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Literaturforum: Die Verwunderten /1.Teil


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 Thema: Die Verwunderten /1.Teil
3dermisch5
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 19.09.2004 um 12:30 Uhr

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, er würde es nicht schaffen, bis zwölf Uhr mittags betrunken zu sein. Es blieben ihm noch gut zehn Minuten, diese Enttäuschung hinunterzuspülen. Danach -- er trat ans offene Fenster und musterte wieder einmal den Baum, dem er sich nicht entschließen konnte, einen Namen zu geben. Einen, der etwas ausdrücken sollte, etwas wie Zuneigung. Der Ahorn, dessen Gabelung ihn an ein kopfstehendes Mädchen erinnerte, die Beine gespreizt, wie über die Stirn des Windes stolzierend, der auf die Erde herabsah aus Spott und Mitleid. Das waren seine Gedanken, seine Bilder. Das war ihm ebenso bewusst, wie sein geöffneter Hosenschlitz und der daraus hervorgereckte Penis. Er war weit entfernt davon, sich selbst etwas vorzumachen. "So weit noch vom Rausch, vom Schauer des Schlafs, vom Zucken eines sterbenden Wurms" schüttelte er murmelnd leicht den Kopf. Von all den Mädchen, deren gespreizte Beine er jemals gesehen hatte, ähnelte keines diesem auseinandertretenden Stamm. Nein, dieser hölzerne Torso war etwas ganz Besonderes.
Verrufen und anziehend. Etwas Delikates. Mit links führte er das Glas an die Lippen und trank einen Schluck, ohne den Blick abzuwenden. Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zogen das feine Häutchen über die Eichel, immer wieder, langsam, fast gleichmäßig, mechanisch verschlafen. Er spürte sich selbst, oder doch die Gabelung des Ahorn, das Fleisch einer Unbekannten, die Finger, Werkzeuge, die nicht mehr seine eigenen waren. Er unterbrach und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, schob seinen steifen Penis aufrecht in den Innenraum der Jeans zurück, und schloss den Reißverschluss. - "Eine Stunde mindestens--", murmelte er erneut, lauter hinzufügend, "--warum habe ich eine wie dich nie kennengelernt?"
*
Wieder presste ich die Klingel. Er musste doch zu Hause sein. Es war ganz und gar nicht seine Art, Verabredungen nicht einzuhalten, oder sie zu vergessen. Ich schaute etwas mitleidig auf den verwelkten Rhododendron, dachte kurz daran, ausspucken zu wollen, schluckte es jedoch runter, und drückte noch einmal den knochenfarbenen, runden Knopf. -- Sollte ich rufen? - Ich sah mich um. Schräg gegenüber kümmerten sich zwei städtische Arbeiter um verzweifelte Fluchtgebärden angelegter Sträucher und stutzten sie zurück in den Anstand verordneter Ästhetik. Im zurückgesetzten, vanillegetünchten Wohnblock dahinter mühte sich eine maßlos ausgebreitete Frau an der Unsichtbarkeit ihrer Fenster. Ein roter Fiesta schlich die Straße entlang an mir vorbei, wobei sich der Fahrer und ich uns für einen Augenblick zu fragen schienen, ob das wirklich alles sei. Es war alles. -- ´Ich werde mich jetzt hier hinstellen und nach einem Typen rufen´, dachte ich mit selbstgemachter Ironie. Wieder betrachtete ich den armseligen Strauch, konzentrierte mich dann auf mein Begehr, und versuchte mich, diesmal mit dem Handballen sekundenlang morsend, bemerkbar zu machen. "Mensch, mach auf!" zischte ich leise. Endlich ertönte die monotone Rassel, die bedeutete, dass ich das bis an den Bauchnabel reichende, metallene Tor aufdrücken konnte. Nachdem ich doch noch einen Speichelfleck hinterlassen hatte, betrat ich also die missgestaltet wirkende Außentreppe, die hinauf zur Tür seiner Wohnküche führte. Ich bemerkte das offenstehende Fenster, das man von der Straße aus nicht sehen konnte, und warf einen Blick hindurch auf die leblose Versammlung seltsam verschränkter Jacken- und Hemdsärmel, die sich an einer, nach Farbe seufzenden Wand, zusammendrängten. Die Tür bewegte sich millimeterweise, als dränge sich eine mediterrane Sommerbrise dagegen, und im wachsenden Spalt begann das Gesicht von Freddy mit dem Einfall des Tages zu leuchten. -- "Da bist Du ja! - Komm rein!" -
Ich roch den Alkohol sofort und erkannte, wie seine Wogen durchs Weiße der Augen meines Freundes schwappten. Ich folgte ihm nach innen. Ich wusste nicht warum, aber als ich ihn so ansah war "Rhododendron" das einzige Wort, das mir einfiel. - "Was?" -- "Nichts! - Hast Du noch was?" -- "Was?" -- "Zu trinken. Ich habe Durst!" -- Er stutzte als hätte er das Wort ´Durst´ zum ersten Mal gehört, deutete dann auf eine Flasche Pastis auf dem mit Papierfetzen und Zetteln zum Dichterkadaver mutierten Tisch, und meinte nur, ich wüsste ja wo die Gläser stünden.
Während ich mir also mit Leitungswasser einen Pastis streckte, war er vor das Fenster gegangen und starrte hinaus. -- "Glaubst Du --ich meine, hast Du Dich mal näher --", er drehte sich zu mir um, "versteh mich nicht falsch, aber - ich meine es ernst --". -- Mit diesem Nachdruck wandte er sich wieder dem Geschehen draußen zu. -- "Weißt Du, ich verlier mich -- diese Gabelung - diese Scheide -- ich verlier mich an dieser Wegscheide da -- verstehst Du?" -- "Keinen Ton. - Ich hätte Dich besser mal ausnüchtern lassen sollen!" -- Sein Kopf fuhr herum und er stieß verächtlich durch die Zähne. - "Hast Du Dir noch nie die Ausgenüchternen angesehen? - Das würdest Du mir gönnen?"
Ich stellte mich neben ihn und fragte nach draußen: "Also, was ist los? Was hat welche Scheide Dir angetan?" -- "Die Weggabelung -- siehst Du die Gabelung - ich -" -- Wir tranken. -- "Abschied!" -- Nur dieses eine Wort. -- "Abschied--" wiederholte ich, "wovon?
Abschied von wem, was? Mann, was denn für ein Abschied?" -- "Meiner." -- Ich begriff nicht. "Wenn Du meinst, Du wärst jetzt an Deutlichkeit nicht mehr zu überbieten, dann täuschst Du Dich! - Gut, Dein Abschied, klar, verstehe -- Du fährst in Urlaub? - Ziehst Du um? Ich meine, ziehst Du etwa fort?" -- Ich sah ihn dabei von der Seite an und bemerkte, wie wehmütig meine Stimme klingen musste. "Was für ein Abschied?", legte ich dunkel nach. Er entfernte sich, ging erst zum Tisch, dann zu seiner Spüle, kehrte zurück, und sagte, indem er mir ins Gesicht sah: "Der letzte, mein Freund. Der allerletzte!"
*

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