählungen

12. Die Normopathie (Aus dem Roman "Lange Haare")

Er war ein Krüppel geworden, zumindest ein geringfügiger. Das war das Ergebnis seines Versuches, diesem Leben zu entkommen. Mit seinem gelähmten Fuß hinkte er unter Schmerzen dahin. Er nahm Arzneien gegen den Schmerz, und dafür, dass sich sein verletzter Ischiasnerv erholte. Auch fuhr er jeden Vormittag mit der Straßenbahn zum Harras, um seinen Nerv mit elektrischem Strom stimulieren zu lassen. Der Neurologe, zu dem ihn Dr. Schöpl überwiesen hatte, meinte, dass wohl eine Restschwäche bleiben würde. Die Lähmung besserte sich nur unmerklich langsam. Zwei bis drei Jahre hinkte er für jeden ersichtlich. Dann hatte zwar die Große Zehe wieder Kraft und war steuerbar, doch die letzten drei kleinen Zehen blieben unverändert lahm. Immerhin konnte er nach Jahren wieder beschwerdefrei gehen, trotz dieser lahmen drei kleinen Zehen.
Diesem leiblichen Gebrechen gab er aber keine besondere Aufmerksamkeit. Was ihn viel mehr peinigte, war seine verfehlte Studienwahl. Betriebswirtschaft war ihm zu eindimensional; nur die wirtschaftliche Seite des Daseins kam in Betracht. Das ganze Image das mit dieser Branche verbunden war, war ein krawattiges. Das wollte ihm schon gar nicht zusagen. Buisnesskleidung empfand er als zwanghaft und darum spießig. Denn Spießer ist jemand, der in seinem Leben konventionellen Zwängen nachgegeben hatte, der sich ein oder mehr Mal in seinem Leben für die Unfreiheit entschieden hatte mit Folgen für sein weiteres Leben. Sei es, dass er sich zu stutzten hatte oder zwanghafte Kleidung tragen musste. Dieses Schicksal wollte Raimund auf keinen Fall auf sich nehmen.
Vielleicht ist die Buisnesskleidung deswegen so zwanghaft, weil die Leute, die diese Kleidung tragen, geldgesteuert sind. Dem Mammon opfern diese Spießer ihre Freiheit, um in den Vorzug eines stattlichen Einkommens zu kommen. Mit ihrer zwanghaft pseudoanständigen Kleidung versuchen sie ihre niederen Beweggründe zu kaschieren, um nach außen vertrauenserweckend zu wirken, wie sie irrtümlich meinen. Denn jeder, der Lebenserfahrung hat, weiß, dass Buisnesskleidung die Kleidung von Spitzbuben ist, die ihn oder sie ganz gesetzeskonform zu übervorteilen suchen.
Hinzu kommt, dass die von zwanghaften Kleidungsnormen Gepeinigten, zwanghaft ihre Kollegen überwachen, dass auch diese ihre Leidensgenossen die krankhaften Kleidungsnormen einhalten. Das ist eine Volksgruppe von Normopathen. Sie leiden unter den Kleidungsnormen und lassen andere darunter leiden.
Mit einer solchen unfreien Gesellschaft wollte Raimund nichts zu tun haben. Trotzdem meinte er, dass er viel Geld haben müsste, um sich nicht Zwängen aussetzen zu müssen. Doch wollte er nicht um den Preis der Unfreiheit an dieses Geld kommen. Denn unfrei erworbenes Geld schuf keine Freiheit. Dass mit Weisheit in Freiheit Reichtum zu erwerben war, versicherte ihm das Buch der Weisheit von Salomo in der Bibel, die er unter vielen anderen Büchern auch las. Wichtig war dabei, auf dem schmalen Pfad der Tugend zu bleiben, keinen „Fingerbereit von Gottes Wegen abzuweichen“, wie ihm ein Lied, das seine Mutter am Klavier gesungen hatte, nahe legte. Im Aussehen war immer auf „die Freiheit in der Erscheinung“ zu achten, wie Friedrich Schiller wahre Schönheit definiert hatte. Bei diesem Gedanken musste er an die Schönheit Beas denken mit ihren ungebundenen freien langen Haaren und ihrer ungezwungenen Kleidung. Bliebe er der Schönheit Beas treu, bliebe er sich selber treu.
Und so war bei all diesen seinen Überlegungen klar, dass er sich zur umfassenderen Weltsicht hingezogen fühlte, zur Philosophie. Philosophie galt landläufig als „brotlose Kunst“, als ob es nicht kostenlos Brot bei der Bahnhofsmission gäbe. Raimund ergab sich der Philosophie, auch wenn er formal Betriebswirtschaft studierte. Das Geld würde schon kommen, dachte er sich, wenn er sich nur immer um Weisheit bemühte, auch wenn jetzt noch nicht ersichtlich war, auf welche Weise sich das Geld einstellen würde.
Während sich Raimund mit Philosophie in aller Leidenschaft beschäftigte, betrachtete er die verschiedenen Berufsgruppen, in wie weit sie Abstriche an der Freiheit machen mussten, mit dem Ziel für sich eine einträgliche Beschäftigung zu finden, bei der keinerlei Einbußen an Freiheit hinzunehmen waren.
Betrachtungsgegenstand für eine besonders eingezwängte Berufsgruppe war sein Arzt Dr. Schöpl. So ein Arztbesuch hatte immer normengrecht abzulaufen. Arzthelferin als Untergebene und Arzt als Herrscher hatten sich normengerecht zu verhalten. Das zeigte schon rein äußerlich der weiße Kittel, als ob nicht genauso auch lockere lässige Kleidung getragen werden könnte. So ein Arzt war eine institutionalisierte Persönlichkeit, der allerdings diese „Rolle“ so verinnerlicht (internalisiert) hatte, dass er sich in seinen normopathischen Zwängen, unter denen er wohl anfangs gelitten haben mochte, großartig vorkam. Dem Arzt waren die täglichen „Doktorspiele“ als selbstherrlicher Autokrat geradezu eine Lust. Da kam Raimund in die Arztpraxis zuerst an die Rezeption, wo er von der Arzthelferin erst normengerecht „eingecheckt“ wurde. Dann hatte er mindestens eine Stunde zu warten, obgleich er pünktlich zum ausgemachten Zeitpunkt erschienen war. Nachdem er so auf das erlauchte Ereignis wartete, von dem weißen Pseudo-Halbgott Gehör zu bekommen, wurde er endlich vorgelassen. Bei dem, was er sagte, konnte er sehr genau beobachten, wie der Arzt alles durch sein psychiatrisches Raster siebte. Das meiste fiel als irrelevant durch. Es unterlag dem „Durchzug“, beim einen Ohr rein beim anderen raus. Was interessierte, waren nur Indizien, die auf Raimunds Schizophrenie hinwiesen. Denn entweder war der Gehirnstoffwechsel einigermaßen medikamentös reguliert oder nicht. Wenn nicht, dann musste medikamentös eine Korrektur vorgenommen werden. Was der Inhalt einer Depression oder Psychose war, war irrelevant für den physiologisch denkenden Arzt. Relevant waren nur die Tatsache und der Grad der Depression oder Psychose. Wenn Raimund sich mal nicht normengerecht verhielt, deutete das auf eine ausbrechende Psychose hin, was ja auch meist zutraf.
Dr. Schöpls Sessel hinter dem Schreibtisch hatte neben den Armlehnen eine hohe bis zum Kopf gehende Rückenlehne. Der Stuhl, der für den Patienten vorgesehen war, war weit weniger großspurig komfortabel. Da war klar, wie die Rangordnung war. Ein Normaler findet das auch völlig normal und findet nichts daran auszusetzen. Anders Raimund, der diese Normalität nicht besaß.
So ein Psychiater ist berufsmäßig normal. Im Korsett der Normalität leidet er wohl insgeheim unter seiner Zwangsnormalität. In der Literatur las Raimund, dass jeder Psychiater insgeheim bei sich ein psychisches Leiden diagnostiziert, über das er aber mit niemandem redet und das er streng geheim hält, denn anscheinend hat er Angst, so musste Raimund weiterdenken, dass er, der Psychiater, selbst in die Mühlen der Psychiatrie gerät, die er ja selbst so normopathisch berufsmäßig betreibt. Auf die andere Seite der Psychiatrie zu geraten, davor hat der Psychiater höllisch Angst.
Freilich wird sich an den „Doktorspielen“ nichts ändern. Das war so, das ist so und wird immer so bleiben. Denn auch das gewöhnliche Volk hat das Doktorgetue so verinnerlicht (internalisiert), dass es ein lockeres freies Verhalten auf gleicher Augenhöhe gar nicht akzeptieren würde. Das gewöhnliche Volk braucht Autoritäten, an die es sich halten kann. Der Einzelne sucht umso mehr danach, je weniger er Gott sucht und sich ihm unterstellt.
Raimund litt unter der Normopathie seiner Mitmenschen, denn er musste ja, um einmal Geld für seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, sich mit dieser Welt von Zwängen auseinandersetzen und sich darin, so wie er war, behaupten und verwirklichen. Freie offene lange Haare und vollen ungestutzten Bart wollte er auf keinen Fall opfern für den Mammon, wie dies viele seiner Generation nach und nach taten. Hier zeigte sich, wer nur leerer Schönredner war, und wer auch das Standvermögen hatte, in die Wirklichkeit um zu setzten, was seine schönen Reden beinhaltet hatten. Denn wie konnte einer Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen wollen mit zwanghaftem Äußeren. Das war ein Widerspruch wie ein hölzernes Eisen.


Einstell-Datum: 2012-01-30

Hinweis: Dieser Artikel spiegelt die Meinung seines Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung der Betreiber von versalia.de übereinstimmen.

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