11. Der Selbstmordversuch (Aus dem Roman "Lange Haare"
Er dachte immer noch an Bea, ohne dass sie davon wusste. Sie war in seinem Gemüt. Bea bekam davon nichts mit. Das verdross Raimund. Bea, der diese Gefühle galten, sollte sie mitempfinden. Darum fühlte er sich gedrängt, ihr einen Brief zu schreiben. Denn auf die Frage, ob er sie nicht mehr anrufen solle, hatte sie kein bestimmtes Nein geantwortet. So würde ein Brief sie wohl nicht nerven, dachte sich Raimund. Freilich erwünschte er sich eine Antwort. Immerhin hätte er auf sich aufmerksam gemacht und ihr auf diese Weise mitgeteilt, dass er von ihr voll angetan war.
So schrieb er ihr von seiner Liebe und seinen Gefühlen, die ihn immer noch bewegten, er schrieb, dass er sie, Bea, nicht vergessen könne. Die Aussage „Ich liebe dich“ war schon verbraucht, denn damit hatte er eine andere, nämlich Susy, angelogen, eine Abirrung, die er zwar sehr wohl mochte, aber nicht liebte. Darum schrieb er den unverbrauchten Satz: „Ich will dich ewiglich lieben.“ Das war ein Vorsatz, dessen Stimmigkeit er angenehm fühlte. Denn er wollte immer und ewig von Bea angetan sein, sie spüren, sie empfinden. Das war das Treuegefühl, das er in seiner inneren Offenbarung so selbstgenugsam lustvoll erlebt hatte, dass er es sich immerwährend herbeiwünschte. Dieses Treuegefühl entsprach dem Wesen seiner Gefühlswelt, die mit diesem Satz „Ich will dich ewiglich lieben.“ zum Ausdruck kam, ohne jegliche Unstimmigkeit.
Immer wieder vergegenwärtigte er sich die Idyllen mit Bea, die er erlebt hatte, ihren Leib, der sich so lustvoll zugewandt und offen für ihn verhalten hatte. Das machte ihm reizvolle stimmig-schöne Gefühle, die aber immer wieder vom Schmerz des Vertanen gestört wurden, des Vertanen durch sein törichtes Verhalten, das Bea verletzt hatte. Denn immer wieder quälten ihn seine Torheiten, seine Sünden, die ihn von Bea getrennt hatten. Davon schrieb Raimund allerdings nichts. Er hätte Bea wohl im Einzelnen, jede vertane Situation erwähnend, um Vergebung bitten müssen. So schmerzte ihn die Liebe zu seiner Schicksalsfrau fortwährend immer wieder. Und trotzdem mochte er diese Liebe nicht missen.
Den Schmerz mit Alkohol zu lindern, unterließ er, weil er sich alkoholisiert von den Wurzeln seiner Liebe abgeschnitten fühlte. Alkohol machte ein kleines angenehmes Bewusstsein, aber das Gefühl für Bea war abgeschnitten, auch wenn ihn dieses Gefühl schmerzte aus besagtem Grund. Da war schon eher Cannabis seine lindernde Droge, denn Cannabis ließ das besagte Treuegefühl aufleben ohne die Schmerzen, die seine törichten Sünden verursachten. Gewöhnlich betäubte er die Heftigkeit dieser schmerzenden Gefühle mit Zigaretten, Kaffee und Schwarzem oder Grünem Tee. Denn Cannabis genehmigte er sich nicht oft. Gab es da einen Ausweg? Er fand keinen zu dieser Zeit.
Der Brief blieb ohne Antwort. Wie war dies zu deuten? Wollte Bea keinen Kontakt? Wollte sie ihrem gegenwärtigen Partner treu sein, und verdrängte sie deswegen das Andenken an Raimund? War sie zu sehr verletzt und verärgert, dass sie von ihm nichts mehr wissen wollte? Raimund musste verzweifeln. War es nicht besser, diese Liebe als endgültig verloren aufzugeben und sich für eine neue Liebe zu öffnen? Es schmerzte. Da halfen nur viele Zigaretten und kannenweise Kaffee.
Er sprang jetzt im Geiste zu einer anderen über. Denn seine Mutter hatte hin und wieder von Elisabeth gesprochen, der Tochter ihrer Schulfreundin, die sich genau zur selben Zeit erhängt hatte, als Raimund seine erste Psychose hatte. Das war im Jahr 1974. Welch geheimnisvoller Zusammenfall der Ereignisse, musste Raimund denken. Elisabeth, die mit Raimund in der Volksschule in derselben Klasse war, hatte Raimund bewundert. Denn als der Pfarrer in der Volksschule fragte, wer gerne in die Kirche gehe, meldeten sich alle, um sich die Gunst des Pfarrers zu erheucheln außer Raimund. Dieser meldete sich auf die Gegenfrage, wer nicht gerne in die Kirche gehe, als einziger. Diesen kompromisslosen Mut zur Wahrheit ohne Rücksicht auf opportune Vorteile habe Elisabeth an Raimund bestaunt. Auch bei anderen Gelegenheiten habe sie seine Aufrichtigkeit bewundert, weil er sich nie den Lehren angebiedert hatte und ihnen nach dem Mund geredet hatte, weil er sich für Gerechtigkeit eingesetzt hatte, auch wenn es den ungerechten Lehrern nicht passte und zu seinem Nachteil wurde.
Wieder einmal war Wochenende. Raimund war deprimiert. Um nicht in eine Psychose zu rutschen, hatte er ein Neuroleptikum zu nehmen, wie sein Arzt, Dr. Schöpl, dringend anriet. Gerade dieses Semap, das er wöchentlich anstelle von Imap, einer Depotspritze, nahm, verstärkte aber auch seine stockdepressive Stimmung jedes Mal ins Unerträgliche, wenn er die Tablette genommen hatte. Schwermütig musste er an seine aussichtslose Liebe zu Bea denken, an seine falsche Studienwahl der Betriebswirtschaft, an seine Perspektivlosigkeit. In all diesen traurigen Gedanken war ihm Elisabeth eingefallen. Er hatte sie einmal kurz vom Schulbus aus im Jahr 1974 auf der Straße gehen sehen und war von ihrer Schönheit angenehm im Gefühl angerührt worden. Sie hatte ihn bewundert, wie Elisabeths Mutter seiner Mutter erzählt hatte. Trotzdem hatte Raimund niemals ein Gespräch mit ihr. Vielleicht liebte sie ihn? Vielleicht war sie die wahre Liebe? Wie konnte er es wissen? Er folgerte. Wenn Elisabeth seine wahre Liebe ist, dann könnte er zu ihr hinüber sterben. Es käme auf den Versuch an. Wenn nicht, so würde er es überleben, dachte er sich und öffnete kurzerhand den Schrank mit seinen Arzneien. Ohne viel weiter zu überlegen, schluckte er alle Tabletten, auch andere Neuroleptika von früher, die er hatte. Er legte sich wieder ins Bett, schloss die Augen, dachte an Elisabeth und harrte danach, was kommen würde.
Wie lange er ohne jegliche Gewahrnis gelegen haben mochte, konnte er nicht feststellen, als er von seiner drängend vollen Blase geweckt wurde und ein wenig Licht in seine verquollenen Augen kam. Es war draußen Tag. Ob er eine Nacht gelegen hatte, die Beschäftigung mit dieser Frage schob er genervt hintan; denn nichts war dringlicher, als pinkeln. Er raffte sich wackelig auf und hatte nur noch das Ziel, mehr auf allen Vieren als auf zwei Beinen sich durch die Tür ins angrenzende Bad zu schleppen. Er stützte sich an der Kloschüssel auf, öffnete seine Hose, stützte sich jetzt mit einer Hand am Heizkörper an der Wand ab und pinkelte in die Schüssel. Das gelang so einigermaßen. Da mochte einiges danebengehen. Das war ihm aber jetzt nicht wichtig. Als er sich wegwenden wollte, um seine Hose zu schließen, fiel er hin. In diesem Moment betrat sein Bruder Bernhard das Bad durch die andere Tür. Raimund hatte in seiner Not natürlich nicht abgeschlossen. Bernhard sah ihn liegen. Raimund versuchte so schnell wie möglich, sich aufzurichten, um Bernhard nicht zu beunruhigen. Ihm wurde schwindlig wegen seiner heftigen Bemühung hochzukommen. Er glitt immer wieder zu Boden. Bernhard fragte sogleich mit besorgtem Klang in der Stimme: „Raimund, was ist los?“ Ohne zu überlegen antwortete Raimund vage: „Ich will sterben… Ich habe alle Tabletten genommen.“ Bernhard meinte: „Ich glaub´, ich hol´ Hilfe.“ Er verschwand.
Als Raimund wieder zu Bewusstsein kam, waren weiße Gestalten um ihn herum. Eine tiefe ärztlich-autoritäre Stimme sagte bestimmt: „Wir pumpen Ihnen jetzt den Magen aus.“ Denn solches schrieb die ärztliche Kunst vor in diesem Fall. Raimund sträubte sich schwach auf seiner Liege und lallte so deutlich er noch konnte: „Ich will sterben.“ Die weißen Gestalten ließen sich aber von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Es schmerzte, als sie grob einen Schlauch in den Magen schoben. Er bemerkte schier, wie der betäubende Inhalt Haufen für Haufen aus seinem Magen gesaugt wurde. Auch der letzte sich widersetzende Haufen entkam nicht dem umhertastenden Sauger, obgleich Raimund das Gift gerne dabehalten hätte. Dann ließen sie ihn in Ruhe.
Als er wieder aufwachte, lag er in einem Bett in einem Krankenzimmer. Am rechten Handgelenk war eine Infusionskanüle mit einer Binde befestigt. Ein dünner durchsichtiger Schlauch führte zu einem Plastiksack mit durchsichtiger Flüssigkeit, der an einem Ständer hing. „Ich will sterben“, sagte ihm ein kurzer Impuls und er riss die Infusionskanüle heraus. Wenig später kam eine Krankenschwester ins Zimmer. Sie bemerkte Raimunds Sabotage und machte sich an seinem Handgelenk mit der Kanüle zu schaffen. „Das müssen Sie lassen“, meinte Sie. „Ich will sterben“, versetze Raimund, so fest er konnte. Die Krankenschwester äußerte nur einige zuversichtliche Worte, die Raimund im Einzelnen gar nicht so genau entzifferte. Ihn beruhigte nur der Tonfall der Stimme, so dass er es aufgab, sich gegen das Leben zu sträuben und die Infusion zuließ. Erschöpft verfiel er wieder in einen gewahrnislosen Schlaf.
Irgendwann wurde er wieder wach. Die Infusion war entfernt worden und weiße Gestalten standen um sein Bett. Ein Arzt fragte: „Was sollen wir tun, wollen Sie nach Hause oder sollen wir Sie in die psychiatrische Klinik nach Haar bringen?“
Raimund dachte an die dumpfe Trübnis zu Hause, dass er wieder so jämmerlich dahinleben müsste wie bisher, nichts gewonnen wäre durch seinen Selbstmordversuch, und er da weitermachen müsste, wo er aufgehört hatte. Er dachte an die eintönige Langeweile und Schwermut. - Von der Psychiatrie in Haar hatte er schon viel Schlechtes gehört. Selbst diesen üblen Gerüchten nachzugehen, wäre ein interessantes Abenteuer außerhalb des alltäglichen Einerleis. Jetzt hatte er die Gelegenheit dazu. Darum verkündete er tollkühn, ohne viel weiter sonst noch nachzudenken: „Ich will nach Haar.“ Aus Erschöpfung unterbrach wieder seine Wahrnehmung.
Als er wieder aufwachte, sah er sich in einem Bett einer Glasscheibe gegenüber, hinter der er beobachtet werden konnte von dem Pflegepersonal. Es waren mehrere Betten im Raum, in denen gerade niemand lag. Hier war er wohl in Haar, wurde ihm klar. Er hatte Harndrang, wollte aufstehen. Sein rechtes Bein schmerzte. Der rechte Fuß wollte ihm nicht gehorchen. Er hatte eine Lähmung. Es gelang ihm mit Mühe aufzustehen, hinkend sich zum Klo zu schleppen und seine Notdurft zu verrichten. Die Zimmertür war versperrt. Hinter der Scheibe saß gerade niemand. Also wartete er, bis jemand dort auftauchte, um sich durch klopfen bemerkbar zu machen. Eine Krankenschwester erschien im Zimmer. Er fragte, was denn mit seinem rechten Fuß geschehen sei. Sie log, er sei wohl falsch gelegen. Raimund nahm diese Erklärung hin. Er fragte, ob er aus dem Zimmer gehen könne. Worauf die Schwester sagte, sie müsse erst den Arzt fragen. Er durfte. Also schleppte er sich mit seinem gelähmten schmerzenden Fuß den Gang entlang außerhalb des Zimmers. Er kam zum Raucherbereich, der mit einer Glasscheibe vom Gang abgetrennt war. Hier saßen die jämmerlichen Gestalten und sogen leidend an ihren Glimmstängeln. Es waren Frauen wie Männer. „Erst mal eine rauchen“, kam ihm übersprungsmäßig in den Kopf. Die warnenden Bedenken kamen ihm, dass er wieder mit seiner Sucht weiterleiden würde, wenn er jetzt eine schnorrte. Aber seelisch brauchte er eine. Darum bat er jemanden darum mit der Entschuldigung, dass er neu sei und deshalb keine Zigaretten bei sich habe. Mit widerwilliger Bemerkung bekam er eine und ließ sie sich anzünden. Wie immer nach längerer Rauchpause merkte er den betäubenden Nikotinrausch besonders. Als der Suchtstängel hinunter gesogen war, saß er ein wenig benommen wieder genauso blöd da in seinem Elend wie vorher. Gewonnen war nichts. Es blieb nicht aus, er musste wieder eine rauchen. Also war wieder eine zu schnorren. Nach einigen Anfragen an die verschiedensten Gestalten, hatte er endlich wieder eine. Und so ging es weiter. Seine Gedanken waren entweder mit Rauchen beschäftigt oder damit, sich wieder eine Zigarette zu besorgen. Darüber, wie es mit ihm weitergehen sollte, dachte er nur nach, wenn er gerade wieder einmal vom Nikotin betäubt war. Dieses Nachdenken blieb aber ohne Ergebnis. Denn wie sollte es weitergehen? Anscheinend wie bisher in Ermanglung eines Besseren.
Er dachte an den Beweggrund seines Selbstmordversuchs. Wenn der Versuch gelungen wäre, dann hätte er erkannt, was es mit einer möglichen Liebe zu Elisabeth auf sich hatte. Der Versuch war nicht gelungen. Gefühle zu Elisabeth hatte er keine, wohl aber angenehme Erinnerungen an Bea, für die er immer mehr oder weniger Gefühle hatte, auch wenn er sich nicht immer bewusst war, dass diese Gefühle sein Idol Bea betrafen. Sein ganzes Gemüt kam zu dem Schluss, dass Bea seine Traumfrau ist; darüber hinaus seine femme fatale, seine Schicksalsfrau. Was auch immer er anstellte, er würde immer wieder auf sie zurückkommen. Leider war sie fern, aber die Empfindungen für sie waren da. Diese alt bekannten Beagefühle, die ihm so angenehm waren. Sie waren das schönste und wonnigste, was sein Leben zu bieten hatte. Darum auch immer wieder sein Schmerz, weil er sich das Zusammensein mit diesem Mädchen seiner Jugend verscherzt hatte. Was sollte er da machen? Warten, hoffen und Bea weiterhin lieben. Diese Überlegungen entwickelten sich, während er seinen Kummer immer wieder mit Nikotin betäubte.
Er wurde in ein Zweibettzimmer verlegt. Von dort konnte er sich frei auf der Station bewegen. Man durchstrahlte sein Gesäß, denn dort wäre die Ursache für seinen lahmen Fuß zu finden, wie man wusste. Allerdings war eine Nervenbeschädigung mit Röntgenstrahlen nicht diagnostizierbar. Die Untersuchung wurde nur vorgenommen, um zu zeigen, dass man etwas täte. Aus demselben Grund wurde er in der Folgezeit zur Krankengymnastik geschickt. Ebenfalls für dieses sein Leiden nicht angebracht. Der Raum war im Keller der Nervenanstalt. Dass seine Lähmung die Folge einer Spritze war in eine falsche Stelle des Gesäßes, so dass die Kanüle den Ischiasnerv direkt durchstach, wurde von der behandelnden Ärztin vertuscht. So war Raimund zu diesem Zeitpunkt die wahre Ursache seiner Lähmung nicht bekannt. Er rätselte mehr unbewusst als bewusst, wie es zu diesem Unglück hatte kommen können.
Mit einem Mal erschien Dr. Schöpl auf Station, um Raimund zu besuchen. Das war sein Arzt, der ihn seit 1978 ambulant behandelt hatte. Der angehende Arzt hatte von Raimunds Aufenthalt in der Anstalt erfahren, weil ihn die Stationsärztin fernmündlich konsultiert hatte. Weil Dr. Schöpl gerade ausbildungsmäßig in Haar zu tun hatte, wenn auch auf einer anderen Station, hatte er vorbeigeschaut, denn für ihn war Raimund nicht gleichgültig, ein Patient wie jeder andere. Dieser besondere Einsatz Dr. Schöpls war Raimund aber nicht bewusst. Er kam damals gar nicht auf den Gedanken, Dr. Schöpls Einsatz besonders zu würdigen.
Der Neurologe und Psychiater, Dr. Schöpl, hatte freilich die wahre Bewandtnis von Raimunds Fußleiden sofort durchschaut. Er schwieg sich aber machtlos darüber aus, denn der Ärzte-Mafia von Haar war nicht beizukommen von ihm, dem angehenden Arzt. Das wäre Energieverschwendung gewesen. Was der junge Arzt tun konnte, war, dass er sich einsetzte, dass Raimund alsbald entlassen wurde, denn Krankengymnastik war nicht die wirksame Behandlungsmethode für einen beschädigten Ischiasnerv. Dazu war eine Behandlung mit elektrischem Strom notwendig. Eine solche veranlasste Dr. Schöpl nach Raimunds Entlassung aus dieser mafiösen Anstalt, nachdem er Raimunds Bein gründlich mit Elektroden in seiner neu eingerichteten ambulanten Praxis untersucht hatte. Weil diese Praxis in Wolfratshausen gelegen war, weit weg von Raimunds Wohnsitz, überwies Dr. Schöpl Raimund zu einem niedergelassenen Neurologen am Harras in München-Sendling, der die tagtägliche Elektrisierung mit Elektroden durch seine Praxishelferinnen vornehmen ließ. Raimunds Hirn und seine seelischen Leiden behandelte nach wie vor Dr. Schöpl.
Er dachte immer noch an Bea, ohne dass sie davon wusste. Sie war in seinem Gemüt. Bea bekam davon nichts mit. Das verdross Raimund. Bea, der diese Gefühle galten, sollte sie mitempfinden. Darum fühlte er sich gedrängt, ihr einen Brief zu schreiben. Denn auf die Frage, ob er sie nicht mehr anrufen solle, hatte sie kein bestimmtes Nein geantwortet. So würde ein Brief sie wohl nicht nerven, dachte sich Raimund. Freilich erwünschte er sich eine Antwort. Immerhin hätte er auf sich aufmerksam gemacht und ihr auf diese Weise mitgeteilt, dass er von ihr voll angetan war.
So schrieb er ihr von seiner Liebe und seinen Gefühlen, die ihn immer noch bewegten, er schrieb, dass er sie, Bea, nicht vergessen könne. Die Aussage „Ich liebe dich“ war schon verbraucht, denn damit hatte er eine andere, nämlich Susy, angelogen, eine Abirrung, die er zwar sehr wohl mochte, aber nicht liebte. Darum schrieb er den unverbrauchten Satz: „Ich will dich ewiglich lieben.“ Das war ein Vorsatz, dessen Stimmigkeit er angenehm fühlte. Denn er wollte immer und ewig von Bea angetan sein, sie spüren, sie empfinden. Das war das Treuegefühl, das er in seiner inneren Offenbarung so selbstgenugsam lustvoll erlebt hatte, dass er es sich immerwährend herbeiwünschte. Dieses Treuegefühl entsprach dem Wesen seiner Gefühlswelt, die mit diesem Satz „Ich will dich ewiglich lieben.“ zum Ausdruck kam, ohne jegliche Unstimmigkeit.
Immer wieder vergegenwärtigte er sich die Idyllen mit Bea, die er erlebt hatte, ihren Leib, der sich so lustvoll zugewandt und offen für ihn verhalten hatte. Das machte ihm reizvolle stimmig-schöne Gefühle, die aber immer wieder vom Schmerz des Vertanen gestört wurden, des Vertanen durch sein törichtes Verhalten, das Bea verletzt hatte. Denn immer wieder quälten ihn seine Torheiten, seine Sünden, die ihn von Bea getrennt hatten. Davon schrieb Raimund allerdings nichts. Er hätte Bea wohl im Einzelnen, jede vertane Situation erwähnend, um Vergebung bitten müssen. So schmerzte ihn die Liebe zu seiner Schicksalsfrau fortwährend immer wieder. Und trotzdem mochte er diese Liebe nicht missen.
Den Schmerz mit Alkohol zu lindern, unterließ er, weil er sich alkoholisiert von den Wurzeln seiner Liebe abgeschnitten fühlte. Alkohol machte ein kleines angenehmes Bewusstsein, aber das Gefühl für Bea war abgeschnitten, auch wenn ihn dieses Gefühl schmerzte aus besagtem Grund. Da war schon eher Cannabis seine lindernde Droge, denn Cannabis ließ das besagte Treuegefühl aufleben ohne die Schmerzen, die seine törichten Sünden verursachten. Gewöhnlich betäubte er die Heftigkeit dieser schmerzenden Gefühle mit Zigaretten, Kaffee und Schwarzem oder Grünem Tee. Denn Cannabis genehmigte er sich nicht oft. Gab es da einen Ausweg? Er fand keinen zu dieser Zeit.
Der Brief blieb ohne Antwort. Wie war dies zu deuten? Wollte Bea keinen Kontakt? Wollte sie ihrem gegenwärtigen Partner treu sein, und verdrängte sie deswegen das Andenken an Raimund? War sie zu sehr verletzt und verärgert, dass sie von ihm nichts mehr wissen wollte? Raimund musste verzweifeln. War es nicht besser, diese Liebe als endgültig verloren aufzugeben und sich für eine neue Liebe zu öffnen? Es schmerzte. Da halfen nur viele Zigaretten und kannenweise Kaffee.
Er sprang jetzt im Geiste zu einer anderen über. Denn seine Mutter hatte hin und wieder von Elisabeth gesprochen, der Tochter ihrer Schulfreundin, die sich genau zur selben Zeit erhängt hatte, als Raimund seine erste Psychose hatte. Das war im Jahr 1974. Welch geheimnisvoller Zusammenfall der Ereignisse, musste Raimund denken. Elisabeth, die mit Raimund in der Volksschule in derselben Klasse war, hatte Raimund bewundert. Denn als der Pfarrer in der Volksschule fragte, wer gerne in die Kirche gehe, meldeten sich alle, um sich die Gunst des Pfarrers zu erheucheln außer Raimund. Dieser meldete sich auf die Gegenfrage, wer nicht gerne in die Kirche gehe, als einziger. Diesen kompromisslosen Mut zur Wahrheit ohne Rücksicht auf opportune Vorteile habe Elisabeth an Raimund bestaunt. Auch bei anderen Gelegenheiten habe sie seine Aufrichtigkeit bewundert, weil er sich nie den Lehren angebiedert hatte und ihnen nach dem Mund geredet hatte, weil er sich für Gerechtigkeit eingesetzt hatte, auch wenn es den ungerechten Lehrern nicht passte und zu seinem Nachteil wurde.
Wieder einmal war Wochenende. Raimund war deprimiert. Um nicht in eine Psychose zu rutschen, hatte er ein Neuroleptikum zu nehmen, wie sein Arzt, Dr. Schöpl, dringend anriet. Gerade dieses Semap, das er wöchentlich anstelle von Imap, einer Depotspritze, nahm, verstärkte aber auch seine stockdepressive Stimmung jedes Mal ins Unerträgliche, wenn er die Tablette genommen hatte. Schwermütig musste er an seine aussichtslose Liebe zu Bea denken, an seine falsche Studienwahl der Betriebswirtschaft, an seine Perspektivlosigkeit. In all diesen traurigen Gedanken war ihm Elisabeth eingefallen. Er hatte sie einmal kurz vom Schulbus aus im Jahr 1974 auf der Straße gehen sehen und war von ihrer Schönheit angenehm im Gefühl angerührt worden. Sie hatte ihn bewundert, wie Elisabeths Mutter seiner Mutter erzählt hatte. Trotzdem hatte Raimund niemals ein Gespräch mit ihr. Vielleicht liebte sie ihn? Vielleicht war sie die wahre Liebe? Wie konnte er es wissen? Er folgerte. Wenn Elisabeth seine wahre Liebe ist, dann könnte er zu ihr hinüber sterben. Es käme auf den Versuch an. Wenn nicht, so würde er es überleben, dachte er sich und öffnete kurzerhand den Schrank mit seinen Arzneien. Ohne viel weiter zu überlegen, schluckte er alle Tabletten, auch andere Neuroleptika von früher, die er hatte. Er legte sich wieder ins Bett, schloss die Augen, dachte an Elisabeth und harrte danach, was kommen würde.
Wie lange er ohne jegliche Gewahrnis gelegen haben mochte, konnte er nicht feststellen, als er von seiner drängend vollen Blase geweckt wurde und ein wenig Licht in seine verquollenen Augen kam. Es war draußen Tag. Ob er eine Nacht gelegen hatte, die Beschäftigung mit dieser Frage schob er genervt hintan; denn nichts war dringlicher, als pinkeln. Er raffte sich wackelig auf und hatte nur noch das Ziel, mehr auf allen Vieren als auf zwei Beinen sich durch die Tür ins angrenzende Bad zu schleppen. Er stützte sich an der Kloschüssel auf, öffnete seine Hose, stützte sich jetzt mit einer Hand am Heizkörper an der Wand ab und pinkelte in die Schüssel. Das gelang so einigermaßen. Da mochte einiges danebengehen. Das war ihm aber jetzt nicht wichtig. Als er sich wegwenden wollte, um seine Hose zu schließen, fiel er hin. In diesem Moment betrat sein Bruder Bernhard das Bad durch die andere Tür. Raimund hatte in seiner Not natürlich nicht abgeschlossen. Bernhard sah ihn liegen. Raimund versuchte so schnell wie möglich, sich aufzurichten, um Bernhard nicht zu beunruhigen. Ihm wurde schwindlig wegen seiner heftigen Bemühung hochzukommen. Er glitt immer wieder zu Boden. Bernhard fragte sogleich mit besorgtem Klang in der Stimme: „Raimund, was ist los?“ Ohne zu überlegen antwortete Raimund vage: „Ich will sterben… Ich habe alle Tabletten genommen.“ Bernhard meinte: „Ich glaub´, ich hol´ Hilfe.“ Er verschwand.
Als Raimund wieder zu Bewusstsein kam, waren weiße Gestalten um ihn herum. Eine tiefe ärztlich-autoritäre Stimme sagte bestimmt: „Wir pumpen Ihnen jetzt den Magen aus.“ Denn solches schrieb die ärztliche Kunst vor in diesem Fall. Raimund sträubte sich schwach auf seiner Liege und lallte so deutlich er noch konnte: „Ich will sterben.“ Die weißen Gestalten ließen sich aber von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Es schmerzte, als sie grob einen Schlauch in den Magen schoben. Er bemerkte schier, wie der betäubende Inhalt Haufen für Haufen aus seinem Magen gesaugt wurde. Auch der letzte sich widersetzende Haufen entkam nicht dem umhertastenden Sauger, obgleich Raimund das Gift gerne dabehalten hätte. Dann ließen sie ihn in Ruhe.
Als er wieder aufwachte, lag er in einem Bett in einem Krankenzimmer. Am rechten Handgelenk war eine Infusionskanüle mit einer Binde befestigt. Ein dünner durchsichtiger Schlauch führte zu einem Plastiksack mit durchsichtiger Flüssigkeit, der an einem Ständer hing. „Ich will sterben“, sagte ihm ein kurzer Impuls und er riss die Infusionskanüle heraus. Wenig später kam eine Krankenschwester ins Zimmer. Sie bemerkte Raimunds Sabotage und machte sich an seinem Handgelenk mit der Kanüle zu schaffen. „Das müssen Sie lassen“, meinte Sie. „Ich will sterben“, versetze Raimund, so fest er konnte. Die Krankenschwester äußerte nur einige zuversichtliche Worte, die Raimund im Einzelnen gar nicht so genau entzifferte. Ihn beruhigte nur der Tonfall der Stimme, so dass er es aufgab, sich gegen das Leben zu sträuben und die Infusion zuließ. Erschöpft verfiel er wieder in einen gewahrnislosen Schlaf.
Irgendwann wurde er wieder wach. Die Infusion war entfernt worden und weiße Gestalten standen um sein Bett. Ein Arzt fragte: „Was sollen wir tun, wollen Sie nach Hause oder sollen wir Sie in die psychiatrische Klinik nach Haar bringen?“
Raimund dachte an die dumpfe Trübnis zu Hause, dass er wieder so jämmerlich dahinleben müsste wie bisher, nichts gewonnen wäre durch seinen Selbstmordversuch, und er da weitermachen müsste, wo er aufgehört hatte. Er dachte an die eintönige Langeweile und Schwermut. - Von der Psychiatrie in Haar hatte er schon viel Schlechtes gehört. Selbst diesen üblen Gerüchten nachzugehen, wäre ein interessantes Abenteuer außerhalb des alltäglichen Einerleis. Jetzt hatte er die Gelegenheit dazu. Darum verkündete er tollkühn, ohne viel weiter sonst noch nachzudenken: „Ich will nach Haar.“ Aus Erschöpfung unterbrach wieder seine Wahrnehmung.
Als er wieder aufwachte, sah er sich in einem Bett einer Glasscheibe gegenüber, hinter der er beobachtet werden konnte von dem Pflegepersonal. Es waren mehrere Betten im Raum, in denen gerade niemand lag. Hier war er wohl in Haar, wurde ihm klar. Er hatte Harndrang, wollte aufstehen. Sein rechtes Bein schmerzte. Der rechte Fuß wollte ihm nicht gehorchen. Er hatte eine Lähmung. Es gelang ihm mit Mühe aufzustehen, hinkend sich zum Klo zu schleppen und seine Notdurft zu verrichten. Die Zimmertür war versperrt. Hinter der Scheibe saß gerade niemand. Also wartete er, bis jemand dort auftauchte, um sich durch klopfen bemerkbar zu machen. Eine Krankenschwester erschien im Zimmer. Er fragte, was denn mit seinem rechten Fuß geschehen sei. Sie log, er sei wohl falsch gelegen. Raimund nahm diese Erklärung hin. Er fragte, ob er aus dem Zimmer gehen könne. Worauf die Schwester sagte, sie müsse erst den Arzt fragen. Er durfte. Also schleppte er sich mit seinem gelähmten schmerzenden Fuß den Gang entlang außerhalb des Zimmers. Er kam zum Raucherbereich, der mit einer Glasscheibe vom Gang abgetrennt war. Hier saßen die jämmerlichen Gestalten und sogen leidend an ihren Glimmstängeln. Es waren Frauen wie Männer. „Erst mal eine rauchen“, kam ihm übersprungsmäßig in den Kopf. Die warnenden Bedenken kamen ihm, dass er wieder mit seiner Sucht weiterleiden würde, wenn er jetzt eine schnorrte. Aber seelisch brauchte er eine. Darum bat er jemanden darum mit der Entschuldigung, dass er neu sei und deshalb keine Zigaretten bei sich habe. Mit widerwilliger Bemerkung bekam er eine und ließ sie sich anzünden. Wie immer nach längerer Rauchpause merkte er den betäubenden Nikotinrausch besonders. Als der Suchtstängel hinunter gesogen war, saß er ein wenig benommen wieder genauso blöd da in seinem Elend wie vorher. Gewonnen war nichts. Es blieb nicht aus, er musste wieder eine rauchen. Also war wieder eine zu schnorren. Nach einigen Anfragen an die verschiedensten Gestalten, hatte er endlich wieder eine. Und so ging es weiter. Seine Gedanken waren entweder mit Rauchen beschäftigt oder damit, sich wieder eine Zigarette zu besorgen. Darüber, wie es mit ihm weitergehen sollte, dachte er nur nach, wenn er gerade wieder einmal vom Nikotin betäubt war. Dieses Nachdenken blieb aber ohne Ergebnis. Denn wie sollte es weitergehen? Anscheinend wie bisher in Ermanglung eines Besseren.
Er dachte an den Beweggrund seines Selbstmordversuchs. Wenn der Versuch gelungen wäre, dann hätte er erkannt, was es mit einer möglichen Liebe zu Elisabeth auf sich hatte. Der Versuch war nicht gelungen. Gefühle zu Elisabeth hatte er keine, wohl aber angenehme Erinnerungen an Bea, für die er immer mehr oder weniger Gefühle hatte, auch wenn er sich nicht immer bewusst war, dass diese Gefühle sein Idol Bea betrafen. Sein ganzes Gemüt kam zu dem Schluss, dass Bea seine Traumfrau ist; darüber hinaus seine femme fatale, seine Schicksalsfrau. Was auch immer er anstellte, er würde immer wieder auf sie zurückkommen. Leider war sie fern, aber die Empfindungen für sie waren da. Diese alt bekannten Beagefühle, die ihm so angenehm waren. Sie waren das schönste und wonnigste, was sein Leben zu bieten hatte. Darum auch immer wieder sein Schmerz, weil er sich das Zusammensein mit diesem Mädchen seiner Jugend verscherzt hatte. Was sollte er da machen? Warten, hoffen und Bea weiterhin lieben. Diese Überlegungen entwickelten sich, während er seinen Kummer immer wieder mit Nikotin betäubte.
Er wurde in ein Zweibettzimmer verlegt. Von dort konnte er sich frei auf der Station bewegen. Man durchstrahlte sein Gesäß, denn dort wäre die Ursache für seinen lahmen Fuß zu finden, wie man wusste. Allerdings war eine Nervenbeschädigung mit Röntgenstrahlen nicht diagnostizierbar. Die Untersuchung wurde nur vorgenommen, um zu zeigen, dass man etwas täte. Aus demselben Grund wurde er in der Folgezeit zur Krankengymnastik geschickt. Ebenfalls für dieses sein Leiden nicht angebracht. Der Raum war im Keller der Nervenanstalt. Dass seine Lähmung die Folge einer Spritze war in eine falsche Stelle des Gesäßes, so dass die Kanüle den Ischiasnerv direkt durchstach, wurde von der behandelnden Ärztin vertuscht. So war Raimund zu diesem Zeitpunkt die wahre Ursache seiner Lähmung nicht bekannt. Er rätselte mehr unbewusst als bewusst, wie es zu diesem Unglück hatte kommen können.
Mit einem Mal erschien Dr. Schöpl auf Station, um Raimund zu besuchen. Das war sein Arzt, der ihn seit 1978 ambulant behandelt hatte. Der angehende Arzt hatte von Raimunds Aufenthalt in der Anstalt erfahren, weil ihn die Stationsärztin fernmündlich konsultiert hatte. Weil Dr. Schöpl gerade ausbildungsmäßig in Haar zu tun hatte, wenn auch auf einer anderen Station, hatte er vorbeigeschaut, denn für ihn war Raimund nicht gleichgültig, ein Patient wie jeder andere. Dieser besondere Einsatz Dr. Schöpls war Raimund aber nicht bewusst. Er kam damals gar nicht auf den Gedanken, Dr. Schöpls Einsatz besonders zu würdigen.
Der Neurologe und Psychiater, Dr. Schöpl, hatte freilich die wahre Bewandtnis von Raimunds Fußleiden sofort durchschaut. Er schwieg sich aber machtlos darüber aus, denn der Ärzte-Mafia von Haar war nicht beizukommen von ihm, dem angehenden Arzt. Das wäre Energieverschwendung gewesen. Was der junge Arzt tun konnte, war, dass er sich einsetzte, dass Raimund alsbald entlassen wurde, denn Krankengymnastik war nicht die wirksame Behandlungsmethode für einen beschädigten Ischiasnerv. Dazu war eine Behandlung mit elektrischem Strom notwendig. Eine solche veranlasste Dr. Schöpl nach Raimunds Entlassung aus dieser mafiösen Anstalt, nachdem er Raimunds Bein gründlich mit Elektroden in seiner neu eingerichteten ambulanten Praxis untersucht hatte. Weil diese Praxis in Wolfratshausen gelegen war, weit weg von Raimunds Wohnsitz, überwies Dr. Schöpl Raimund zu einem niedergelassenen Neurologen am Harras in München-Sendling, der die tagtägliche Elektrisierung mit Elektroden durch seine Praxishelferinnen vornehmen ließ. Raimunds Hirn und seine seelischen Leiden behandelte nach wie vor Dr. Schöpl.